„Aus Zeitnot weggelassene Pflegetätigkeiten gefährden die Patient*innensicherheit“
Schon lange weist der Österreichische Gesundheits- und Krankenpflegeverband (ÖGKV) auf die Gefahr einer qualitativen Verschlechterung der Pflege durch Personalmangel und Zeitnot hin. Wie begründet diese Warnungen sind, untermauert nun die neue Studie „MissCare Austria“ der Karl Landsteiner Universität mit konkreten Zahlen. Über 1.000 Mitarbeiter*innen von heimischen Akutspitälern wurden dafür befragt. Über die Ursachen und Folgen des dahintersteckenden Phänomens „Missed Nursing Care“ sprach INGO mit ÖGKV-Präsidentin Elisabeth Potzmann.
Frau Potzmann, 55 bis 98 Prozent der an internationalen Studien teilnehmenden Pflegepersonen berichten, dass sie mindestens eine der für die Patient*innenversorgung notwendigen Interventionen wegen Unterbesetzung weglassen müssen. In österreichischen Akutspitälern sind es unter den von der Karl Landsteiner Universität Befragten 84 Prozent. Hat man diese fatale Tendenz hierzulande bislang zu wenig wahrgenommen?
Elisabeth Potzmann: Als Berufspolitikerin habe ich durchaus zuweilen das Gefühl, dass unsere Warnungen ein bisschen als „Jammern auf hohem Niveau“ abgetan werden. Denn selbstverständlich erleben Pflegende auch hierzulande in ihrer täglichen Arbeit die so genannte „Missed Nursing Care“, also das notgedrungene Weglassenmüssen essenzieller Pflegetätigkeiten aus Zeitmangel, und wir haben damit bekanntlich nie hinter dem Berg gehalten. Mit der Studie „MissCare Austria“ wird nun allerdings zum ersten Mal konkret aufgezeigt, was Personalmangel in Akutspitälern für die Patient*innenversorgung in unserem Land bedeutet und wie verbreitet „Missed Nursing Care“ bei uns tatsächlich ist. Die Zahlen objektivieren jetzt sozusagen unsere Erfahrungswerte.
Ist diese Konkretisierung das Wichtigste an der Studie?
Die Studie ist in mehrerlei Hinsicht wichtig. Zum einen unterbaut die Konkretisierung unsere dringende Forderung nach Maßnahmen, die eine adäquate Personalausstattung begünstigen würden. Die Studienergebnisse zeigen sogar einen im internationalen Vergleich sehr hohen Prozentsatz an „Missed Nursing Care“ für unser Land auf. Zum anderen macht die Studie deutlich, dass aufgrund des herrschenden Personalmangels nicht nur quantitative Mängel in der Pflege entstehen, sondern auch qualitative. Österreich hat, in Vollzeitäquivalenten gerechnet, eine der niedrigsten Zahlen an Pflegepersonen pro Krankenhausbett in Europa. Pflegende sind aber in unseren Krankenhäusern eine zentrale Ressource, sie übernehmen ein breites Spektrum an Tätigkeiten. Wenn sie diese nur unvollständig ausführen können, verstärkt dies einerseits das ursächliche Problem des Pflegekräftemangels, nämlich die schwer beeinträchtigte Arbeitszufriedenheit, und führt andererseits zu potenziellen Risiken für die Patient*innen.
"Österreich hat, in Vollzeitäquivalenten gerechnet, eine der niedrigsten Zahlen an Pflegepersonen pro Krankenhausbett in Europa."
Welche Tätigkeiten werden am häufigsten weggelassen?
Zuallererst wird natürlich die Kommunikation rationiert. Das klingt zunächst harmlos und manche denken vielleicht, na, dann wird eben nicht so viel geredet. In Wirklichkeit entstehen dadurch aber Informationslücken, die sehr wohl ernste Auswirkungen haben. Als erste Bezugspersonen der Patient*innen sind professionell Pflegende ja diejenigen, die Behandlungsabläufe direkt steuern und Komplikationsrisiken erkennen und reduzieren können. Dabei ist Gesprächsführung ein wichtiger Hebel: Aus den Informationen, die Pflegende bei den Patient*innen erheben, leiten sich adäquate Behandlungs- und Pflegemaßnahmen ab. Wenn solche Gespräche aus Zeitmangel nur noch verkürzt zwischen Tür und Angel stattfinden, fehlen dafür wichtige inhaltliche Grundlagen. Des Weiteren bedeutet das Sparen an Anleitung, Beratung und Aufklärung nichts anderes, als an der korrekten Umsetzung therapeutischer Anweisungen durch die Patient*innen sowie an deren Compliance zu sparen. Um mitzuwirken, müssen die Menschen nämlich verstehen, warum sie beispielsweise so und so lange nüchtern bleiben sollen oder diese und jene Medikation auf diese und jene Weise einnehmen müssen. Mit Kommunikationsreduktion geht außerdem weniger emotionale Unterstützung der Patient*innen einher, eine verminderte Überwachung von kognitiv Beeinträchtigten und ein unzureichendes Entlassungsmanagement. Aber auch die Mobilisierung, ein rasches Reagieren auf die Klingel, das rechtzeitige Verabreichen von Medikamenten oder das Messen von Vitalparametern wie Blutzucker oder Blutdruck bleiben öfters auf der Strecke.
Was macht das mit dem Pflegepersonal?
Pflegenden geht es naturgemäß schlecht, wenn sie nach der Arbeit nach Hause gehen in dem Wissen, dass sie ihre To-do-Liste trotz größter Anstrengungen nicht beziehungsweise nur unzureichend erfüllen konnten. Es fühlt sich an wie ein Im-Stich-Lassen der Patient*innen. Die Konsequenz ist, dass immer mehr von ihnen ausbrennen und den Beruf verlassen. Ein positiver Nebeneffekt der Studie ist übrigens, dass sie klar aufzeigt, dass „Missed Nursing Care“ nicht an den Pflegenden selber liegt. Viele Angehörige dieser von Haus aus altruistischen und intrinsisch stark motivierten Berufsgruppe sind leider geneigt, eher sich selbst als anderen den Schwarzen Peter zuzuschieben, wenn sie mit der Arbeit nicht fertig werden. Nun haben wir es aber schwarz auf weiß: Die Patient*innen nach State of the Art zu versorgen ist unter den herrschenden Rahmenbedingungen oft einfach nicht zu schaffen. „Missed Nursing Care“ ist ein Systemversagen.
Stichwort Patient*innensicherheit: Zu welchen gesundheitlichen Komplikationen kommt es am häufigsten durch „Missed Nursing Care“?
Laut der internationalen Pflegestudie „RN4Cast“ sind vonseiten der Pflege zwei Faktoren maßgeblich für Pflegequalität und damit einhergehend für die Patient*innensicherheit: Das eine ist die adäquate Anzahl an Pflegepersonen und das andere deren Ausbildungsniveau. Je besser Pflegende ausgebildet sind und je besser die Personalbesetzung auf der Station ist, umso besser verläuft der Versorgungsprozess. Umgekehrt kann es, wenn beide Parameter schlecht sind, sogar zu erhöhter Mortalität kommen. Auch hierzu gibt es internationale Studien, die das belegen.
Wir müssen aber gar nicht vom Schlimmsten ausgehen. Es gibt eine Reihe von „Missed Nursing Care“-Folgen, die zwar nicht lebensbedrohlich, aber trotzdem äußerst nachteilig für die Patient*innen sind. Zum Beispiel medizinische Komplikationen, längere Krankenhausaufenthalte und ein schwierigerer Genesungsprozess. Solche Dinge können durch die bereits angesprochenen Informationslücken entstehen oder auch dadurch, dass es bei unzureichend angeleiteten und unaufgeklärten Patient*innen häufiger zu Fehleinnahmen von Medikamenten oder falsch ausgeführten Therapieanweisungen kommt. Bei Spiegelmedikamenten zum Beispiel hängt die Wirksamkeit von einer zeitlich exakt getakteten Einnahme ab. Versteht ein Patient oder eine Patientin das nicht oder kann die Pflegeperson die Arznei nicht pünktlich ans Krankenbett bringen, kann das Mittel nicht seine volle Wirkung entfalten.
"Die Patient*innen nach State of the Art zu versorgen ist unter den herrschenden Rahmenbedingungen of einfach nicht zu schaffen."
Könnten mehr Arbeitskräfte das „Missed Nursing Care“-Problem lösen?
Die Hauptursache von „Missed Nursing Care“ sind der Fachkräftemangel und Arbeitsbedingungen, die es erschweren, dass genügend Nachwuchs nachkommt. In Österreich fehlen derzeit 7.800 Köpfe im System. Die Überlastung des Personals in den Spitälern ist enorm. Und zwar nicht erst seit Corona, auch wenn die Pandemie die Situation natürlich verschlimmert hat. Die Studie zeigt den bestehenden Personalmangel unter ausgebildeten Pflegepersonen im Akutbereich und dessen Folgen recht drastisch auf. Die Ergebnisse sind repräsentativ für das Pflegepersonal in heimischen Krankenhäusern. Daraus folgt: Natürlich benötigen wir dringendst mehr Arbeitskräfte. Was aber auch hervorgeht: Es braucht nicht einfach nur Köpfe, sondern qualifizierte Köpfe.
Aktuelle Deprofessionalisierungstendenzen wie beispielsweise die Pflegelehre, nur um mehr Menschen ins System zu bekommen, halte ich für ausgesprochen kurzsichtig. Qualität und Qualifikation hängen schließlich eng zusammen. Machen wir hier Abstriche, lösen wir nicht nur das Problem nicht, sondern schaffen ein weiteres. Wer würde bei den Mediziner*innen sagen, lasst uns die Ausbildung reduzieren, dann haben wir schneller mehr Leute? Auch bei den Lehrer*innen sehen Entscheidungsträger*innen ein, dass es ein hochwertiges, umfassendes Wissen braucht. Diesen Respekt würde ich mir gegenüber den Pflegeberufen auch wünschen. Aus Vorschlägen wie dem Ersatz des Medizinstudium-Aufnahmetests durch ein Pflegepraktikum spricht eine große Geringschätzung der Pflege. Die naiv anmutende Idee, quasi auf einen Schlag mehr Gerechtigkeit bei der Studierendenaufnahme plus eine Abmilderung des Pflegeproblems zu erreichen, zeigt, wie wenig Pflege verstanden ist.
"Aus Vorschlägen wie dem Ersatz des Medizinstudium-Aufnahmetests durch ein Plegepraktikum spricht eine große Geringschätzung der Pflege."
Inwiefern?
Zuallererst ist die Pflege ein qualifizierter Beruf und kein Durchlaufposten für angehende Medizinstudent*innen. Abgesehen davon spricht schon rein praktisch vieles dagegen: Praktikant*innen sind ja zunächst eine Belastung und keine Entlastung. Sie müssen angeleitet werden, brauchen viel Unterstützung. Damit würde das Medizinaufnahmetest-Problem an einen Berufsstand delegiert, der selbst enorm viele Probleme hat. Und vor allem: Wieso redet keiner mit der Pflege darüber? Der ÖGKV hatte noch keine einzige entsprechende Anfrage bekommen. Diese Diskussion findet über den Köpfen der Pflege statt.
Gibt es Elemente in der Pflegereform, die helfen, „Missed Nursing Care“ hintanzuhalten?
Die Pflegereform deckt das „Missed Nursing Care“-Problem nicht ab, weil die professionelle Pflege darin unterrepräsentiert ist. Mit Ausnahme des Pflegebonus sieht sie keine Maßnahme für den gehobenen Dienst vor. Die extra Urlaubswoche wurde zwar angekündigt, aber noch nicht umgesetzt. Im Prinzip konzentrierte sich diese eher kleine Reform vorwiegend auf andere Themen wie Pflegegeld, pflegende Angehörige, 24-Stunden-Betreuung und so weiter. Das ist alles gut und wichtig, aber es entlastet und stärkt die gehobene Pflege nicht. Um mehr qualifiziertes Personal zu bekommen, müsste man viel stärker an der Arbeitszufriedenheitsschraube drehen. Natürlich sehen wir schon einzelne Schritte wie Gehaltserhöhungen in manchen Regionen. Wie wir aber aus verschiedenen Studien wissen, begründen jene, die aus Unzufriedenheit den Beruf verlassen, dies so gut wie nie mit der falschen Berufswahl. Überwiegend sagen sie, dass die Pflege eigentlich ihr Idealberuf sei. Nur würden sie ihn bei diesen Rahmenbedingungen nicht ausüben können.
Auf die Agenda gehören daher unbedingt auch die Arbeitszeit und die Dienstplansicherheit. Es darf nicht sein, dass Ruhezeiten nicht eingehalten werden und Pflegende kurzfristig aus ihrer Freizeit zum Dienst gerufen werden. Hier ist auch die Managementebene gefragt, Maßnahmen zu ergreifen. À la longue muss man außerdem die Wochenstundenanzahl in der Pflege verringern. Hier wünschen wir uns eine Heruntersetzung der Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich nach dem Vorbild der Anpassungen in der Sozialwirtschaft. Des Weiteren muss der Personalschlüssel verbindlich definiert und nicht der subjektiven Einschätzung der einzelnen Häuser überlassen werden. Klar ist die Geldschraube zunächst ein schnell wirksamer Motivator, weil die Pflegenden dadurch das Gefühl bekommen, dass sich etwas tut. Das gibt auf jeden Fall Antrieb. Aber es darf eben nicht das Einzige sein. Sonst wird man „Missed Nursing Care“, das den Unzufriedenheitsfaktor ja steigert, nicht wegbringen.
Was geschieht, wenn der Personalmangel aufrecht bleibt?
Dann wird sich „Missed Nursing Care“ verschärfen. Darüber hinaus wird das geschehen, was wir jetzt bereits sehen: Man sperrt Betten. Die Frage ist nur: Wie lange kann das gutgehen? Was wird, wenn das Überhand nimmt? Hier plädiere ich unter allen Umständen für eine ehrliche Kommunikation, denn es wird noch viel zu sehr das Mäntelchen des Schweigens über solche Vorfälle gebreitet. Wenn vereinzelte Spitalsabteilungen aus purer Verzweiflung Gefährdungsmeldungen absetzen und an die Öffentlichkeit gehen, sehen wir häufig doppelte Botschaften. Einerseits werden der Missstand und dessen Folgen, nämlich die Bettensperren, offengelegt, andererseits wird fast im selben Atemzug betont, dass trotzdem jeder ein Bett bekommt, der eines braucht. Das ist ein Widerspruch. Und dieses Schönreden ist in zweierlei Hinsicht kontraproduktiv: Eine Bevölkerung, die die Konsequenzen des massiven Personalmangels zunehmend am eigenen Leib zu spüren bekommt, wird sich hinters Licht geführt fühlen. Und die Entscheidungsträger*innen wird man so ebenfalls schlechter erreichen, denn die können das dann so interpretieren, dass man sich eh irgendwie durchwursteln kann. Es entkräftet schlicht die Botschaft der vorhandenen Notlage. Man kann nicht sagen, wir haben nur die Hälfte der Kapazität und können die Qualität trotzdem aufrechterhalten. Nein! Wir können sie nicht aufrechterhalten. Ich bin sehr dafür, dass man das auch sagt. Das ist der Bevölkerung zumutbar, die hat ein Recht auf die Wahrheit. Die Politik wiederum sollte bei Wahlen danach beurteilt werden, was sie nachweislich und mit messbarem Effekt für die Gesundheitspflege tut.
Glauben Sie, dass die „MissCare Austria“-Studie etwas verändern wird in Bezug auf das Tempo der Politik beim Ergreifen von Maßnahmen?
Die Hoffnung habe ich schon. In den letzten zwei Jahren ist mir aber klargeworden, dass es sich hier um das Bohren ganz dicker Bretter handelt. Das geht nicht schnell. Man braucht den langen Atem. Aber solche Zahlen tragen dazu bei, dass Verantwortliche schwarz auf weiß sehen, dass man das nicht länger vor sich herschieben kann. Man sieht ja durchaus schon kleine Schritte, mehr Bemühen. Es braucht aber viel mehr – auf dieser kleinen Pflegereform darf man sich keinesfalls ausruhen.
Interview: Uschi Sorz; Fotoatelier Christian Schörg, depositphotos.com
Elisabeth Potzmann, Mag.
Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV)
Potzmann war bis zum Jahr 2000 im pflegerischen Akutbereich des Wiener Gesundheitsverbunds tätig und unterrichtet seit 2001 an der Gesundheits- und Krankenpflegeschule SMZ Süd der Stadt Wien, wo sie seit 2017 auch stellvertretende Direktorin ist. Nach einem berufsbegleitenden Studium der Pflegewissenschaft nahm sie 2009 zusätzlich die Lehrtätigkeit an der Fachhochschule Campus Wien auf. Im ÖGKV leitete sie ab 2016 die Bundesarbeitsgemeinschaft der Pflegepädagogik und entwickelte unter anderem die ÖGKV-Pflegefortbildungspunkte (PFP®) mit. Seit 2020 ist sie die Präsidentin des ÖGKV.