Pandemie verstärkt Essstörungen
Essstörungen nahmen in der COVID-19-Pandemie zu, Betroffene suchten später Hilfe und kamen zum Teil in schlechterem Zustand. Prim. Larisa Dzirlo, Leiterin der III. Medizinischen Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik am Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien, erklärt, wie es zu dieser Verschlechterung kam.
Die andauernde COVID-19 Pandemie hat Spuren hinterlassen, auch in der Psyche. „Es ist anzunehmen, dass Essstörungen in der Pandemie zugenommen haben, sowohl Anorexie, als auch Bulimie und Binge-Eating“, erklärt Prim. Dr. Larisa Dzirlo, Leiterin der III. Medizinischen Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik am Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien. „Dafür gibt es mehrere Gründe, wenn wir die Erkrankungen vom bio-psycho-sozialen Modell aus betrachten.“
Nach dem bio-psycho-sozialen Modell wirken sich psychische Erkrankungen auf den ganzen Lebenskontext einer Person aus, sowohl psychische als auch biologische und soziale Faktoren spielen eine Rolle. „Patientinnen und Patienten mit einer Essstörung haben sowohl körperliche als auch psychische Erkrankungen, also Komorbiditäten im Sinne von Angststörungen und Depressionen. Gleichzeitig sind sie auch sehr geschwächt, bei einer Anorexie treten zahlreiche körperliche Begleiterkrankungen auf. All dies spielt und spielte eine Rolle“, erläutert Dzirlo.
"Es ist eine logische Konsequenz, dass sich Essstörungen verstärken", berichtet Larisa Dzirlo.
In erster Linie führten psychologische Faktoren in der COVID-Pandemie dazu, dass vorrangig weibliche Patientinnen erstmals an einer Essstörung erkrankten oder sich eine bereits bekannte Essstörung verschlechterte. „Gerade die soziale Distanzierung machte viel aus“, berichtet Dzirlo. „Es ist eine logische Konsequenz, dass sich Essstörungen verstärken.“ Die ungewollte Einsamkeit daheim belastete die Psyche stark, auch andere psychische Erkrankungen nahmen während der Pandemie und der Lockdowns zu. Die Abwesenheit anderer Personen führte bei Personen mit restriktiver Anorexie zu einer Verschlechterung, während Personen mit Ess-Brech-Anfällen plötzlich viel Zeit daheim verbrachten, wo – auch aufgrund der verstärkten Vorratshaltung – viele Lebensmittel vorhanden waren und sich die Symptomatik verschlechterte.
Fatale Angstspirale
Die „Hamsterkäufe“ gerade zu Beginn der Pandemie unterstreichen einen weiteren Grund für die verschlechterte Symptomatik, erklärt die Fachärztin für Innere Medizin und Ärztin für Psychosomatische Medizin. „Die Hauptquelle ist die Angst: Das Ansammeln von Lebensmitteln zuhause spielte in diese Angstspirale – und dann sind die Lebensmittel daheim verfügbar und können konsumiert werden.“ Ein weiterer Angstfaktor war die Angst vor Infektion, da Patientinnen mit niedrigem BMI aufgrund ihrer körperlichen Verfassung Risikopatientinnen sind und einen schweren Verlauf einer Corona-Infektion fürchten müssen. „Die Ängste sind damit größer, das führt zusätzlich zur Isolation und verstärkt den Kreislauf weiter“, berichtet Dzirlo.
Aus Angst vor einer Infektion vermieden Patientinnen auch, Hilfe für den Umgang mit ihrer Essstörung im Spital zu suchen. „Wir nahmen zum Teil Patientinnen stationär auf, die bereits stark untergewichtig waren oder schon in lebensbedrohlichen Zuständen waren, da sie sich nicht getraut hatten, Hilfe zu holen“, erinnert sich Dzirlo. Ob bei manchen Patientinnen die Essstörung primär durch die Pandemie entstand oder eine bereits vorhandene Essstörung durch die Pandemie verstärkt wurde, wird sich erst zeigen, betont Dzirlo. „Eine gewisse Vulnerabilität für eine solche Störung ist vorhanden, da kann die Pandemie schon ein Trigger sein.“
Stress und Spannung
Auch bei manchen Menschen mit Adipositas sieht Dzirlo eine ähnliche Auswirkung der Corona-Pandemie, wenn auch Adipositas durch eine Vielzahl an Faktoren verursacht werden kann. „Manche Patienten regulieren ihre eigenen Emotionen durch Essen, und essen unter Stress oder Spannung unkontrolliert. Auch weitere Faktoren spielen eine Rolle. Es gibt Daten, dass es während der Pandemie zu einem Anstieg der Adipositas-Erkrankungen gekommen ist – aufgrund von Nahrungsmittelverfügbarkeit daheim, emotionalem Essen, langem Sitzen zu Hause, Home Office. Wie bei der Anorexie gibt es eine Vulnerabilität für Adipositas, und wir beobachten, dass unter Covid mehr zum Vorschein gekommen ist oder sich bestehende Erkrankungen verschlechtert haben.“
Dzirlo ist deswegen froh, dass die Angebote ihrer Station in der Pandemie zum Großteil weitergeführt wurden. „Zu Beginn mussten wir für eine kurze Zeit die Angebote reduzieren, aber wir konnten schnell die Versorgung wieder hochfahren. Wir waren voll mit Patienten, die Angebote sind gut in Anspruch genommen worden.“ Patientinnen mit Essstörungen werden am Barmherzige Schwestern Krankenhaus stationär behandelt, hier dauert ein Behandlungszyklus meist acht Wochen. Außerdem gibt es das Angebot einer Tagesklinik, in der ebenfalls Patientinnen mit Essstörungen therapiert werden. „In beiden Settings wird die Thematik Pandemie häufig angesprochen und die Ängste, die da auftreten. Auch in den ambulanten Gruppen für Adipositas-Patienten wird das Thema Pandemie oft von den Patienten aufgebracht. Es war und ist eine schlimme Zeit mit einer realen Angst, das macht bei Menschen, die krank sind, noch mehr aus als bei gesunden Menschen.“
Text: Sophie Fessl; Fotos: Alek Kawka, depositphotos.com
Larisa Dzirlo, Prim. Dr. MSc
Leiterin der III. Medizinischen Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik am Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien
Dzrilo leitet die III. Medizinische Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik am Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien. Dzirlo ist Fachärztin für Innere Medizin, Gastroenterologie und Hepatologie, Ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision.