„Community Nurses finden unterschiedliche Ausgangslagen vor und müssen kreativ sein“
Im März 2022 wurde das Community-Nurse-Pilotprojekt „Gemeinden gut versorgt“ gegründet. In INGO zieht Koordinatorin Gerlinde Göschelbauer eine erste Zwischenbilanz.
Das EU-geförderte Community-Nurse-Pilotprojekt „Gemeinden gut versorgt“ ist eine Kooperation des Pflegehauses St. Louise in Maria Anzbach, des Wiener Krankenhauses Göttlicher Heiland und der drei Wienerwaldgemeinden Maria Anzbach, Altlengbach und Asperhofen. Im März 2022 fiel der Startschuss, in der Folge nahmen zwischen Juni und September vier diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen ihren Dienst als Community Nurses auf. Ihr Ziel: Die älteren Bewohner*innen der Region sollen durch professionelle Beratung, bedarfsgerechte Vernetzung mit Gesundheits- und Sozialeinrichtungen sowie präventive Hausbesuche mehr Lebensqualität und selbstständige Lebensjahre in den eigenen vier Wänden gewinnen. Als Heim- und Pflegedienstleiterin des Pflegeheims St. Louise ist Gerlinde Göschelbauer Koordinatorin des bis Ende 2024 laufenden Projekts. Im Gespräch mit INGO zieht sie eine erste Zwischenbilanz.
Frau Göschelbauer, nach einer längeren Vorbereitungszeit begann ab Juni 2022 die praktische Umsetzung des Community-Nurse-Projekts für die drei Wienerwaldgemeinden Maria Anzbach, Asperhofen und Altlengbach. Was ist seither geschehen?
Gerlinde Göschelbauer: Obwohl unsere vier Community Nurses noch nicht einmal ein Jahr im Einsatz sind, haben sie schon enorm viel auf die Beine gestellt. Das erste Etappenziel, nämlich sich bei den Menschen in den drei Gemeinden bekannt zu machen, haben sie gut gemeistert. Zunächst galt es zu erklären, was Community Nurses eigentlich sind. Sie unterscheiden sich ja fundamental von mobiler und Hauskrankenpflege, denn ihr Schwerpunkt liegt in der Prävention. Zu ihren Aufgaben zählen Information, Vernetzung und Koordination. Dem wiederum liegen die Bedarfserhebung und Analyse zugrunde, was die Gemeinden konkret brauchen und was sich dabei an bereits Vorhandenem integrieren lässt. So gab und gibt es viele Gespräche mit Gemeindeverantwortlichen, Vereinen, Initiativen, Ehrenamtlichen, dem Seniorenbund, ansässigen Ärzt*innen und anderen Stakeholder*innen. Bei Auftaktveranstaltungen hat sich herauskristallisiert, welchen Informationsbedarf die Gemeindebürger*innen haben. Diese Ergebnisse sind die Basis für unsere Fachinformationsangebote.
Welche Themen haben die Menschen bei den Auftaktveranstaltungen besonders interessiert und was hat sich bis jetzt daraus ergeben?
Von Beginn an ist Demenz ein Riesenthema, vor allem für pflegende Angehörige. Für diese haben wir im Zuge des Community-Nurse-Projekts ein Demenzcafé organisiert, wo sie ihre Fragen stellen und sich miteinander austauschen können. Und wir haben die Gruppe „Fit im Kopf“ für Gedächtnistraining aufgebaut. Community Nurses fungieren auch oft als Schnittstelle beziehungsweise Initiator*innen, indem sie „ihre Gemeinden“ animieren, an im Bundesland bereits vorhandenen empfehlenswerten Projekten teilzunehmen. Etwa zu Bewegung, einem weiteren unerlässlichen Gesundheitsfaktor. In diesem Sinne haben wir uns mit dem Programm „Gesunde Gemeinde“ der niederösterreichischen Initiative „Tut gut“ vernetzt und sind außerdem Projektpartner des Programms „Bewegt im Park“ geworden, das wir nun in einer unserer Projektgemeinden umsetzen. Es gibt auch bereits eine aktive Nordic-Walking-Gruppe. Des Weiteren besteht sehr viel Interesse an den Themen Patient*innenverfügung und Vorsorgevollmacht. Dazu haben wir schon im ersten Halbjahr Informationsveranstaltungen durchgeführt, die außerordentlich gut besucht waren. Daran merkt man wirklich, welche Themen den Menschen unter den Nägeln brennen.
Wie sieht der Berufsalltag der Community Nurses aus?
Der Stützpunkt unserer vier Community Nurses ist hier im Pflegehaus St. Louise in Maria Anzbach, sie sind aber auch sehr viel mobil unterwegs. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, dass wir ihre jeweiligen Stärken und Kompetenzen nicht auf die Orte aufsplitten, sondern sie allen drei Gemeinden gesamtheitlich zugutekommen lassen. Im Team sind zum Beispiel Pflegepersonen, die aus dem Akutbereich kommen, eine andere hat ein Masterstudium in Advanced Nursing Practice absolviert, sprich einen wissenschaftlichen Hintergrund. Dieser Mix an Zugängen und Erfahrungen ergibt wertvolle Synergien, von denen alle Klient*innen profitieren sollen. Darüber hinaus setzt jede Nurse eigene Schwerpunkte – ob Pressearbeit, Gesundheit und Bewegung oder das Organisieren von Veranstaltungen. Das gemeinsame Büro begünstigt den Austausch, etwa für Fallbesprechungen oder zum Abstimmen von Einsätzen. So ist der Informationsfluss immer gewährleistet, nicht zuletzt in Hinblick auf Urlaube oder Krankenstände.
Als Projektleiterin habe ich das Strategische und die Koordination im Blick – sozusagen die Außensicht. Die Community Nurses haben regelmäßig Meetings und Jours fixes mit mir, bei denen wir uns gemeinsam anschauen, wo wir im Projektplan stehen. Was klappt gut, wo sind wir auf dem richtigen Weg und wo müssen wir noch etwas ändern oder etwas anderes versuchen? Welche Themen sind vordringlich, wie sollen wir die Prioritäten setzen? Die regelmäßige Evaluierung ist wichtig für die Treffsicherheit des Projekts. Abgesehen von ihrer beruflichen Qualifikation als diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen müssen die Community Nurses flexibel, kreativ, selbstständig und kommunikativ sein sowie vernetzt denken können. Das gehört quasi zu ihrem Jobprofil, denn bei so einem Pionierprojekt kann man nicht alles vorhersehen. Manchmal muss man auch wieder einen Schritt zurücknehmen.
"Inzwischen werden die Community Nurses immer öfter erkannt und ihre Gesichter haben sich in den Köpfe der Bevölkerung verankert."
Wo war das zum Beispiel der Fall?
Zum Beispiel sind die wöchentlichen Sprechstunden der Community Nurses anfangs eher schleppend angenommen worden. Das hat uns gezeigt, dass wir die Steigerung des Bekanntheitsgrads des Projekts auf jeden Fall vor dem Ausbau der Sprechstunden in Angriff nehmen müssen. Zu diesem Zeitpunkt war es noch zu früh, die Leute einfach nur aufzufordern, zu uns zu kommen. Wir beschlossen deshalb, sie zuerst aufzusuchen. Wir haben eine Weihnachtsinitiative gestartet, mit einer schön gestalteten Weihnachtskarte, Schokolade und Vorstellungsbesuchen. Wir sind auf Bauernmärkten und Weihnachtsmärkten gestanden. All das haben wir zugleich für Beiträge mit Fotos und Logo in regionalen Printmedien genutzt. Das hat wunderbar funktioniert, inzwischen werden die Community Nurses immer öfter erkannt und ihre Gesichter haben sich in den Köpfen der Bevölkerung verankert. Ein weiteres Erkennungsmerkmal sind ihre T-Shirts und Jacken in den Farben des Projektlogos.
Was ist das Neue beziehungsweise Innovative an dem Projekt?
Das Neue ist zum einen die Brückenfunktion zwischen Gesundheits- und Sozialwesen. Bisher hat sich niemand im Gesundheitssystem so systematisch damit beschäftigt, wie die Lebensumstände in einer Region genau aussehen. Community Nurses finden ganz unterschiedliche Ausgangslagen vor, nach denen sie die zu setzenden Maßnahmen ausrichten. Dafür ist unser Projekt mit den drei Gemeinden ein Paradebeispiel. In der einen gibt es beispielsweise eine ziemlich gute Infrastruktur, in der anderen fehlt fast alles, von nahen Einkaufsmöglichkeiten über das Gasthaus bis zur Bank und der Tankstelle.
Innovativ ist außerdem die Betonung der Gesundheitskompetenz und der strategische Zugang dazu. Gesundheitskompetenz ist ja nicht etwas, was man den Leuten aufoktroyieren kann, indem man ihnen sagt, bewegt euch und ernährt euch besser. Die Community Nurses ermitteln, was die Menschen individuell brauchen, schaffen darauf abgestimmte Angebote und Anreize, bieten Informationen und Unterstützung. So kann die Saat mit der Zeit aufgehen. Und nicht zuletzt hat Gesundheit Berührungspunkte mit sozialen Themen wie etwa Einsamkeit. Gerade bei der älteren Bevölkerung über 75 Jahren, die im Mittelpunkt dieses EU-Projekts steht, ist das gar nicht so selten. Unser Ziel ist eine Steigerung ihrer Gesundheit und Lebensqualität. Wir möchten dazu beitragen, dass Senior*innen länger selbstständig in den eigenen vier Wänden leben können. Im Gegensatz zu Hauskrankenpflegenden kümmern sich Community Nurses um alle Gemeindebewohner*innen, nicht nur um jene, die erkrankt sind. Prävention und die Stärkung der Selbsthilfefähigkeiten werden ganz groß geschrieben.
"Präventive Hausbesuche für Menschen über 75 sind ein Schwerpunkt aller in diesem EU-Programm integrierten Community-Nurse-Projekte."
Welche Rolle spielen die präventiven Hausbesuche?
Präventive Hausbesuche für Menschen über 75 sind ein Schwerpunkt aller in diesem EU-Programm integrierten Community-Nurse-Projekte. Unsere Community Nurses haben bereits eine größere Anzahl davon durchgeführt. Dazu werden sie aus den unterschiedlichsten Gründen gerufen. Zum Beispiel von Familien, die Hilfe bei der Antragstellung auf Pflegegelderhöhung benötigen oder Informationen über die Aufnahme in ein Pflegeheim. Oft kontaktieren uns auch Angehörige von an Demenz erkrankten Menschen, die mit ihrem Latein am Ende sind und schlichtweg nicht mehr weiterwissen. Etwa aufgrund von Aggressionsschüben der Patient*innen. Eine Community Nurse kann Familien individuell zur Pflege und Betreuung beraten, aber auch feststellen, ab welchem Punkt eine medikamentöse Einstellung oder das Aufsuchen eines Spitals angezeigt ist. Sie kennt die ganze Bandbreite an Unterstützungsmöglichkeiten.
Ein maßgeblicher Projektpartner ist der Gesundheitspark des Krankenhauses Göttlicher Heiland in Wien. Wie sieht diese Kooperation aus?
Einerseits können unsere Community Nurses die Fort- und Weiterbildungsangebote des Krankenhauses Göttlicher Heiland nutzen, andererseits steht ihnen mit dem Gesundheitspark natürlich auch sehr viel medizinische, pflegerische und soziale Expertise zur Verfügung. Auf diese können sie im Bedarfsfall jederzeit zurückgreifen. Vernetzung ist ebenfalls ein zentraler Punkt in diesem Projekt. Community Nurses sind Problemlöser*innen, je größer die Bandbreite an Expert*innen ist, die sie im Sinne ihrer Klient*innen einbeziehen können, desto besser. Abgesehen vom Krankenhaus Göttlicher Heiland, das von vornherein Projektpartner ist, haben sie darum auch hier in der Region bereits sehr viel Vernetzungsarbeit geleistet. In Richtung Haus-, Gemeinde- und Wahlärzt*innen ebenso wie beispielsweise zu Neurolog*innen, Psychotherapeut*innen, der Polizei oder der Gewaltpräventionsstelle des Landes Niederösterreich.
In welchen Fällen zeigt sich der Benefit der Vernetzung besonders?
Für jede Problemlage – etwa ein Ernährungs- oder Vereinsamungsthema, einen Gewaltvorfall oder mit der Pflege überforderte Angehörige – gibt es Spezialist*innen. Manchmal bringt es viel, zum Beispiel Haus- oder Gemeindeärzt*innen kontaktieren und einbinden zu können. Umgekehrt würden wir gerne sehen, dass Ärzt*innen auf die Möglichkeit hinweisen, eine Community Nurse zu konsultieren, beispielsweise für eine Pflegeberatung. Vernetzung sorgt dafür, dass Menschen in ihren jeweiligen Lebenslagen immer genau die richtige Anlaufstelle finden, und zwar idealerweise ohne große Umwege. Solche Synergien sind Win-win-Situationen für alle Beteiligten, daher ist das auch ein Dreh- und Angelpunkt in unserem Projekt.
"Während der Corona-Pandemie ist das ehrenamtliche Engagement in den Gemeinden leider deutlich zurückgegangen."
Wie wichtig ist ehrenamtliches Engagement bei den Vernetzungsaktivitäten der Community Nurses?
Während der Corona-Pandemie ist das ehrenamtliche Engagement in den Gemeinden leider deutlich zurückgegangen. Darum sehen sich die Community Nurses nach entsprechendem Potenzial um. Ein ganz tolles lokales Projekt ist zum Beispiel „Zeitbank“. Hier tauschen Leute quasi nach dem Motto „Eine Hand wäscht die andere“ unentgeltlich Nachbarschaftshilfe aus. Also Zeit, in der sie etwas leisten, das der oder die andere selbst nicht kann. Beispielsweise Gartenarbeit, Besuchsdienste oder Fahrten zur Apotheke oder zu Ärzt*innen. Aber auch das Vereinsleben ist eher eingeschlafen, manche Vereine haben sich sogar aufgelöst. All das möchten die Community Nurses aufgreifen und wiederbeleben, weil es das Gemeindeleben um so vieles attaktiver und lebenswerter macht.
Wie sehen die Pläne für die nahe Zukunft aus?
Das zweite Halbjahr werden wir unter das Motto „Gesundheitvorsorge“ stellen. Einerseits beginnt mit dem Herbst die dunkle Jahreszeit, da bietet sich unter anderem das Thema mentale Gesundheit an. Der Lichtmangel wird ja oft mit depressiven Verstimmungen assoziiert. Und da der November sich international als Männergesundheitsmonat etabliert hat, docken wir auch hier mit einer speziellen Awareness-Kampagne für Männer an. Wir werden aber generell, also auch hinsichtlich anderer gesundheitlicher Bereiche, auf die Wichtigkeit von Vorsorgeuntersuchungen hinweisen. An den konkreten Vorträgen, Workshops und Aktionen tüfteln wir gerade.
Wie ist Ihre Zwischenbilanz als Projektleiterin? Sind Sie zufrieden mit der bisherigen Entwicklung?
Ich habe das große Glück, dass ich außerordentlich engagierte Community Nurses gefunden habe, die nicht nur fachlich superkompetent sind, sondern ihre Tätigkeit auch als Herzensangelegenheit betrachten. Sie lassen sich nicht entmutigen, wenn etwas nicht gleich so funktioniert, wie sie sich das vorgestellt haben. Dann sprechen sie offen darüber und überlegen sich andere Wege. Und zwar mit Erfolg, wie man am zunehmenden Zuspruch der Bevölkerung sieht. Kurzum: Ich bin sehr zufrieden.
Interview: Uschi Sorz; Fotos: Barmherzige Schwestern Pflege (BHSP), www.depositphotos.com
Gerlinde Göschelbauer, DGKP, MBA, MSC
Heim- und Pflegedienstleiterin im Haus St. Louise der Barmherzige Schwestern Pflege GmbH
Göschelbauer hat im Wiener Wilhelminenspital (heute Klinik Ottakring) eine Ausbildung zur diplomierten Gesundheits- und Krankenschwester absolviert, die Diplomierung erfolgte im Jahr 1986. 2009 machte sie den Master of Science für Pflegemanagement an der Donau Uni Krems, 2011 folgte der Master of Business Administration in Gesundheits- und Sozialmanagement. Seit 2005 ist Gerlinde Göschelbauer im Haus St. Louise der Barmherzige Schwestern Pflege GmbH beschäftigt, seit 2013 als Heim- und Pflegedienstleiterin.