„Durch die EU-Finanzierung hat sich ein Fenster aufgetan“
An der Schnittstelle von Gesundheits-, Pflege- und Sozialbereich übernimmt Community Nursing in Gemeinden zahlreiche Beratungs- und Präventionsaufgaben. Das für Österreich völlig neue und zukunftweisende Versorgungskonzept wurde im Regierungsprogramm 2020 bis 2024 verankert. Auf Basis entsprechender EU-Fördermittel hat das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) schließlich 123 Pilotprojekte bewilligt. Wie geht es nun mit der Umsetzung voran?
„Die Anzahl der teilnehmenden Gemeinden hat uns selbst ein bisschen überrascht“, erinnert sich Elisabeth Rappold von der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), die den bundesweiten Implementierungsprozess der Community-Nurse-Pilotprojekte leitet. Für den niederschwelligen und zielgruppengerechten Zugang zum Gesundheits- und Sozialsystem nach dem internationalen Vorbild der Community Nurses hatte sich die GÖG schon lange stark gemacht. Die Aufnahme dieses Konzepts in das heimische Regierungsprogramm brachte dann aber einen noch flächendeckenderen Anschub als gedacht: Nach Vorlegen eines Aufbau- und Resilienzplans bei der Europäischen Union, auf dessen Grundlage diese ihren Mitgliedstaaten Finanzhilfen gewährt, konnte Österreich den Community-Nurse-Projekten 54,2 Millionen Euro aus den EU-Fördertöpfen zur Verfügung stellen. „Damit hat sich ein Fenster aufgetan“, sagt Rappold. „Statt selbst nach ein paar geeigneten Pilotgemeinden zu suchen, wie wir es mit weniger üppigen nationalen Mitteln vermutlich getan hätten, konnten wir einen großen Fördercall starten.“ 2021 durften sich Städte, Gemeinden und Sozialhilfeträger aus ganz Österreich bewerben. 145 Anträge wurden eingereicht, 123 genehmigt. Mit Stand April 2023 befanden sich 110 davon in Umsetzung. Insgesamt umfassen sie etwa 171 Vollzeitäquivalente beziehungsweise 270 diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen.
Eine Mammutaufgabe für das Koordinationsteam der GÖG, aber auch eine große Chance. „Der Vorteil der jetzigen Projektstruktur ist, dass wir so viele unterschiedliche Modelle haben: Vom kleinen Fusch an der Glocknerstraße bis zum Großstadt-Grätzl sind alle Gemeindegrößen vertreten. Und es sind sowohl Kommunen involviert, die Pflegepersonen direkt als Community Nurses anstellen, als auch solche, die mit Trägerorganisationen oder Sozialhilfeverbänden kooperieren. Durch diese Vielfalt werden wir bis zum Ende der Laufzeit im Dezember 2024 sehr gut beobachten können, welche Maßnahmen und Konstellationen sich besonders bewähren und an welchen Stellschrauben wir in Zukunft noch drehen müssen“, unterstreicht Rappold.
Ebenso heterogen und damit aufschlussreich sei der Hintergrund der eingesetzten Community Nurses: „Grundsätzlich erforderlich ist ein Gesundheits- und Krankenpflegediplom plus Berufserfahrung, doch manche kommen aus einem Pflegeheimkontext, andere wieder aus der Hauskrankenpflege und einige haben ein Masterstudium in Advanced Practice Nursing und damit einen wissenschaftlichen Ansatz. Das ist eine große Bandbreite an Kompetenzen.“
"Die Erwartungen sind zu Recht hoch, aber ich plädiere auch für Gelassenheit und Lernbereitschaft", meint GÖG-Expertin Elisabeth Rappold.
Das Institute for Applied Research on Ageing (IARA) und der Studiengang Gesundheits- und Krankenpflege der Fachhochschule Kärnten evaluieren das EU-Projekt kontinuierlich. „So wollen wir herausfinden, welche intendierten und nichtintendierten Wirkungen es gibt, ob regionale Unterschiede bestehen oder in welchen Punkten wir unter Umständen in Sackgassen gelaufen sind.“ Angst vor Letzterem hat Rappold nicht: „Es liegt in der Natur von Pilotprojekten, dass man ihnen Zeit geben muss, sich zu entwickeln. Umwege haben immer auch wichtige Lerneffekte. Die Erwartungen sind zu Recht hoch, aber ich plädiere auch für Gelassenheit und Lernbereitschaft.“
Starke Netzwerke als Erfolgsfaktor
Nach der Vorbereitungs- und Aufbauphase haben die meisten Projekte zwischen Frühjahr und Herbst 2022 ihre Arbeit in den Gemeinden aufgenommen. Die Community Nurses fungieren an ihren Standorten als wohnortnahe Anlaufstelle für die Bevölkerung in sämtlichen Gesundheits- und Pflegefragen, führen präventive Hausbesuche durch und ergreifen Initiativen zur Gesundheitsförderung. Ihr Schwerpunkt liegt auf den Gemeindebewohner*innen über 75 Jahren, aber auch auf pflegenden Angehörigen. Ganz unabhängig davon, ob sich Erkrankungen manifestiert haben oder nicht, stehen die Community Nurses ihnen mit Rat und Tat zur Seite. „Als Pflegefachpersonen erkennen sie bereits Vorstadien von Gebrechlichkeit, die so genannte Prefrailty. Sie wissen, was dann zu tun ist oder auch wo sie bei Ernährung und Bewegung ansetzen können. Sie stärken die Gesundheitskompetenz der Menschen insgesamt, indem sie sie dort abholen, wo sie stehen.“ Erfreulicherweise berichten die Community Nurses bereits über spürbare Effekte der Hausbesuche und Konsultationen. Wobei Vernetzung für den Erfolg dieser Arbeit ein essenzieller Faktor ist.
„Es gehört zum Projektauftrag, dass sie Kontakt mit den örtlichen Gesundheitsdienstleister*innen, Ärzt*innen, aber auch Sozialplaner*innen und politisch Verantwortlichen suchen und gemeinsam die jeweilige Ist-Situation und die Möglichkeiten eines verbesserten Care-Managements diskutieren“, so Rappold. „Sie können selbst Angebote kreieren, aber auch an bestehende Initiativen wie etwa der ,Gesunden Gemeinde‘ oder Nachbarschaftshilfeprojekten andocken.“ Vernetzung bedeute aber auch, eine Basis für handfeste Lösungen bei festgestellten Defiziten zu schaffen. „Wenn jemand zum Beispiel schwer eine Apotheke aufsuchen kann, weil er oder sie kein Auto hat, versucht die Community Nurse, in der Region Helfer*innen zu finden.“ Solche Dinge gelängen den Community Nurses immer besser. „Sie kennen nun die örtliche Infrastruktur und sämtliche Player*innen und Betriebe, auf die sie bei Problemlösungen zurückgreifen können.“ Einige Projekte hätten zusätzlich Netzwerkpartner*innen bei kooperierenden Trägerorganisationen.
Darüber hinaus bemüht sich die GÖG, die Community Nurses untereinander zu vernetzen. „So unterstützen sie sich gegenseitig und lernen voneinander.“ Oft gehe dies Hand in Hand mit von der GÖG angebotenen Bildungsmaßnahmen. Etwa den monatlichen Webinaren zu Fachthemen wie Gemeindeassessments, Caring Communities oder Social Prescribing. „Zudem haben wir 14-tägig eine Onlinesprechstunde, bei der wir einerseits Projektfragen bearbeiten, aber auch nützliche Inhalte oder Angebote vorstellen, die in Österreich noch nicht so bekannt sind“, erzählt Rappold.
Unter dem Link https://cn-oesterreich.at/system/files/inline-files/CN_Ringvorlesung_Link.pdf ist außerdem eine Ringvorlesung für Pflegepersonen verfügbar, die heuer unter dem Motto „Reife und Verletzlichkeit im hohen Alter“ steht. „Hier werden aus interdisziplinärer Perspektive alle diesbezüglichen Maßnahmen vorgestellt, die Community Nurses zur Erhöhung der Lebensqualität beitragen können.“ Zuletzt bot auch die Community-Nursing-Jahrestagung vom 5. Mai einen intensiven Austausch über die nationale Projektentwicklung.
Die Challenge: das neue Berufsbild bekannt machen
Als größte Herausforderung führen die meisten Einzelprojekte ihr Bekanntwerden an, berichtet Rappold. „Vielen Menschen ist der Begriff Community Nurse noch fremd, ihre Arbeit wird dadurch leicht mit der mobilen Hauskrankenpflege verwechselt.“ Nicht selten seien Community Nurses mit der Erwartungshaltung konfrontiert, die Knappheit an mobilen Diensten und die teilweise langen Wartezeiten darauf auszugleichen. Doch das Berufsbild der Community Nurses sei eben ein grundlegend anderes: Ihr Fokus liege auf der Gesundheitsförderung, Prävention, Vermittlung und Unterstützung. Daher seien sie derzeit auch stark mit entsprechender Aufklärung und dem Vorstellen ihrer lokalen Angebote beschäftigt. Letztendlich können sie natürlich auch bei der Vermittlung von mobilen Diensten helfen. „Als bestens vernetzte Fachpersonen kennen sie sich da ja meist viel besser aus als die Bevölkerung und finden vielleicht trotz der angespannten Lage ein Angebot. Es kann aber auch gut sein, dass sie merken, dass eigentlich etwas ganz anderes gebraucht wird“, konstatiert Rappold. „Mit der Zeit wird den Leuten der Wert dieses fachkundigen Blicks auf die Sachlage samt professioneller Lösungsstrategie und -vermittlung sicherlich klarer werden. Auch jetzt gibt es schon immer mehr positive Rückmeldungen.“
Neben dem Wahrnehmen der ersten Erfolge bedeute das neue Berufsbild selbst eine große Motivation für die Community Nurses. „Gesundheits- und Krankenpflegepersonen assoziiert man im Allgemeinen hauptsächlich mit Krankheit. Wir hören jetzt von vielen Community Nurses, wie sehr sie sich freuen, dass hier einmal der Gesundheitsaspekt ihres Berufs im Vordergrund steht.“
Text: Uschi Sorz; Fotos: Ettl, www.de.depositphotos.com
Elisabeth Rappold, DGKP, MMag., Dr.
Leitung der Abteilung Langzeitpflege der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG)
Rappold ist diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin und hat an der Universität Wien Soziologie und Pflegewissenschaft studiert. Sie leitet die Abteilung Langzeitpflege der GÖG, koordiniert dort alle pflegerelevanten Themen und arbeitet schwerpunktmäßig in den Bereichen Pflegereform, Personalbedarf (Health Workforce Planning inkl. Personalprognosen). Sie wirkt an Strategieprozessen und deren Umsetzung mit (Pflegereform, Demenzstrategie, Diabetesstrategie) sowie an Berufsbildentwicklung, Evaluierung und Entwicklung von Praxiswerkzeugen für Gesundheitsberufe (z. B. Arbeitshilfe Pflegedokumentation), insbesondere für Pflegeberufe. Darüber hinaus hält sie zahlreiche Vorträge und Lehrveranstaltungen zu diesen Themenbereichen. Ihre Forschungsinteressen sind Pflege, Gesundheitsberufe, Health Workforce Planning, Projektmanagement, Prozessbegleitung und -steuerung, Moderation, partizipative Prozesse sowie strategische Planung.