„Die großen Lieferkettensysteme lernen nicht dazu!“
Die Corona-Pandemie hat die Lieferketten im Gesundheitswesen vor große Herausforderungen gestellt. Wie können widerstandsfähige Lieferketten aufgebaut werden? Und mit welchen Maßnahmen kann man sich auf künftige Krisen besser vorbereiten? Horst Aichinger leitet den Zentralen Einkauf der Vinzenz Gruppe. Er spricht über Aspekte, die zwar keiner kennt, die für die Spitalsversorgung aber lebenswichtig sind.
Keine andere Berufsgruppe war in den vergangenen zwei Jahren derart unter Druck wie die Menschen im Gesundheitswesen. Die Pandemie hat naturgemäß die Spitäler des Landes vor besondere Herausforderungen gestellt. Und das nicht nur bei der Versorgung von Patientinnen und Patienten. Was man nämlich auf den ersten Blick gar nicht so sehr auf dem Radar hat: Auch die Bereitstellung von notwendigem Material für Operationen, Untersuchungen und medizinische Versorgungen wurde kräftig auf den Prüfstand gestellt. Stichwort: Lieferketten. Wie aber haben sich unterbrochene Versorgungswege konkret auf das Spitalswesen ausgewirkt? Welche Lehren zieht man daraus? Und verschärft der Ukrainekrieg die Situation nun zusätzlich? Ing. Horst Aichinger ist bei der Vinzenz Gruppe für den Zentraleinkauf verantwortlich und meint: „Zuckerschlecken waren die letzten Jahre keines!“ Doch der Fachmann hat freilich viel mehr zu sagen.
Spulen wir kurz etwas mehr als zwei Jahre zurück, zum Beginn der Pandemie. Wie hat sich Ihre Arbeit damals binnen weniger Tage verändert?
Horst Aichinger: Puh, wo fange ich da an? Man kann es so sagen: Bis zum Ausbruch von Covid war es so, dass wir im Einkauf für das Gesundheitswesen sehr stark an den Themen Standardisierung, Bündelung und Vereinheitlichung gearbeitet haben. Es ging uns vor allem darum, die notwendigen Produkte möglichst günstig und möglichst zuverlässig zu bekommen. Also die Produktvielfalt reduzieren, Bündelungseffekte nutzen, Kosten reduzieren – das stand im Fokus. Und dabei ist in den meisten Fällen der asiatische Raum als Markt im Spiel gewesen. Und dann war plötzlich alles anders: Wir mussten ohne jegliche Vorbereitungszeit Produkte in großen Mengen herbeischaffen, die wir zuvor kaum gebraucht hatten. Zudem ist plötzlich das vorderste Ende fast aller Logistikketten weggebrochen: Die Chinesen haben nicht mehr geliefert.
Ich nehme an, Sie spielen hier vor allem auf den plötzlich hohen Bedarf an FFP2-Masken an?
Genau. Die FFP2-Maske ist ein klassisches Industrieprodukt, das hat bis dato der Spengler in der Autowerkstatt gebraucht, wenn er ein Auto abschleift, oder der Tischler, wenn er irgendwo etwas ganz fein hobelt. Das waren reine Industrieprodukte. Man hat es nicht gekannt. In den ersten Wochen der Pandemie waren die Masken gar keine zugelassenen Medizinprodukte.
Das heißt, es gab gar keine bestehenden Lieferwege in die Krankenhäuser?
Nein. Und dann haben wir noch dazu auf einmal einen riesigen Bedarf gehabt. Doch nicht nur wir – das ist bei Krisen immer ein großes Thema –, den Bedarf hatte plötzlich jeder gleichzeitig.
Hat das „Koste-es-was-es-wolle“-Motto nicht geholfen?
Nun, wir hatten auf politischer Ebene diesen tollen Slogan. Wenn aber plötzlich Amerika ebenso sagt, „koste es was es wolle“, aber mal drei, dann bekommen die alles und wir nichts. Diese Realitäten in Kombination mit dem Problem, neue Produkte von neuen Quellen beziehen zu müssen, haben uns vor noch nicht gekannte Probleme gestellt. Hinzu kam, dass sehr schnell auch unseriöse Anbieter auf den Markt gekommen sind. Diese von den seriösen zu unterscheiden, wurde dann zum nächsten Thema. Wie können wir für tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so bestellen, dass wir niemanden einem Risiko aussetzen? Wir mussten also schnell reagieren. Und da haben wir in der Vinzenz Gruppe den großen Vorteil, dass wir wirklich einen Zentraleinkauf haben. Das heißt, wir hatten schon vor der Pandemie den strategischen Einkauf aus den einzelnen Häusern herausgelöst und zentral in Linz gebündelt. So sind wir da alle unmittelbar nebeneinandergesessen und jeder hat mit seinem Spezialwissen etwas beigetragen, um schließlich Lösungen für alle erarbeiten zu können.
Spielt die Kleinheit unseres Österreichs eine erschwerende Rolle, wenn es um solche Beschaffungsstunts geht?
Nein, aber es spielen in solchen Situationen zwei Aspekte mit: Auf der einen Seite ist Österreich im Medizinbereich eher ein Hochpreisland. Naturgemäß verkaufen Konzerne in erster Linie dorthin, wo sie höhere Preise verlangen können. Somit ist Österreich schon eher bei einer eventuellen Kontingentierung dabei. Auf der anderen Seite ist die Vinzenz Gruppe eine Organisation, die rasch reagieren kann und eine entsprechende Größe hat, die man nicht übergehen kann. Das Problem, mit dem wir aber trotzdem konfrontiert waren, ist: Jeder hatte sich in der Vergangenheit auf seine Speziallieferanten konzentriert, hat vielleicht sogar den einen oder anderen Lieferanten gestrichen. Plötzlich haben wir aber die auch wieder gebraucht – und der hat dann schon gesagt: „Nicht bös’ sein, aber ich hab’ andere Einkäufer jetzt bevorzugt …“ Das führt heute dazu, dass wir jetzt und in Zukunft an dieses Thema anders herangehen.
Einer Ihrer deutschen Fachkollegen hat in einem Interview gemeint, dass die Pandemie am Ende die medizinischen Lieferketten verbessern wird. Ist das einer der Aspekte, die er vielleicht gemeint hat?
Es sollte dahin gehen, wir haben es aber noch nicht wirklich gesehen, das muss ich ganz ehrlich sagen. Was mich aber eher weniger zuversichtlich stimmt, ist ein ganz anderes Beispiel: die „Ever Given“, das Schiff, das im Suezkanal steckengeblieben ist. Was man daran sieht, ist, dass ein aus globaler Sicht relativ kleines Ereignis weltweit zu großen Lieferprobleme führen kann. Diese Situation hat schließlich wirklich die Logistikketten ganz massiv beeinflusst und gestört. Und jetzt, ganz ehrlich: Es hat sich seitdem nichts getan, nichts verändert. Was, wenn das nächste Schiff steckenbleibt? Dann haben wir wieder das gleiche Thema.
"Was, wenn das nächste Schiff steckenbleibt?"
Sie meinen, diese Systeme lernen eher nichts dazu?
Gar nicht. Was man außerdem sieht, ist, dass auch andere Lösungsversuche nicht wirklich vorangetrieben werden. Nehmen wir etwa die logische Idee der Forcierung von lokaler Produktion her. Ich weiß zum Beispiel von einem Verbandmaterialhersteller, der in Österreich produziert. Er wollte aufgrund der vorhin geschilderten Probleme der Lieferketten die österreichische Produktion erweitern. Er hat natürlich gehofft, dass er jetzt mit den ganzen Zulassungsabläufen und -prozessen und eventuellen finanziellen Förderungen offene Türen einläuft. Von wegen! Er hat bis heute keine Genehmigung, um überhaupt irgendwo ein Projekt einreichen zu können. Also dieses Thema steht und wird von der Politik offenbar nicht unterstützt.
Was also ist Ihr Learning aus der Summe an Themen, die sich da offenbar anstaunt?
Wir müssen weg von dieser einheitlichen Sicht. Im Einkauf gibt es – grob gesagt – zwei Strategien: die Ein-Lieferanten-Strategie und die Mehr-Lieferanten-Strategie. In der Automobilindustrie ist es etwa Usus, dass man für einen Scheinwerfer gleich drei unterschiedliche Hersteller hat. Einmal kauft man beim einen mehr ein, ein andermal eben beim anderen. Das kann man auf unsere Branche aus meiner Sicht nicht ganz so umlegen. Der Grund dafür liegt darin, dass – auch wenn wir bei drei unterschiedlichen Herstellern einkaufen würden – alles irgendwann auf der gleichen Drehscheibe landet. Und dann ist diese Strategie für nichts. Das bedeutet, wir müssen Alternativen finden, bei denen entweder ganz andere Rohstoffe verwendet werden oder eine gänzlich andere Logistikkette genutzt wird. Im Idealfall unterscheidet sich dann das Produkt sogar noch technologisch, kann aber das Gleiche. Diese Strategie macht für uns in Zukunft sicher Sinn.
Wie kann man sich das konkret vorstellen, haben Sie vielleicht ein Beispiel?
Nehmen wir den wichtigen und besonders sensiblen OP-Bereich im Krankenhaus her. Wenn wir nicht regelmäßig frische Sterilwäsche bekommen, würde der Betrieb binnen weniger Tage stehen. Hierbei gibt es aber zwei grundsätzlich unterschiedliche Technologien: Einwegmaterialien, die ich nach Verwendung entsorge, oder Stoffe, die ich nach Verwendung reinigen lasse. Wir nutzen also zwei Technologien, die für den gleichen Einsatz gemacht sind, aber gänzlich anders funktionieren. Genau solche Modelle versuchen wir nun langfristig in unterschiedlichen Bereichen zu integrieren.
Das bedeutet aber vermutlich wohl auch höhere Kosten durch Mehraufwand oder Doppelgleisigkeit …
Es kann dahin gehen, dass wir Produkte, die wirklich sensibel sind, parallel auf Lager halten, ja.
Wenn wir das weiterdenken und mit den um das Siebenfache gestiegenen Containerpreisen kombinieren, kann die Sache womöglich unerwartet viel mehr kosten.
Wir hatten in den vergangenen Monaten grundsätzlich Preissteigerungen. Allerdings sind es in den meisten Fällen normale, nachvollziehbare Preissteigerungen, wir bewegen uns da im Inflationsbereich. Dass für den Container aus Asien früher 1.500 Euro fällig waren und er jetzt das Zehnfache kostet, das spüren wir nicht. Haben wir so viel Geld, dass die zehnfach höheren Kosten egal sind?
Auch nicht bei großen Investitionen, wie etwa OP-Computern, die Chips benötigen?
In diesem Bereich sehen wir momentan verlängerte Lieferzeiten. Gerade im Elektronikbereich erleben wir eine durchschnittliche Lieferverzögerung von vier bis acht Monaten. Gerade wenn es um irgendwelche Ersatzinvestition geht, ist das nicht lustig. Aber in den meisten Fällen – etwa bei Ultraschallgeräten – haben wir zum Glück ja ausreichend viele in den Häusern. Blöder ist es bei Großgeräten wie einem CT oder MRT. Aber bei heiklen Produkten haben wir zum Glück sehr gute Wartungsverträge hinterlegt, die diese Problematik abfedern. Aber ja, wir haben Hersteller, die jetzt gesagt haben: Heuer können wir nichts mehr liefern!
"Gerade im Elektronikbereich erleben wir eine durchschnittliche Lieferverzögerung von vier bis acht Monaten."
Aber treten wir einen Schritt zurück: Um solch langfristige Beschaffungsentscheidungen treffen zu können, sind abseits von Lieferengpässen möglichst detaillierte Daten hilfreich. Wie wichtig wurden Daten für Sie in den vergangenen Monaten?
Das war eine der allerersten Aufgaben, die wir uns gesetzt haben, als die Corona-Pandemie begonnen hat. Wir haben sofort ein Monitoringsystem aufgebaut. Zuerst ganz rudimentär, einfach mit Excel-Listen. Wir haben uns gefragt, welche Daten brauchen wir jetzt? Innerhalb von zwei Wochen hatten wir ein sehr übersichtliches Monitoringsystem. Wussten auf Knopfdruck, was wer braucht und wo was liegt. Mit jeder Woche haben wir dann immer mehr Informationen einfließen lassen und das System immer wieder weiterentwickelt. Momentan stehen wir kurz davor, ein professionelles Reportingsystem zu haben, das, mit SAP kommuniziert, wirklich sauber funktioniert. Korrekte Daten wurden für uns zum relevanten Faktor.
Ist das für Sie ein großer positiver Aspekt, der durch die Pandemie getriggert wurde?
Genau. Ich glaube, dass Corona in vielen Bereichen jetzt der Anlass war, um das Thema Digitalisierung final zu integrieren. Ich sage immer, dass uns die Pandemie gelehrt hat, das Helfenlassen der Systeme zuzulassen. Heute füttern wir die Systeme bewusst mit validen Daten und lassen uns wirklich so viel Information wie möglich zur Verfügung stellen. Heute lassen wir uns von digitalen Systemen helfen. Und greifen nur noch dann ein, wenn wir draufkommen, dass wir einen Blödsinn in das System eingegeben haben.
Wenden wir uns kurz der anderen Krise zu, die derzeit unsere Welt in Atem hält: dem Ukrainekrieg. Welche Auswirkungen spüren Sie als Vinzenz Gruppe?
Unmittelbar betrifft es uns momentan nur bei den Energiepreisen. Die Versorgung ist zum Glück überall aufrecht, und wir haben das Glück, viele Krankenhäuser mit Fernwärme – etwa mit Abwärme von der Voest – betreiben zu können. Oder in Ried, hier gibt es eine Fernwärmeanbindung, die mit Geothermie arbeitet. Aber natürlich schlagen die Preissteigerungen stark durch. Wir haben Einrichtungen, bei denen wir derzeit die vierfachen Gaspreise zahlen.
Gibt es da von der Vinzenz Gruppe auch Überlegungen, in Richtung Photovoltaik zu gehen, um unabhängig zu werden?
Oh ja. An einigen Krankenhausstandorten sind teilweise schon in relativ großem Stil Photovoltaikanlagen in Verwendung. Und natürlich gibt’s jetzt ein paar Häuser, wie zum Beispiel das Pflegeheim in Maria-Anzbach in Niederösterreich, die jetzt überlegen, auch eine Photovoltaikanlage zu installieren. Dieses Altersheim steht zum Beispiel an einem Waldrand. Vielleicht gibt es eine Initiative mit lokalen Bauern, lokalen Politikern, die gemeinsam eine Hackschnitzelheizung anschafft. Oder eben eine Geothermieanlage, Tiefenbohrung, Erdwärmeheizung. Also ja, man denkt jetzt natürlich auch bei uns beschleunigt über diese Dinge nach.
Haben Sie das Gefühl, dass man in Zukunft für solche epochale Ereignisse wie die Corona-Pandemie besser gewappnet ist?
Das ist extrem schwierig zu sagen. Grundsätzlich mal ja, weil wir wahnsinnig viel dazugelernt haben. Wir haben natürlich gelernt: Welche Informationen brauchen wir? Wie müssen wir organisatorisch arbeiten? Wir haben natürlich auch eine gewisse Sicherheit bekommen, dass wir sagen können: So, wie wir aufgestellt sind, sind wir gut aufgestellt. Aber wir wissen halt nicht, was in Zukunft auf uns zukommt. Was wäre, wenn sich ein kriegerischer Konflikt auf den westlichen Bereich ausbreitet und plötzlich keine Versorgungsketten mehr vorhanden sind? Ich weiß es nicht. Aber ja, wir sind definitiv besser aufgestellt als zuvor.
Interview: Johannes Stühlinger; Foto: depositphotos.com

Horst Aichinger, Ing.
Leiter des Zentralbereichs Einkauf der Vinzenz Gruppe
Aichinger wurde 1969 im österreichischen Mostviertel geboren und absolvierte nach seinem Schulabschluss die Ausbildung zum Maschinenbautechniker. Infolge beschäftigte sich der Vater von zwei Kindern viele Jahre mit den Mechanismen des Einkaufs bei weltweit führenden Industriekonzernen. 2014 dockte er bei der Vinzenz Gruppe an, wo er heute für den Gesamteinkauf verantwortlich ist.