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Gesundheit
Österreich
22.12.2022

„Wenn man jetzt nichts tut, wird es zu spät sein“

Digitale Unterstützung kann auch in der Langzeitpflege hilfreich für alle Beteiligten sein, doch sie wird in diesem Bereich noch wenig genutzt. Dabei ist es angesichts der demografischen Entwicklung allerhöchste Zeit, dieses Thema aktiver anzugehen, sagt die Ökonomin Birgit Trukeschitz.

Sie beschäftigen sich mit digitalen Technologien für die Pflege und Betreuung älterer Menschen. Was machen Sie da? 

Birgit Trukeschitz: Unser Forschungsinstitut beschäftigt sich mit den sozioökonomischen Aspekten, die die Alterung der Gesellschaft mit sich bringt. Mit meinem Team arbeite ich daran, Techniker*innen, Pflegepersonen und ältere Menschen zusammenzubringen, um digitale Technologien für die stationäre und insbesondere die mobile Langzeitpflege bedarfsgerecht zu entwickeln. Unser zweiter Schwerpunkt liegt in der Prüfung von Praxistauglichkeit und Wirkungen der Technologien.

Worum geht es da konkret? 

Ein Beispiel ist „Care about Care“, ein europäisches Forschungsprojekt, in dem wir mit anderen Unternehmen und Pflegeorganisationen in drei Ländern kooperieren. Zum einen testen und evaluieren wir dabei eine Pflege-App als Informationsportal für Kund*innen von Pflegediensten. Wir wollen die Menschen, die Pflege beziehen, und ihre Angehörigen möglichst rasch, transparent und aktuell mit Informationen versorgen. Da geht es um das Leistungsangebot, aber auch um Fragen wie: Welche Berufsgruppe kommt, wann genau kommt sie, für wie lange? Das sind für die Betroffenen essenzielle Rahmenbedingungen. Zum anderen beschäftigen wir uns damit, wie sich Augmented- und Mixed-Reality-Technologien (AR/MR) für die Fernunterstützung in der Pflege einsetzen lassen. Das kann zum Beispiel eine MR-Brille oder eine AR-App am Diensthandy sein, über die die Betreuungs- oder Pflegekraft interaktiv mit erfahrenen Pflege-Expert*innen in einem Center kommunizieren und Beratung einholen kann. Die Betreuungspersonen und Pflegefachkräfte arbeiten vor Ort, im Haushalt der pflegebedürftigen Person, ja meist alleine.  

Also ist die Digitalisierung auch in der Langzeitpflege bereits angekommen? 

Das ist je nach Einsatzbereich unterschiedlich. Die Administration, wie zum Beispiel Einsatzplanung und Verrechnung, ist schon recht weit. Bei der Dokumentation kommen digitale Lösungen in der stationären Pflege zunehmend zur Anwendung, im mobilen Bereich wird noch oft auf Papier dokumentiert. Wichtig wären auch Sprachassistenzen, sozusagen pflegespezifische Alternativen zu Alexa – der Datenschutz ist hier besonders wichtig, weil es um vulnerable Personen geht. Bei der Sturzprophylaxe sind einige Lösungen verfügbar. In diesem Bereich geht es nun um die Finanzierbarkeit der Angebote. Insgesamt steckt die Digitalisierung in der Langzeitpflege noch in den Kinderschuhen, andere Sparten wie das Gesundheitssystem oder die Industrie sind da bereits viel weiter. 

"Insgesamt steckt die Digitalisierung in der Langzeitpflege noch in den Kinderschuhen, andere Sparten wie das Gesundheitssystem oder die Industrie sind da bereits viel weiter", sagt Birgit Trukeschitz.

Warum ist das so?

Das hat wohl auch mit dem grundsätzlichen Stellenwert der Langzeitpflege zu tun. Es scheint so, als möchten sich Menschen mit dem Thema möglichst lange nicht beschäftigen, und dazu kommt noch der Irrglaube „Pflegen kann eh jede*r“. Ein Beispiel: Als COVID-19-Impfungen anfangs noch schwer erhältlich waren, waren Heimhelferinnen nicht einmal priorisiert – das ist schon ein Ausdruck des geringen Stellenwerts, den man der Langzeitpflege und -betreuung zumisst. Leider ist auch die Datenlage zur Langzeitpflege allgemein in Österreich nicht gut, Verfügbarkeit und Qualität der Daten sind oft unzureichend. Nicht zuletzt sind andere Länder bei der Digitalisierung im öffentlichen Bereich insgesamt deutlich weiter als Österreich, vor allem die baltischen Staaten. Dort setzt man etwa schon heute auf die Blockchain-Technologie, das ist bei uns noch Zukunftsmusik.

Wir sind also sehr spät dran? 

Die demografische Entwicklung zeigt uns ganz klar: Wir müssen jetzt aktiv werden, denn die Entwicklung bedarfsgerechter digitaler Lösungen dauert eine Weile. Vernachlässigt wird oft auch, dass die Implementierung digitaler Technologien neue Strukturen und Verhaltensänderungen in Organisationen erfordert, die ebenfalls Zeit brauchen. Wenn man jetzt nicht in die Zukunft investiert, wird es zu spät sein.

Wie sehen die Mitarbeiter*innen in der Langzeitpflege den Einsatz von digitaler Technologie? 

Diese Menschen haben sich bewusst einen sozialen Beruf ausgesucht, keinen technischen. Betreuungs- und Pflegepersonen müssen daher die Sinnhaftigkeit digitaler Lösungen sehen, sie müssen spüren: Das hilft mir! Deshalb muss jede Lösung auch auf die Anforderungen und Bedürfnisse der Pflegenden zugeschnitten sein, um zu überzeugen. Gleichzeitig müssen die Organisationen die notwendige Technik, wie einen Laptop, Smartphones etc. zur Verfügung stellen – das ist heute oft noch nicht der Fall. Und sie müssen dafür sorgen, dass die Mitarbeiter*innen mit den digitalen Werkzeugen auch umgehen können.

Ist der vielzitierte Pflegeroboter für Sie eine wünschenswerte Zukunftsvision? 

Etwas drastisch zugespitzt: Es ist nicht auszuschließen, dass eine Person, die Pflege und Betreuung braucht, froh wäre, wenn ein Roboter unterstützt, statt dass sie auf jemanden warten muss, der sie auf die Toilette bringt. Auch in anderen Bereichen, wie der Unterhaltung oder der Assistenz, werden Roboterlösungen getestet. Aber es geht keineswegs nur um Roboter. Wir brauchen viele neue Lösungen für unterschiedliche Einsatzbereiche. Und wir müssen dranbleiben, sie ständig weiterentwickeln und verbessern, mit weiteren Features ergänzen, sie noch zuverlässiger machen. Wir können auch nicht ausschließen, dass völlig neue Formen digitaler Kommunikation alltäglich werden, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können – vielleicht kommt für bestimmte Anwendungsfälle eine unterstützende Person irgendwann als Hologramm, als dreidimensionales digitales Abbild ins Haus?

Interview: Josef Haslinger; Foto: www.depositphotos.com

www.careaboutcare.eu

www.wu.ac.at/altersoekonomie/ascot

 

Birgit Trukeschitz, Dr.

Forschungsinstitut für Altersökonomie der Wirtschaftsuniversität Wien

Trukeschitz ist Wissenschaftlerin am Forschungsinstitut für Altersökonomie der Wirtschaftsuniversität Wien. Die promovierte Volkswirtin leitet in nationalen und europäischen Forschungs- und Entwicklungsprojekten im Bereich „Digitalisierung und ältere Menschen“ die Evaluierung digitaler Technologien in der Langzeitpflege. Mit ihrem Team hat sie auch Erhebungsinstrumente zur Messung der Lebensqualität in der Langzeitpflege – die deutschsprachige Version von ASCOT (Adult Social Care Outcomes Toolkit) – entwickelt. Trukeschitz war Gastforscherin u. a. an der London School of Economics und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, so auch heuer im Oktober als „Researcher of the Month“ der WU Wien.

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