„Angewandte Pflegewissenschaft spielt eine essenzielle Rolle in der Gesundheitsforschung“
Im Oktober übernahm Oliver Radinger die Leitung des Kompetenzzentrums für Angewandte Pflegeforschung an der FH Campus Wien. Mit INGO sprach der Pflegewissenschaftler und Soziologe über die Wechselwirkung zwischen Forschung und Lehre sowie die Bedeutung der Pflegewissenschaft als eigenständiger Disziplin.
Das Kompetenzzentrum für Angewandte Pflegeforschung wurde 2019 eröffnet. Was genau wird hier erforscht?
Oliver Radinger: Unser Zentrum an der FH Campus Wien hat vier Schwerpunkte: Zum einen die Gesundheitsförderungsforschung, wo sich alles rund um den Erhalt der Gesundheit dreht, und die Evaluationsforschung, die die Treffsicherheit und Nachhaltigkeit gesundheitsfördernder Angebote für vulnerable Gruppen unter die Lupe nimmt. Auch die Evaluation webbasierter Lehrveranstaltungsinhalte fällt hier hinein. Ein weiterer Fokus ist der Theorie-Praxis-Transfer. Da geht es um die Effizienz, Effektivität und Evidenzbasierung konkreter pflegerischer Maßnahmen, etwa im Zuge von Betreuungs- und Pflegekonzepten. Wir untersuchen zum Beispiel, welche Schritte sinnvoll und umsetzbar sind, erstellen Leitlinien dafür und überprüfen, ob und wie das Ganze letztlich funktioniert. Und last but not least ist die Digitalisierung ein wesentlicher Forschungszweig, denn assistive Technologien und technische Lösungen werden für die pflegerische Versorgung immer wichtiger. In diesem Bereich sind wir federführend. Wir realisieren auch laufend Kooperationen mit anderen Departments der FH Campus Wien sowie externen Partner*innen – Multidisziplinarität ist in der Pflegeforschung ein bedeutender Faktor. Mit unseren Ergebnissen möchten wir dazu beitragen, die Qualität der Gesundheitsversorgung sicherzustellen und künftige Entwicklungen voranzutreiben.
Um welche Entwicklungen handelt es sich da zum Beispiel?
Unsere Forschung setzt an den soziologischen und demografischen Gegebenheiten in unserer Gesellschaft an. Diese bestimmen, was die Pflege künftig braucht, welche Fragestellungen am dringendsten gelöst werden müssen und an welchen Schrauben man drehen kann, um Dinge verbessern und optimieren zu können. Repräsentativ dafür ist zum Beispiel eines unserer aktuellen Leuchtturmprojekte namens „Linked Care“. Das ist ein von uns entwickeltes digitales Dokumentationssystem für die mobile Pflege, das nicht nur alle relevanten Daten auf einen Blick erfasst, sondern auch die Kommunikation zwischen den Pflegenden, den Familienangehörigen und den anderen Gesundheitsdienstleister*innen wie Ärzt*innen, Therapeut*innen oder Apotheker*innen wesentlich erleichtert. In Zeiten eines wachsenden Pflegebedarfs bei gleichzeitigem Fachkräftemangel ist das Mehr an Effizienz durch einen besseren Informationsfluss ein enorm wichtiges Asset. Es spart Zeit und macht allen Beteiligten, nicht zuletzt den Patient*innen, das Leben leichter, während umgekehrt ein lückenhafter Austausch durch das Fehlen von Schnittstellen und verbindlichen IT-Standards die Qualität der Pflege schwächt. Genau das wollen wir verhindern, unter anderem eben durch die Erarbeitung solcher einfach zu bedienender automatisierter Tools. „Linked Care“ ist gerade im Aufbau. Dem Projekt liegen sehr weitreichende Kooperationen mit verschiedensten Stakeholder*innen zugrunde und es wurde vom Wissenschaftsfonds FFG gefördert.
Sind Kommunikationserleichterungen durch digitale Tools generell ein relevantes Zukunftsthema?
Absolut. Kommunikation ist für zahlreiche Handlungen im Pflegealltag das Um und Auf und die Digitalisierung kann hier vieles optimieren, wenn sie gut durchdacht ist. Das kommt wiederum der Qualitätssicherung zugute. Dementsprechend widmen sich etliche Projekte in unserem Forschungsbereich Digitalisierung dem Kommunikationsthema. Ein weiteres gutes Beispiel dafür ist das Projekt 24h QuAALity, im Zuge dessen wir die gleichnamige App für 24-Stunden-Pflegende entwickelt haben. Sie unterstützt diese in ihrer Arbeit, indem sie ihnen eine systematisierte Dokumentation ermöglicht und interaktive Informations- und Lernelemente in mehreren Sprachen zu Betreuungssituationen und Krankheitsbildern zur Verfügung stellt. Darüber hinaus vernetzt sie die App mit Angehörigen und hält Übersetzungstools oder Anleitungen zum Notfallmanagement bereit. 24h QuAALity wird bereits erfolgreich eingesetzt.
"Kommunikation ist für zahlreiche Handlungen im Pflegealltag das Um und Auf und die Digitalisierung kann hier vieles optimieren, wenn sie gut durchdacht ist."
Was ist das Spezifikum der Angewandten Pflegeforschung?
Meine Kolleg*innen und ich kommen ursprünglich aus der Pflege, haben aber darüber hinaus verschiedenste Studien absolviert, wie zum Beispiel Soziologie, Pflegewissenschaft, Psychologie, Pädagogik, Philosophie, Public Health oder andere. Dass wir die Pflege sozusagen von innen und außen kennen und all diese unterschiedlichen Perspektiven in die Forschung einfließen, ist ein großer Vorteil. Es prädestiniert uns dazu, der Pflege eine Stimme zu geben und ihre Belange wissenschaftlich zu unterbauen. Dabei ist diese Kenntnis von innen heraus ein ganz wesentlicher Faktor, da wir dadurch ganz andere Fragen stellen als beispielsweise Techniker*innen, Ökonom*innen oder Informatiker*innen.
Heutzutage ist es leider üblich, dass alle über die Pflege reden, aber keiner mit ihr. Das wollen wir ändern. Ich finde es zudem wichtig, dass wir dadurch, dass wir die Angewandte Pflegeforschung hier am Kompetenzzentrum als eigenständige wissenschaftliche Disziplin betreiben, auch ihre essenzielle Rolle in der Gesundheitsforschung sichtbar machen können. Die Eckpfeiler unserer Arbeit sind Inter- und Transdisziplinarität an der Schnittstelle von Angewandter Pflegewissenschaft, den Gesundheitswissenschaften, Technik und Innovation.
Worauf können Sie als neuer Leiter aufbauen?
Meine Vorgängerin Elisabeth Haslinger-Baumann, die jetzige Vizerektorin für Forschung und Entwicklung an der FH Campus Wien, hat das Zentrum nicht nur praktisch im Alleingang aufgebaut, sondern es auch auf eine äußerst erfolgreiche und solide Grundlage gestellt. Da gibt es also bereits spannende Anknüpfungspunkte für mich. Ich möchte die vier Leistungsschwerpunkte fortführen und erweitern. Besonderes Augenmerk möchte ich auf die großen Herausforderungen legen, mit denen die Pflege aktuell konfrontiert ist.
Welche Aspekte sind Ihnen dabei besonders wichtig?
Durch den extremen Pflegefachkräftemangel sieht die Zukunft der Pflege zurzeit nicht gerade rosig aus. Dennoch oder gerade deswegen möchte ich daran mitwirken, die Pflege aus den negativen Schlagzeilen herauszuholen. Es gibt nämlich durchaus auch Positives zu vermitteln. Pflegende sind eine eigenständige und wichtige Berufsgruppe, die das Gesundheitssystem zusammenhält. Deshalb sollten sie nach außen viel stärker auftreten. Vonseiten der Forschung können wir einerseits dazu beitragen, dass die Stimme der Pflege mehr gehört wird. Andererseits stärken wir sie auch, indem unsere Forschungsergebnisse ganz konkret den Pflegealltag optimieren. Dabei haben wir den stationären und teilstationären Bereich ebenso im Blick wie die mobile Pflege sowie natürlich auch Verbesserungen für die Pflegeempfänger*innen. Als kompetenter und angesehener Kooperationspartner vieler Einrichtungen und Institutionen können wir auf jeden Fall viel erreichen. Die Pflege ist ja im Prinzip ein sehr attraktiver Beruf, aber die derzeitigen Rahmenbedingungen müssen sich unbedingt ändern. Hierzu gilt es alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Das sehen wir als unsere Aufgabe.
"Die Pflege ist ja im Prinzip ein sehr attraktiver Beruf, aber die derzeitigen Rahmenbedingungen müssen sich unbedingt ändern."
Was ist Ihr eigener Forschungsfokus?
Als Forschender und Lehrender habe ich mich sehr viel mit qualitativer Sozialforschung, Ethik, Palliative Care und dem Leben mit chronischen Krankheiten beschäftigt. Aus der Philosophie, Soziologie und der Pflegewissenschaft kommend, interessieren mich die existenziellen Aspekte der Pflege persönlich sehr. Sie sind aber auch für die Allgemeinheit wesentlich. Chronische Krankheiten zum Beispiel sind heute schon auf dem Vormarsch und werden immer mehr zunehmen. Hier geht es nicht in erster Linie um Heilung, sondern um das Zurechtkommen damit und eine Steigerung des Wohlbefindens im Alltag.
Hat die Zunahme von chronischen Krankheiten mit der Alterung der Bevölkerung zu tun?
Teilweise hat sie natürlich mit der Alterung der Bevölkerung zu tun, aber nicht nur. Wir sehen auch immer mehr jüngere Menschen und sogar Jugendliche, die chronische Erkrankungen entwickeln, zum Beispiel Typ-2-Diabetes. Das liegt auch an unserer Lebensweise. Es gilt, an den Lebensstilfaktoren anzusetzen. Dementsprechend tun sich für die Pflege viele Felder auf, von der Prophylaxe bis zur Betreuung. Das ist im Übrigen ein Top-Aufgabenbereich für die akademischen Gesundheitsberufe, die gerade im Kommen sind, etwa School Nurses oder Community Nurses mit einer Ausbildung in Advanced Nursing Practice. Diese sollten viel mehr in die Gesundheitsvorsorge und die Begleitung chronischer Krankheiten eingebunden werden.
Welche Rolle spielen Advanced Nursing Practitioner, so genannte ANPs, in der Pflege der Zukunft?
Diese werden in Zukunft eminent wichtig sein, denn mit ihrer akademischen Ausbildung können sie den Blick punktgenau auf den individuellen Bedarf innerhalb des Settings legen, in dem sie eingesetzt werden. Im Rahmen eines Masterstudiums können sich ANPs auf gesundheitliche Problemstellungen eines bestimmten Fachgebiets oder einer Patient*innengruppe spezialisieren und erwerben Managementkompetenzen. In Österreich sind bereits erste Projekte am Laufen. Was die ANP-Ausbildungen betrifft, so ist die FH Campus Wien ganz vorne mit dabei, wobei natürlich durch das hauseigene Forschungszentrum eine außerordentlich fruchtbare Wechselwirkung entsteht. Unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse fließen unmittelbar in die Lehre ein. Dadurch sind die Absolvent*innen immer auf dem neuesten Stand. Sie sind früh Teil eines Netzwerks, das die gesamte Gesundheits- und Krankenpflege umfasst. Egal worauf sich ANPs spezialisieren, sie haben das Wissen, um selbstständig zu agieren und Führungsaufgaben zu übernehmen. Sie können zudem unheimlich viel tun für Prävention, Prophylaxe und Aufklärung. Angesichts der vorhin besprochenen Zunahme von chronischen Krankheiten sollte man mit der Förderung von Gesundheit schon im Schulalter beginnen, und in diesem Sinne sind zum Beispiel School Nurses eine wertvolle Ergänzung von Schulärzt*innen.
Interview: Uschi Sorz; Foto: FH Campus Wien / Schedl
Oliver Radinger, FH-Hon.-Prof. Mag. Dr., BA
Leiter des Kompetenzzentrums für Angewandte Pflegeforschung der FH Campus Wien
Radinger startete sein Berufsleben als diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger in der Klinik Donaustadt in Wien, wo er u. a. an der internen Intensivstation arbeitete. Er absolvierte die Sonderausbildung zu Anästhesie- und Intensivpflege und studierte zudem an der Universität Wien Pflegewissenschaft. Zeitgleich mit dem Studienabschluss erhielt er 2008 die Akkreditierung zum Lehrer für Gesundheits- und Krankenpflege. Weiters folgten an der Universität Wien das Doktoratsstudium Soziologie und das Studium der Philosophie sowie die Absolvierung des Universitätslehrgangs der Philosophischen Praxis. Neben der eigenen Fort- und Weiterbildung forcierte Radinger die Tätigkeit als Lehrender in der Gesundheits- und Krankenpflegeschule am Campus Donaustadt und an der FH Campus Wien, an der er seit mehr als zehn Jahren als Lektor aktiv ist. Außerdem unterrichtet er an der FH des BFI Wien sowie an der Donau-Universität Krems. 2019 verlieh ihm die FH Campus Wien eine FH-Honorarprofessur. Im Oktober 2022 übernahm Radinger die Leitung des Kompetenzzentrums für Angewandte Pflegeforschung der FH Campus Wien.