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Gesundheit
Österreich
20.04.2020

Was tun, wenn nicht alle gerettet werden können?

Mit Corona ist ein Begriff aus der Kriegsmedizin in die Öffentlichkeit gerückt: die Triage. Sie beschreibt die Notwendigkeit, bei zu knappen medizinischen Ressourcen die Versorgung von Patienten nach deren Überlebenschancen zu reihen. Die kollabierten Gesundheitssysteme etlicher Länder spiegeln die Dramatik dieser Situation bereits wider. Im Interview spricht der Moraltheologe Matthias Beck über die ethischen Fragen der Triage.

Die so genannte Triage, ein System der Priorisierung medizinischer Hilfeleistungen, ist das große Schreckgespenst der Coronakrise. Wie zeigt sie sich im Fall von COVID-19? Geht es hier immer um Leben und Tod?

Matthias Beck: Ich würde den Begriff schon für das ganz Existenzielle heranziehen und nicht für jede Art von Auswahlverfahren bei knappen Mitteln. Durch die Coronakrise ist er jetzt plötzlich bekannt geworden, aber eigentlich ist das Prinzip über 200 Jahre alt und stammt aus dem militärischen Sanitätswesen; ein französischer Arzt hat es während der Napoleonischen Kriege entwickelt. Aus der Unzahl Verwundeter wurden zuallererst jene mit den meisten Überlebenschancen gerettet, um im Endeffekt möglichst viele Soldaten lebend durchzubringen. Das Verb „trier“ bedeutet „sortieren“. 

Auch wenn die Corona-Pandemie in meinen Augen kein Krieg ist, so sind wir hier ebenfalls mit endlichen Ressourcen in einer sehr ernsten Situation konfrontiert. Wen schließe ich zum Beispiel an eine Beatmungsmaschine an, wenn ich pro verfügbarem Gerät fünf Patienten habe, die zu ersticken drohen? Das läuft auf eine Entscheidung zwischen Leben und Tod hinaus. Bei der Organtransplantation ist es ähnlich, nur sprechen wir da nicht von Triage, sondern von Allokation.

Die Triage ist also immer aus der Not geboren: Übersteigt die schiere Zahl der Akutpatienten die Möglichkeiten der Helferinnen und Helfer, bleibt es ihnen nicht erspart, auszuwählen. Das ausschlaggebende Kriterium ist dabei die größte Überlebenschance. Gibt es hier im ethischen Sinn überhaupt eine gute Entscheidung?

Nein, das ist ja das Problem. Blickt man zurzeit etwa nach England, Amerika, Frankreich, Italien oder Spanien, sieht man deutlich, dass hier katastrophale Situationen zustande kommen, wo man nur noch zwischen einer schlechten und einer noch schlechteren Möglichkeit wählen kann. 

Die ethische Frage stellt sich aber schon weit vorher: Der erste und wichtigste Schritt in diesem Sinne ist nämlich die Prävention. Die Triage ist ein Dilemma, das man unter allen Umständen vermeiden sollte. Darum sind die frühzeitigen und harten Maßnahmen der österreichischen Bundesregierung – und etwas später auch von Deutschland – vorbildlich und ethisch absolut geboten. Dadurch, dass die Zahl der COVID-19-Infizierten nun nicht mehr so drastisch ansteigt, wird man Triage-Situationen hierzulande möglicherweise umgehen können. Zumindest stimmt es zuversichtlich, dass noch immer genügend freie Betten vorhanden sind. Das längerfristige Gelingen hängt natürlich davon ab, ob die Bevölkerung das weiter mitträgt. Man kann daher nicht genug an die Verantwortung jedes Einzelnen appellieren.

„Nach unserer Auffassung von Menschenwürde geht es sicherlich nicht, dass beispielsweise der Bundeskanzler eher einen Beatmungsplatz kriegt als ein 12-jähriges Kind oder der Jüngere eher als der Ältere.“

Das Kriterium der größten Überlebenschance ist ein hartes, aber wie sollte man das sonst lösen? Nach unserer Auffassung von Menschenwürde geht es sicherlich nicht, dass beispielsweise der Bundeskanzler eher einen Beatmungsplatz kriegt als ein 12-jähriges Kind oder der Jüngere eher als der Ältere. Jeder Mensch ist gleich viel wert, egal welcher Ethnie, welcher Herkunft, ob Mann, Frau, klein, groß, reich, arm, berühmt, nicht berühmt. Alle haben einen Anspruch auf bestmögliche Versorgung.

Aber ist dieses Prognosekriterium immer so eindeutig festzumachen? Wie entscheidet man zum Beispiel, ob das einzige noch freie Beatmungsgerät ein relativ fitter alleinstehender 80-Jähriger bekommt, der trotz einer leichten Grunderkrankung realistische Chancen hätte durchzukommen, oder eine junge Alleinerzieherin mit drei Kindern und Diabetes? 

Das ist natürlich nicht so eindeutig, es sind außerordentlich schwierige Entscheidungen. Darum verzweifeln auch viele Ärztinnen und Ärzte, die gegenwärtig in Bezug auf diese komplett neue Erkrankung solche Einschätzungen treffen müssen. Am besten sollten es Teamentscheidungen sein, also von mehreren Kolleginnen und Kollegen gemeinsam. Auch Unterstützung von Ethikern oder Religionsvertretern ist hilfreich. Und wie gesagt, ob jemand 80 ist, darf keine Rolle spielen, wenn es lege artis zugeht. Im Übrigen kann auch ein 20-Jähriger ernste Grunderkrankungen haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass man mit zunehmendem Alter Vorerkrankungen hat oder das Immunsystem schlechter wird, steigt allerdings schon, das ist leider so.

Auf jeden Fall sollte immer das zum Tragen kommen, was die christliche Moraltheologie Epikie nennt. Das heißt, jeden Fall für sich zu betrachten und zu versuchen, unter den bestehenden Umständen das Bestmögliche zu tun. Aber wie auch immer: Wenn die Mutter von drei Kindern und ein Alleinstehender gleich gute Überlebenschancen haben, sind Entscheider-Teams einfach in einem riesigen Dilemma. Da gibt es kaum noch eine gute Entscheidung. Wahrscheinlich würde man der Mutter den Vorzug geben, aber da muss man alle Parameter berücksichtigen.

Darf man jemanden vom Beatmungsgerät abhängen, weil ein aussichtsreicherer Kandidat eingeliefert wird? Und was ist mit Menschen, die aus anderen Gründen als COVID-19 Intensivmedizin brauchen?

Diese Unterscheidung, also ob es sich um die Zuteilung vorhandener Ressourcen handelt oder um die Beendigung einer bereits erfolgten Ressourcenzuteilung, hat die Bioethikkommission kürzlich in ihrer aktuellen Stellungnahme „Zum Umgang mit knappen Ressourcen in der Gesundheitsversorgung im Kontext der COVID-19-Pandemie“ berücksichtigt. Bei der klinischen Entscheidungsfindung gilt es, für jeden Patienten und jede Patientin, ob nun mit oder ohne COVID-19, ethische Grundsätze zu beachten. Die Beendigung einer bereits begonnenen Beatmungstherapie ist nur dann vertretbar, wenn diese faktisch aussichtslos ist. Sowohl Verzichts- als auch Beendigungssituationen führen in unserer Gesellschaft, die sich keiner simplen Nutzenmaximierung verschrieben hat, allerdings an die Grenzen ethischer Argumentationen.

Manche sagen, dass es eine moralisch schuldlose Lösung bei der Triage nicht gibt. Wie sehen Sie das?

Einige Vertreter des Protestantismus – aber sicher nicht alle – könnten das aus dem Gedanken der Erbschuld heraus so sehen. In dieser Betrachtung ist der Mensch, ganz unabhängig von persönlicher Schuld oder individuellen Fehlentscheidungen, grundsätzlich ein sündiges Wesen im lutherschen Sinne. Egal, was er tut, er macht sich unweigerlich schuldig. Die katholische Kirche ist da anderer Auffassung. Wir sagen, der Mensch muss sich bemühen, das Richtige zu tun, und wenn sich das Unheil nicht vermeiden lässt, es so gut wie möglich zu bewältigen. Daher gibt es für uns Katholiken auch bei der Triage kein automatisches Schuldigwerden. Wir akzeptieren die Endlichkeit der Welt und die damit verbundenen endlichen Ressourcen. Das Bemühen und die richtige Entscheidung sind das Ausschlaggebende. 

Die Bilder von traumatisiertem medizinischem Personal aus den Nachbarländern haben viele schockiert. Ist der Umgang mit der Pandemie samt möglicher Triage auch eine Frage der Vorbereitung? Entlasten Triage-Teams und gute medizinisch-ethische Leitlinien wie etwa jene der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) die Ärzte?

Unbedingt! Teamentscheidungen und Leitlinien sind absolut notwendig. Mittlerweile haben ja etliche medizinische Fachgesellschaften in Österreich, der Schweiz und Deutschland und eben auch wir von der Bioethikkommission solche Stellungnahmen herausgegeben. Das Erste muss es natürlich sein, alles zu tun, dass es gar nicht erst zu einer Triage-Situation kommt. Dennoch muss man vorbereitet sein, das ist, wie wenn ein Pilot im Flugsimulator sein Verhalten im Ernstfall einübt. Spitäler müssen sich jetzt damit auseinandersetzen, wie sie ihre Kapazitäten im Fall des Falles erweitern können. Verbindliche Richtlinien bieten allen Ärzten eine gute Basis, von der Chefetage bis zum jungen, unerfahrenen Assistenzarzt. Darüber hinaus sollten Patienten einfach nicht von reinen Bauchentscheidungen abhängig sein.

Der Umgang mit tragischen Situationen und schweren Entscheidungen gehört zum Medizinberuf, aber das Triage-Prinzip wurzelt ja in einer Kriegssituation. Die wenigsten in Europa haben einen Krieg erlebt. Sind europäische Ärztinnen und Ärzte von ihrer Ausbildung und ihren üblichen Arbeitsabläufen her darauf vorbereitet, in einem solchen Ausmaß entscheiden zu müssen, wer leben darf und wer sterben muss? 

Zu wenig. Es ist zwar schon einiges passiert, zum Beispiel halte ich seit vielen Jahren Vorlesungen in Medizinethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Wien und an der MedUni Wien, aber um das an Letzterer überhaupt zu realisieren, haben wir zu Beginn lange gekämpft. Angesichts der aktuellen Lage wäre es noch einmal dringlicher, die jungen Medizinstudierenden auf Extremsituationen vorzubereiten. Da müssten wir noch viel mehr machen. 

Wie gestalten sich vor dem Hintergrund der Triage die vier ethischen Prinzipien bei der ärztlichen Entscheidungsfindung, nämlich Gerechtigkeit, Nichtschaden, Wohltun und Autonomie? 

Die Menschenwürde gebietet es, dass der Mensch autonom über sein eigenes Leben entscheiden kann. Zum Grundsatz der Medizinethik „salus aegroti suprema lex“, also das Heil des Patienten ist das oberste Gebot, kam mittlerweile der Satz „voluntas aegroti suprema lex“ hinzu, der Wille des Patienten ist das oberste Gebot. Und zu dieser Autonomie gehört eben auch, dass ein Patient lebenserhaltende Maßnahmen ablehnen kann. Das gilt natürlich auch jetzt. Wenn jemand seinen Willen nicht mehr äußern kann, etwa aufgrund von Demenz, weil er bewusstlos ist und weil es keine Patientenverfügung gibt, greift das Fürsorgeprinzip, auch Wohltun genannt. Dann müssen andere bestmöglich entscheiden.

„Das ethische Prinzip Nichtschaden ist in Triage-Situationen besonders schwierig zu befolgen, denn hier wird natürlich Menschen geschadet.“

Das Gerechtigkeitsprinzip berührt bei der Triage ganz stark die Verteilung. Wie werden Beatmungsmaschinen gerecht verteilt? Und die Tauschgerechtigkeit verbietet es, sich an einer Krise zu bereichern, also etwa Knappheiten auszunutzen, um Geschäfte zu machen. Die personale Gerechtigkeit verfährt nach dem Grundsatz „suum cuique“, jeder soll genau das bekommen, was er braucht. Und als viertes Element ist hier ein von Aristoteles geprägter Gerechtigkeitsbegriff sehr wichtig, der besagt, dass man Gleiches gleich behandeln muss und Ungleiches ungleich. Also obwohl wir alle dieselbe Menschenwürde haben, muss man mit einem abhängigen kleinen Kind anders umgehen als mit einem Erwachsenen. Oder mit einem hilflosen alten Menschen anders als mit einem stämmigen 20-Jährigen, der sich selbst versorgen kann. Das ethische Prinzip Nichtschaden ist in Triage-Situationen besonders schwierig zu befolgen, denn hier wird natürlich Menschen geschadet. Aber das darf nicht das Ziel sein, der Nutzen muss immer im Vordergrund stehen.

Interview: Uschi Sorz; Bild: depositphotos.com

Matthias Beck, DDr.

Medizinethiker, katholischer Moraltheologe und Mitglied der österreichischen Bioethikkommission

Beck ist außerordentlicher Universitätsprofessor für Moraltheologie mit Schwerpunkt Medizinethik an der Universität Wien. Unter anderem ist er Sachverständiger im Deutschen Bundestag und Mitglied des Beratergremiums der Europäischen Bischofskonferenzen (COMECE) in Brüssel, der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste und der Akademie für Ethik in der Medizin. Er ist außerdem Mitglied der Bioethikkommission, die die österreichische Bundesregierung berät. 

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