"Long Covid wird uns noch einige Jahre beschäftigen"
Als eine der ersten Einrichtungen in Österreich begann das Wiener Herz-Jesu Krankenhaus mit der Nachbetreuung schwerwiegender Covid-19-Erkrankungen. Die Internistin Dr. Lea Verner, eine der beiden Leiterinnen der stationären Post-Covid-19-Akutrehabilitation des Hauses, sprach mit INGO über die Herausforderungen in der Begleitung von Post Covid- und Long Covid-Betroffenen.
Was ist das Besondere am Konzept der Akuten Intensivierten Rehabilitation (AIR) des Herz-Jesu Krankenhauses für Post-Covid-Betroffene?
Lea Verner: Die stationäre Akutrehabilitation an unserer internen Abteilung ist nicht mit einer üblichen Rehabilitation zu vergleichen. Hierher kommen Menschen, die schwer an Covid-19 erkrankt waren. Wir übernehmen sie aus Akuthäusern aus ganz Ostösterreich, nachdem sie nicht mehr ansteckend sind. Unter anderem haben sie schwerste virale Lungenentzündungen und unter Umständen sogar eine Lungentransplantation hinter sich. Einige haben so eine Transplantation auch noch vor sich. Diese Patienten versuchen wir rasch zu remobilisieren, damit sie ausreichend Ressourcen haben, die sie für die Folgebehandlungen benötigen. Dabei unterstützt uns unsere Intensivstation. In den meisten Fällen sind hier enorm geschwächte Patientinnen und Patienten mit zum Teil deutlich eingeschränkter Lungenfunktion. Manchmal müssen sie auch bei uns noch beatmet werden. Die so genannte AIR, also die Akute Intensivierte Rehabilitation, hat einen pulmologischen und einen internistischen Schwerpunkt. Es ist zweifellos etwas Besonderes, rehabilitative Maßnahmen und ein Krankenhaussetting mit allen darin verfügbaren Behandlungs- und Diagnose-Ressourcen zu vereinen. Wir sehen auch, dass das gerade für diese Patientengruppe von hohem Nutzen ist.
Unser Konzept zielt auf eine möglichst frühe Wiederherstellung der Lungenfunktion und der Mobilität ab und berücksichtigt zudem die vielfältigen, oft langwierigen Folgen einer Covid-19-Erkrankung, etwa muskulärer, kardialer oder neurologischer Art. Hauptpfeiler ist der intensive, bis zu mehrmals tägliche Einsatz von physikalischer Medizin, Physio- und Ergotherapie sowie Logotherapie. Es geht darum, die Beweglichkeit und Alltagsbewältigung bei Patienten wiederaufzubauen, die sich anfangs nicht einmal selbstständig im Bett aufrichten können. Sie müssen die vielen kleinen täglichen Handlungen quasi neu erlernen und ihr Leben Stück für Stück wieder in den Griff bekommen. Dabei helfen wir ihnen so umfassend wie möglich.
Patient am Gang mit Prim. Doz. Dr. Edmund Cauza, Vorstand Abteilung für Innere Medizin
Wie viele solcher Patientinnen und Patienten behandeln Sie hier im Durchschnitt?
Zwischen Herbst 2020 und Februar 2022 hat das Herz-Jesu Krankenhaus im AIR-Programm 450 Menschen stationär und ambulant versorgt. Für die ambulante Nachbetreuung haben wir eine Terminambulanz eingerichtet. Hier bekommen die Patientinnen und Patienten nach ihrer Entlassung aus dem AIR-Programm weiterhin physikalische, physiotherapeutische sowie darüber hinaus notwendige Behandlungen. Viele benötigen im Anschluss weitere Rehabilitation; hier arbeiten wir mit Reha-Kliniken zusammen, die ebenfalls Expertise in der Versorgung von Post- und Long Covid-Betroffenen aufgebaut haben, wie etwa das OptimaMed-Rehazentrum Raxblick oder das PVA-Rehazentrum Hochegg. Bei diesen Patienten müssen immer mehrere Einrichtungen an einem Strang ziehen, und das funktioniert hier in Ostösterreich recht gut.
Wie lange bleiben die Betroffenen in der Regel im AIR-Programm?
Das ist sehr unterschiedlich. Manche vielleicht drei oder vier Wochen, andere länger. Erfreulich ist, dass wir bei dieser Patientengruppe relativ schnell Fortschritte sehen, die Muskeln lassen sich durch die intensive Physiotherapie gut wiederaufbauen. Im Sommer kam zum Beispiel ein junger Mann zu uns, der kaum selbstständig die Zehen bewegen konnte – kurz vor Weihnachten konnte er gehend das Spital verlassen. Es ist auch bei zunächst fast komplett immobilen Patientinnen und Patienten nicht unrealistisch, dass sie nach kurzer Zeit wieder ein paar Schritte im Zimmer auf und ab gehen können.
"Es ist auch bei zunächst fast komplett immobilien Patientinnen und Patienten nicht unrealistisch, dass sie nach kurzer Zeit wieder ein paar Schritte im Zimmer auf und ab gehen können."
Sind die Grenzen zwischen Post Covid und Long Covid fließend? Wie unterscheidet man diese Krankheitsbilder?
Die Unterscheidung ist nicht sehr scharf, denn nach der offiziellen Definition der WHO umfasst Long Covid sämtliche Symptome, die drei Monate nach der Covid-19-Erkrankung noch bestehen und mit ihr in Verbindung zu bringen sind. Die WHO geht davon aus, dass etwa zwölf Prozent der erkrankten Personen längerer medizinischer Betreuung bedürfen. Die Gutenberg-Studie der Uni Mainz wiederum subsumiert unter Long Covid alles, was nach sechs Monaten noch an Symptomatik besteht, und hat bei 40 Prozent aller an Covid-19 Erkrankten dann noch zumindest ein Symptom festgestellt. Bei derart breiten Definitionen ist es logisch, dass die ganz schweren Post Covid-Fälle da ebenso hineinfallen wie Erkrankte, die drei Monate nach der Genesung beispielsweise über leichte Sensibilitätsstörungen in den Beinen berichten.
Nach sechs Monaten haben 60 Prozent der Patienten, die auf einer Intensivstation waren, noch die eine oder andere gesundheitliche Beeinträchtigung. Bekanntlich gibt es aber auch viele Menschen, die nur einen leichten oder milden Krankheitsverlauf hatten und erst viel später Long Covid-Symptome wie chronische Erschöpfung, Schwindel, Kurzatmigkeit oder Herzrasen bekommen. Dass alle – vom Lungentransplantierten bis zu jemandem mit einem einzelnen Long Covid-Symptom – in dieselbe Schublade gesteckt werden können, ist meines Erachtens nicht ideal. Die Schweregrade der jeweiligen Erscheinungen sind hier auch nicht miteinbezogen. Unter den Sammelbegriff Long Covid fallen über 200 Symptome, die von ganz leicht bis sehr gravierend und sowohl einzeln als auch in Kombination auftreten können. Sie können kürzer oder länger bestehen bleiben. Manche Betroffene sind nach einem leichten Covid-19-Verlauf schwer beeinträchtigt und benötigen eine längerfristige medizinische Long Covid-Betreuung. Aber es ist nicht automatisch jedes Symptom behandlungsbedürftig. Ich denke, das sollte in der Definition und in den Leitlinien besser berücksichtigt und subklassifiziert werden. So könnte man die Versorgungsoptionen für die Betroffenen optimieren.
"Unter den Sammelbegriff Long Covid fallen über 200 Symptome, die von ganz leicht bis sehr gravierend und sowohl einzeln als auch in Kombination auftreten können."
Ist dieser Facettenreichtum der Erscheinungsbilder die größte Herausforderung in der Behandlung von Long Covid?
Ja genau. Nicht nur die Erscheinungsbilder, ihre Dauer und ihr Schweregrad sind enorm divers, sondern auch das Ansprechen der Betroffenen auf eine therapeutische Maßnahme. Was bei dem einen gut wirkt, hilft einem anderen vielleicht weniger. Wir müssen also für jeden Patienten, für jede Patientin ein maßgeschneidertes Behandlungskonzept entwickeln und dieses immer wieder evaluieren. Für jedes einzelne Krankheitssymptom gilt es spezifische Ansatzpunkte zu finden, die genau bei dieser Person funktionieren. Deshalb ist es ja so wichtig, viele – am besten aufeinander abgestimmte – Betreuungsmöglichkeiten anzubieten.
Ist das der Grund dafür, dass das Herz-Jesu Krankenhaus sein Long-Covid-Angebot gerne auf eine Tagesklinik ausweiten möchte?
Ja genau. Wir haben auch ein Long Covid-Tagesklinik-Konzept entwickelt, das aber bisher noch nicht umgesetzt werden konnte. Covid-19-Erkrankte, die initial nicht krankenhauspflichtig waren, sind ja eigentlich der größere Teil der von Spätfolgen Betroffenen. Bis jetzt deckt unser Nachbetreuungsprogramm jene etwa fünf Prozent der Covid-19-Erkrankten mit einem schweren Verlauf ab. Wir würden unsere Expertise und unsere Ressourcen aber auch gern der breiten Masse der Long Covid-Erkrankten zugutekommen lassen, zumal das Versorgungsangebot mit dem erforderlichen individuellen Ansatz sicherlich noch nicht ausreichend ist. Es gibt natürlich bereits gute Einrichtungen mit dieser Spezialisierung, aber man muss bedenken, wie viele Menschen von Covid-19-Spätfolgen betroffen sind und wie viel mehr es noch betreffen wird. Momentan sind wir noch mit den Long Covid-Fällen der Delta-Welle beschäftigt, aber bei den geltenden Long Covid-Prozentsätzen wird auch nach Omikron einiges auf uns zukommen. Mit der ambulanten Reha in Oberlaa haben wir in Wien zwar eine führende Einrichtung, die kann aber natürlich nicht alle aufnehmen. In meiner Ordination betreue ich zum Beispiel eine Patientin, die fast ein Jahr auf einen Platz dort gewartet hat.
Welche Long Covid-Versorgungsangebote vonseiten der Vinzenz Gruppe gibt es bis jetzt in Ostösterreich?
Die Vinzenz Gruppe deckt bereits verschiedenste Facetten sehr gut ab. Neben der Akutrehabilitation bei uns im Herz-Jesu Krankenhaus gibt es im Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien ein ambulantes psychosomatisches Long Covid-Programm mit Psychotherapie, Entspannungs- und Bewegungsmodulen. Denn zu den Spätfolgen einer Covid-19-Erkrankung zählen ja nicht nur körperliche, sondern auch psychische Beeinträchtigungen wie Angststörungen, Depressionen, Panikattacken oder ein posttraumatisches Stresssyndrom. Und das Göttlicher Heiland Krankenhaus Wien hat auf seiner Akutgeriatrie ein Post Covid-Konzept für ältere Menschen entwickelt.
Gibt es unter den über 200 Long Covid-Symptomen so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner? Etwas, das die meisten Patientinnen und Patienten betrifft?
Was sich durch alle Patientengruppen zieht, ist eine anhaltende Leistungsschwäche, die so genannte Fatigue, und Konzentrationsstörungen. Betroffene schaffen es zum Teil nicht, drei Seiten in einem Buch zu lesen, oder sind von der kleinsten Alltagshandlung überdimensional erschöpft. Alles andere fällt prozentual weit ab, etwa Lungen- oder Herz-Kreislauf-Probleme oder ein dauerhaft beeinträchtigter Geruchs- und Geschmackssinn. Manche haben damit zu kämpfen, andere nicht.
"Was sich durch alle Patientengruppen zieht, ist eine anhaltende Leistungsschwäche, die so genannte Fatigue, und Konzentrationsstörungen."
Wie schwierig ist die Diagnose? Welche Instrumentarien hat man hier zur Verfügung?
Das Coronavirus ist ein Multiorganvirus und die Medizin hat natürlich die den einzelnen Organsystemen zugeordnete Diagnostik zur Verfügung. Abhängig von den Beschwerden untersucht man etwa die Nervenleitgeschwindigkeit, die Lunge, macht ein EKG, Herzultraschall, eventuell sogar ein Herz-MRI. Jeder Long Covid-Betroffene sollte zum Beispiel eine kardiologische Untersuchung erhalten. Nach Covid-19 können ja durchaus Organschäden zurückbleiben. Das Auffällige bei Long Covid ist allerdings, dass die apparative Medizin oft ohne Befund ist. Das heißt, die Ergebnisse sind trotz diverser Beschwerden ohne Hinweis. Da hat jemand etwa Atemnot, obwohl der Lungenfunktionstest in Ordnung ist. Das macht es uns Medizinern schwer. Wir brauchen Angriffspunkte, können diese aber oft nicht klar definieren. Wir lernen immer noch bei jedem Patienten dazu.
Hilft es, dass Long Covid mittlerweile statistisch mit dem ICD-10-Code erfasst werden kann?
Ja, das macht schon einen Unterschied. Der Code bildet Zustände und Syndrome ab, die in Zusammenhang mit einer überstandenen Covid-19-Erkrankung stehen. Dass Long Covid damit eine anerkannte Erkrankung ist, ist nicht zuletzt für die Betroffenen wichtig, denn abgesehen von den bürokratischen Implikationen wie etwa Krankenständen ist es extrem verunsichernd, an etwas zu leiden, das sich nicht benennen lässt.
Welche therapeutischen Konzepte funktionieren gut?
Das ultimative Medikament, das Covid-19 endgültig besiegt, haben wir leider nicht. Es gibt aber verschiedene Ideen, Langzeitsymptomen entgegenzuwirken, etwa durch Auffrischungsimpfungen nach durchgemachtem Infekt. Beim Großteil der Betroffenen scheint das auch zu funktionieren, allerdings nicht beim gesamten Patientenkollektiv. Ein weiterer Therapiepfad, der oft angewandt wird, ist das Dämpfen des überschießenden Immunsystems durch Antihistaminika oder andere Medikamente. Das kann tatsächlich manche Symptome günstig beeinflussen, aber nicht alle und auch nicht bei jedem Patienten. Und natürlich haben auch physikalische, physio- und ergotherapeutische Methoden sowie psychologische Unterstützung gute Effekte.
"Das ultimative Medikament, das Covid-19 endgültig besiegt, haben wir leider nicht."
Wie sieht der Versorgungspfad aus?
Patientinnen und Patienten, die nur einen leichten oder milden Covid-19-Verlauf hatten und später Long Covid entwickeln, führt natürlich der erste Weg zum Allgemeinmediziner. Das ist auch die Empfehlung. Hier wird abgeklärt, ob es Hinweise auf Long Covid gibt. Denn dass zum Beispiel jemand drei, vier Wochen nach einem Infekt noch angeschlagen ist, kommt bei allen möglichen Viruserkrankungen vor und muss noch nicht Long Covid bedeuten. Ganz wesentlich ist, dass Hausärzte die Long Covid-Kriterien kennen, eine Fatigue nicht von vornherein als rein psychosomatisch abtun und die Betreffenden gegebenenfalls zu diversen diagnostischen Untersuchungen schicken. Voriges Jahr wurde dazu eine Leitlinie für niedergelassene Ärzte herausgebracht, in der die Hauptsymptomkomplexe beschrieben sind und der Behandlungspfad dargelegt ist. Nach der Zuweisung zum – je nach Symptomatik – Lungenfacharzt, Kardiologen oder Neurologen entscheidet dieser über weitere Schritte, zum Beispiel auch, ob eine Reha notwendig ist. Es ist auf jeden Fall wichtig, diese Patienten in Observanz zu behalten und alles zu versuchen, um eine Chronifizierung zu vermeiden.
Ist Long Covid heilbar?
Das wissen wir leider noch nicht. Wir haben ja erst einen Beobachtungszeitraum von etwa eineinhalb Jahren. In dieser Zeit ist Long Covid jedenfalls noch nicht bei allen zur Gänze ausgeheilt. Auch wir begleiten manche Patienten schon seit 2020. Wir sehen aber auch, dass die Behandlung anschlägt und die Symptome mit der Zeit weniger werden. Ich habe jedenfalls noch keinen Patienten erlebt, bei dem gar nichts weiterging. Das stimmt mich eigentlich optimistisch. Unter anderem durch die Impfungen wird Covid-19 irgendwann hoffentlich nicht mehr ein so großes Problem sein. Da Long Covid aber zeitverzögert zur Covid-19-Erkrankung auftritt, wird es uns vermutlich die nächsten Jahre noch ziemlich beschäftigen.
Interview: Uschi Sorz; Fotos: Herz-Jesu Krankenhaus
Lea Verner, Dr.
Leiterin der Akuten Intensivierten Rehabilitation (AIR) am Herz-Jesu Krankenhaus Wien
Verner hat zehn Jahre in der Intensivkrankenpflege in Würzburg (D) gearbeitet und danach bzw. währenddessen in Mainz und München Medizin studiert. Sie ist Fachärztin für Innere Medizin und seit 2018 am Herz-Jesu-Krankenhaus in Wien tätig. Sie ist dort Oberärztin, stellvertretende Abteilungsvorständin für Innere Medizin und leitet zusammen mit der Pneumologin OÄ Dr. Katharina Mühlbacher den Post-Covid-19-Schwerpunkt Akute Intensivierte Rehabilitation (AIR). Sie hat außerdem eine Ordination im Gesundheitspark Herz-Jesu Wien der Vinzenz Gruppe.