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Gesundheit
Österreich
21.11.2022

„Demenzkompetenz muss sich durch alle Bereiche eines Krankenhauses ziehen“

So lange wie nötig, aber so kurz wie möglich sollte ein stationärer Aufenthalt Demenzbetroffener sein. Für sie sind Ortswechsel und ein veränderter Tagesablauf besonders schwierig. Doch auch das Pflegepersonal steht vor großen Herausforderungen. Dass sich Akutspitäler angesichts der wachsenden Demenzzahlen verstärkt auf diese Patient*innengruppe einstellen müssen, ist ein Gebot der Stunde. Gertrude Adlmanseder, Pflegebereichsleiterin im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Ried, berichtet im Interview mit INGO, mit welcher Strategie sich ihr Haus „demenzfit“ gemacht hat. 

Frau Adlmanseder, wie viele demenzkranke Patient*innen befinden sich im normalen Krankenhausalltag durchschnittlich auf den Stationen Ihres Spitals?

Gertrude Adlmanseder: Obwohl Demenz eine häufig gestellte Diagnose ist, lässt sich das gar nicht so leicht sagen. Im Jahr haben wir es etwa mit 300 klaren, mit ICD-Code versehenen Demenzdiagnosen zu tun. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit. Symptome wie Orientierungsbeeinträchtigungen werden wesentlich öfter in unserer Pflegedatenbank registriert, sicher über 1200 Mal pro Jahr. In ein Akutspital kommen Menschen ja vorwiegend aus anderen Gründen, zum Beispiel wegen eines Oberschenkelhalsbruchs, einer Lungenentzündung oder einer unvermeidlichen Operation. Demenz ist dann oftmals eine Nebendiagnose, welche nicht angegeben worden ist. Manchmal bemerkt man sie auch erst, wenn Verhaltensauffälligkeiten auftreten. 

Gibt es Stationen, auf denen Menschen mit demenziellen Beeinträchtigungen besonders häufig unter den Patient*innen zu finden sind?

Im Prinzip sieht man diese auf allen Abteilungen, denn aufgrund des demografischen Wandels nimmt das Auftreten von Demenzen deutlich zu. Wir sind eine alternde Gesellschaft, und das Demenzrisiko steigt mit dem Alter an. Studien belegen, dass bei den über 90-Jährigen über 30 Prozent betroffen sind. Ältere Menschen kommen auch häufiger ins Spital. Tendenziell sieht man sicherlich mehr Betroffene auf Stationen, auf denen der Aufnahmegrund mit altersassoziierten Ereignissen einhergeht, etwa auf der Unfallchirurgie oder der Orthopädie in Zusammenhang mit Stürzen. Auch Neurologie und Interne sind Spitzenreiter. Nichtsdestotrotz ist es angesichts des starken Anstiegs Demenzbetroffener enorm wichtig, dass Spitäler eine umfassende Demenzkompetenz erwerben. Diese muss sich durch alle Bereiche eines Krankenhauses ziehen.

Das Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Ried hat die Notwendigkeit einer bereichsübergreifenden Demenzkompetenz früh erkannt, ist also gewissermaßen eine Vorreiterin. Wie kam das?

An Demenz erkrankte Patient*innen haben spezielle Bedürfnisse, die sie aber nicht immer gut ausdrücken können. Viele haben Schwierigkeiten, Anweisungen zu verstehen und zu befolgen. Die ungewohnte Umgebung, der veränderte Tagesablauf und die unbekannten Menschen um sie herum können sie verwirren und ängstigen. Manche vergessen auch, warum sie im Spital sind. Das kann zu schwierigen Situationen für sie selbst, aber auch die behandelnden und pflegenden Personen führen. Zudem haben Demenzbetroffene ein höheres Risiko, ein so genanntes Delir zu entwickeln. Das ist eine akut auftretende Bewusstseinsstörung mit unter anderem Desorientiertheit, Unruhe oder sogar Halluzinationen. 

Tatsächlich haben wir uns bereits 2015 die mit demenzkranken Patient*innen verbundene Problemlage auf Basis einer Mitarbeiter*innenbefragung genau angeschaut. In der Folge haben wir gemeinsam mit Expert*innen ein Demenzsensibilisierungskonzept für unser Haus erarbeitet, das 2018 unter meiner Leitung in die Umsetzung gegangen ist. Vereinfacht gesagt haben wir unsere Strukturen und Prozesse auf die Bedürfnisse und Voraussetzungen von Menschen mit Demenz besser abgestimmt. Das trägt Früchte: Mit Verhaltensauffälligkeiten sind wir seitdem deutlich weniger konfrontiert, und wir sehen jetzt mehr Kooperation vonseiten dieser Patient*innen mit der Betreuung und Pflege.

"Vereinfacht gesagt haben wir unsere Strukturen und Prozesse auf die Bedürfnisse und Voraussetzungen von Menschen mit Demenz besser abgestimmt."

Welche Maßnahmen hat Ihr Haus ergriffen? Wie kann man sich ein demenzsensibles Spital vorstellen?

Ein ganz wesentlicher Beitrag sind Fortbildung und Weiterqualifizierung, um unsere Kompetenzen zum richtigen Umgang mit dem Krankheitsbild Demenz weiter auszubauen. Von der zentralen Notaufnahme über die Chirurgie bis hin zur Augenabteilung haben wir auf allen Stationen MAS-Aktivtrainer*innen eingesetzt. Insgesamt haben bei uns bislang 60 Mitarbeiter*innen diese TÜV-zertifizierte modulare Ausbildung der MAS Alzheimerhilfe absolviert, deren Ziel es ist, Spitäler und andere Institutionen demenzfit zu machen. Wobei MAS für „Motivieren, Aktivieren, Stärken“ steht, das sind die wesentlichen Säulen dieses Programms. Unser Ziel ist es, Menschen gleich am Morgen mit Kurztrainings zu beschäftigen und aktiv durch den Tag zu begleiten. Weiters sind unsere MAS-Aktivtrainer*innen Multiplikator*innen. Sie vermitteln den Teams auf den Stationen ein vertieftes Wissen darüber und unterstützen sie bei den Herausforderungen, vor die sie Patient*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen stellen können. 

Einerseits geht es in einem demenzsensiblen Spital um ein verstärktes Bewusstsein aller im Haus Beschäftigten für die Bedürfnisse demenzkranker Menschen und um deren Berücksichtigung, andererseits aber auch um geeignete Umgebungsfaktoren und Rahmenbedingungen. Wir lassen diese Patient*innen zum Beispiel Orientierungsbilder auswählen, die wir dann an ihrer Zimmertür, ihrem Kasten und ihrem Bett anbringen, damit sie diese leichter finden. Es gibt eindeutige Piktogramme, um Sanitär- und andere Räume zu erkennen. Wo immer es möglich ist, beziehen wir die Angehörigen mit ein. Bei diesen informieren wir uns schon bei der Aufnahme über die Ressourcen der Patient*innen sowie deren Gewohnheiten, Vorlieben, Abneigungen oder täglichen Rituale. All das nehmen wir in unsere Pflegeplanung auf. Dabei ist uns ein respektvoller Umgang mit den Betroffenen äußerst wichtig. Diese werden natürlich miteinbezogen, aber da gilt es eben die Balance zu wahren, um sie nicht zu überfordern. Beim Hausarzt oder in der Ambulanz erhält die Familie auch einen Wegweiser für die stationäre Aufnahme: eine Checkliste, in der benötigte Dinge aufgelistet sind und die gut verständliche Informationen über die Abläufe enthält. 

Intern haben wir ein Kennzeichnungssystem im Patient*innenakt, damit alle Mitarbeiter*innen, die mit dem oder der Betreffenden im Zuge des Aufenthalts zu tun haben, sofort adäquat reagieren können. Auch ehrenamtliche Helfer*innen und Hol- und Bringdienste schulen wir entsprechend. Bei der Entlassung geben wir der Familie eine so genannte Orientierungsmappe mit. Darin befinden sich alle relevanten Informationen aus dem Krankenhaus, aber auch Folder und Hinweise auf Unterstützungsmöglichkeiten. Diese Mappe muss immer aktuell gehalten und zu jedem Spitalsaufenthalt sowie zu Ärzt*innenbesuchen mitgenommen werden.

Ist so eine individualisierte Pflegeplanung nicht sehr zeitaufwändig für das Pflegepersonal?

Das kommt darauf an. Patient*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen sind ja von vornherein zeitintensiver als andere, ganz besonders wenn sie Orientierungsprobleme haben. Dass dies zu Schwierigkeiten führt, hat unsere Mitarbeiter*innenbefragung aus dem Jahr 2015 ganz klar ergeben. Aber es lohnt sich auf alle Fälle, diesen Patient*innen zusätzlich Aktivierung anzubieten und sich etwas intensiver um ihr Wohlbefinden zu bemühen. Insgesamt bekommen und verursachen solchermaßen gestärkte Patient*innen merklich weniger schwerwiegende Probleme. Wir verwenden unter anderem Übungsmaterialien der MAS Alzheimerhilfe und haben auf jeder Station eine so genannte „Beschäftigungsbox“ mit Spielen, Rätseln, Gedächtnisaufgaben und Ähnlichem. Zum Glück haben wir auch Ehrenamtliche, die dies mit den Patient*innen durchführen. 

Vieles lässt sich aber auch einfach in die tägliche Krankenhausroutine einbauen, ohne dass das zusätzliche zeitliche Ressourcen erfordert. Wenn ich beispielsweise die Körperpflege vornehme, kann ich gleichzeitig ein paar Gedächtnisübungen mit der Person machen und sie im Gespräch bewusst aktivieren. Das ist bei uns auf den Stationen mittlerweile ganz normal geworden. Es ist auch Standard, individuell auf die Menschen einzugehen. Zum Beispiel mit jemandem ein wenig spazieren zu gehen, wenn wir einen starken Bewegungsdrang bei ihm wahrnehmen. Manchmal sind es kleine Dinge, die eigentlich eher Aufmerksamkeit und Know-how erfordern als Zeit. In der Summe bewirken sie aber viel.

Wird es mittel- bis langfristig nicht trotzdem mehr Pflegepersonal brauchen, um die zunehmende Anzahl der Demenzpatient*innen in Akutspitälern aufzufangen?

Natürlich. Es ist gar keine Frage, diese Zeitressourcen müssen im Personalmanagement mitbudgetiert werden. Da brauchen wir auch Unterstützung vom Land. Demenz ist gesellschaftlich ein wachsendes Problem, also nützt – in die Zukunft gedacht – auch die beste Demenzstrategie nichts, wenn nicht genügend Leute dafür zur Verfügung stehen. Mehr Personal wäre auch jetzt schon notwendig.

"Mehr Personal wäre auch jetzt schon notwendig."

Was macht man, wenn Patient*innen nicht mehr die kognitiven Fähigkeiten haben, ihre Bedürfnisse zu artikulieren?

Dies tritt im späten Stadium der Demenzerkrankung auf, hier ist eine hohe Sensibilität der Pflegenden gefordert. In diesem Stadium können Berührungen helfen. Wir versuchen, durch Mimik und Gestik herauszufinden, was der oder die Betreffende wollen könnte. Es gibt auch eine Schmerzeinschätzung auf der Basis nonverbaler Kommunikation, das so genannte BESD. Das steht für „Pain Assessment in Advanced Dementia“. Anhand dieser Beobachtungsskala erfasst man Atmung, Lautäußerungen, den Gesichtausdruck, die Körpersprache und die Reaktion auf Tröstung. Dadurch lassen sich typische Muster erkennen und Rückschlüsse ziehen.

Was kann Pflegenden die Arbeit mit dieser Patient*innengruppe erleichtern?

Das beste Motto ist: Ein Mensch mit Demenz hat immer Recht. Es hat keinen Sinn zu widersprechen und herumzudebattieren, denn in seiner oder ihrer Welt sind die Sachverhalte eben so, wie er oder sie es darstellt. Das ist seine oder ihre Wahrheit, die es zu respektieren gilt. Dieses Wissen entspannt. Im Spital ist außerdem kontinuierliche Weiterbildung in diese Richtung wichtig, denn je mehr das Personal über Demenzerkrankungen weiß und dazulernt, desto besser kann es damit umgehen. Wir haben regelmäßige Fallbesprechungen und Coachings eingeführt, bei denen sich auch Expert*innen von der MAS Alzheimerhilfe einbringen. Dieser Austausch ist sehr bereichernd, wir können viel davon in die tägliche Arbeit auf den Stationen mitnehmen. 

Was muss man im Umgang mit dementen Patient*innen besonders beachten?

Ganz essenziell wäre ein Abwägen im Vorfeld: Muss diese Person tatsächlich stationär aufgenommen werden? Ist es unumgänglich oder wäre auch eine tagesklinische Behandlung möglich? Welche Untersuchungen könnten im niedergelassenen Bereich durchgeführt werden? Denn auch wenn wir mit einem umfassenden Demenzkonzept vieles abfedern können: Es ist und bleibt außerordentlich schwierig für die Betroffenen, sich an Krankenhausprozesse anzupassen. Darum sollten sie zwar so lange wie nötig, aber so kurz wie möglich hier sein und auf gar keinen Fall, wenn es irgendwie zu vermeiden ist. Je länger ein Mensch mit Demenz im Spital ist, desto schlechter geht es ihm. Eine große Rolle spielen während des stationären Aufenthalts auch die Zu- und Angehörigen. Je öfter sie zu Besuch kommen können, desto besser ist es, denn sie sind diejenigen, die solchen Patient*innen am meisten Orientierung und Sicherheit vermitteln können. Wir fordern die Familien außerdem dazu auf, den Patient*innen neben Notwendigem wie Brille oder Hörgerät auch Vertrautes mitzugeben, etwa Bilder, Fotoalben, Gegenstände, die ihnen etwas bedeuten. Das kann ein wenig Halt geben. Darüber hinaus weisen wir auf den hohen Nutzen einer Patient*innenverfügung hin. Entscheidend dafür ist allerdings eine frühe Demenzdiagnose. Darum empfehlen wir in unklaren Fällen eine psychiatrische Abklärung. 

"Je länger ein Mensch mit Demenz im Spital ist, desto schlechter geht es ihm."

Reichen denn die Kapazitäten eines Spitals für den relativ hohen Kommunikationsbedarf gegenüber den Angehörigen aus? 

Das versuchen wir. Mit kommendem Jahr bieten wir wieder Demenzsprechstunden für Angehörige von Patient*innen an, die bei uns stationär in Behandlung sind. Hier informieren und beraten unsere Neuropsycholog*innen und diplomierte Pflegepersonen. Wir haben aber auch eine gute Kooperation mit der Demenzservicestelle Ried, auf die wir Familien für Beratung, Entlastungsangebote oder Beschäftigungsmöglichkeiten verweisen können. Unsere Netzwerke und Kooperationen wollen wir weiter ausbauen. Außerdem ist es Teil des Entlassungsmanagements, darauf zu achten, was Betroffene weiter brauchen. Benötigen sie Essen auf Rädern oder sonstige mobile Dienste? Wären Hausbesuche von Demenztrainer*innen, eine psychiatrische Abklärung oder externe Tagesbetreuung empfehlenswert? Gibt es eine Community Nurse in der Wohnumgebung der Betroffenen, die man hinzuziehen könnte? Solche Dinge besprechen wir mit den Angehörigen. Außerdem möchten wir sie für Prävention sensibilisieren.

Inwiefern?

In den „Gedächtnisecken“, die wir auf allen Stationen eingerichtet haben, können nicht nur Patient*innen, sondern auch Angehörige ihr Gedächtnis trainieren, etwa um Wartezeiten zu überbrücken. Die auf Gesunde zugeschnittenen Aufgaben sind dann eben etwas kniffliger. Wir finden, mit so etwas kann gar nicht früh genug begonnen werden. Außerdem bieten wir viele Info-Materialien. Verhindern lässt sich Demenz zwar nicht, aber Lebensstilfaktoren wie Gedächtnistraining, Ernährung und Bewegung können ihr Fortschreiten verzögern und ein besseres Leben damit ermöglichen. 

Plant das Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Ried weitere Schritte in puncto Demenzkompetenz?

Die Grundlagen, die wir geschaffen haben, haben sich ausgesprochen gut bewährt und sind bereits Routine in unserem Haus. Stillstand betrachten wir aber als Rückschritt und in diesem Sinne werden wir unsere Demenzkompetenz und -sensibilität weiter ausbauen. Getreu der Devise „Prävention vor Reaktion“ möchten wir als Nächstes einen Pflege-Konsiliardienst einrichten, um einem Delir vorzubeugen und die Teams auf den Stationen und Ambulanzen noch mehr zu unterstützen. Außerdem werden wir die schriftlichen Informationen, die wir im Spital aufliegen haben, laufend ergänzen und verbessern. Aber nicht nur Aufklärung, auch Bewusstseinsbildung ist uns ein Anliegen. Die Diagnose Demenz ist immer noch etwas, worüber man nicht spricht. Wir möchten dazu beitragen, sie zu entstigmatisieren. Niemand ist davor gefeit, an Demenz zu erkranken. Je besser das Umfeld informiert und sensibilisiert ist, desto integrierter können Demenzbetroffene in der Gesellschaft leben. 

Interview: Uschi Sorz; Fotos: Hirnschrott/BHSK Ried, depositphotos.com

Gertrude Adlmanseder, MSc

Pflegebereichsleiterin im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Ried

Adlmanseder ist DGKP und spezialisiert sich seit 1997 zusätzlich im Pflegemanagement. Von 2015 bis 2017 absolvierte sie die Weiterbildung für basales und mittleres Pflegemanagement gemäß § 64 GuKG und von 2017 bis 2018 den Universitätslehrgang Management im Gesundheitswesen, den sie mit einem Master abschloss. Sie ist Bereichsleiterin Neurologie, Neurologische Ambulanz und Dialyse im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Ried. Unter ihrer Leitung wurde dort ab 2018 ein Projekt zur Verbesserung des Umgangs mit an Demenz erkrankten Menschen umgesetzt. 

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