Unterstützung für Pflegepersonal dringend notwendig
Pflegefachpersonen sind durch die Pandemie in mehrfacher Hinsicht über die Maßen belastet. Die berufspolitischen Vertretungen der Pflege in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben darum im Februar ein gemeinsames Positionspapier mit Forderungen an die politischen Entscheidungsträger verfasst. Aus der Perspektive seiner langjährigen Erfahrung als Verantwortlicher in Unternehmen mit großem Pflegebereich nimmt Dr. Johann Stroblmair, einer der Geschäftsführer der TAU.Gruppe.Vöcklabruck, dazu Stellung.
Das aktuelle Positionspapier der deutschen, österreichischen und schweizerischen Pflegefachverbände formuliert unter dem Eindruck der Mehrbelastungen durch die Pandemie eine Reihe an Forderungen an die Politik, Kostenträger und Arbeitgeber der Pflegefachkräfte. Gibt es denn von dieser Seite zu wenig Bereitschaft, sie mit mehr als anerkennenden Worten und Danksagungen zu unterstützen?
Johann Stroblmair: So pauschal würde ich das nicht sagen, denn die Bereitschaft zur Unterstützung ist durchaus vorhanden. Dennoch gibt es im Pflegebereich Bruchstellen und Knackpunkte, und diese hat die Corona-Krise deutlich offengelegt. Insofern sind die Forderungen wichtig und richtig. Darüber hinaus zeichnet das Positionspapier ein genaues und eindringliches Bild der aktuellen Lage des Pflegepersonals. Vergessen sollte man dabei aber nicht, dass wir uns metaphorisch gesprochen gerade mitten im Orkan auf hoher See befinden. In einem solchen Moment ist es natürlich unmöglich, das Schiff neu zu streichen. Im Hier und Jetzt ist zunächst einmal Krisenmanagement gefragt. Doch sobald wir uns wieder in ruhigerem Fahrwasser befinden, wird die Umsetzung dieser Forderungen ganz wesentlich sein. Zum einen weil ein gut funktionierender Pflegebereich angesichts der demografischen Entwicklung einfach essenziell ist. Nicht zuletzt aber auch, um für künftige Krisensituationen besser gerüstet zu sein.
Eine zentrale Forderung ist die Stärkung der personellen Kapazitäten. Wie viel Aufstockung der Personalressourcen braucht es konkret? Und wie leicht oder schwer wäre diese überhaupt zu bewerkstelligen?
Es braucht eindeutig mehr Pflegekräfte, daran gibt es nichts zu rütteln. Es besteht hier jedoch ein großer Unterschied zwischen der Pflege in den Krankenhäusern und jener in den Altenheimen. Die Langzeitpflege in den Heimen ist noch prekärer aufgestellt als die Kurzzeitpflege in den Spitälern. Um die Personalressourcen in den Spitälern adäquat aufzustocken, schätze ich den Mehrbedarf auf einige Tausend Personen, für die Altenheime hingegen dürften es ungefähr Hunderttausend sein, also jedenfalls ungleich mehr.
"Erreichen wir man vernünftige Personalressourcen aber nur durch finanzielle Besserstellung."
Die Akademisierung der gehobenen Pflegeberufe ist zwar ein guter Schritt, die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass eine Lücke in der Basispflege entstehen wird. Um das zu verhindern, muss man verstärkt neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anziehen. Was Personalmangel bedeutet, konnte man ja gerade bei den ersten Wellen der Pandemie besonders gut sehen, als von den ohnehin schon zu wenigen Pflegekräften auch noch etliche durch Covid-Krankheitsfälle ausgefallen sind. Erreichen wird man vernünftige Personalressourcen aber nur durch finanzielle Besserstellung.
Finanzielle Besserstellung fordert auch das Positionspapier. Wie würde so eine materielle Anerkennung der hohen Belastungen dieses Berufs denn aussehen? Kann man sie überhaupt durchsetzen?
Ich glaube schon, dass das durchsetzbar sein wird, weil der Druck auf die Menschen in Pflegeberufen irgendwann so groß wird, dass zu viele von ihnen die Branche verlassen. Und dann ist wirklich Feuer am Dach. Die Pandemie hat diese Tendenz sicherlich noch verstärkt. Auch in meinem Berufsalltag kommt es vor, dass ich von Spitalsabteilungen höre, in denen ein wesentlicher Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kündigen will. Um Pflegeberufe gegenüber Tätigkeiten in der Industrie attraktiver zu machen, ist die materielle Besserstellung unabdingbar. Angesichts des hohen Personalbedarfs wird es dramatisch, wenn die Politik hier nicht konsequent handelt. In der Pandemie sowieso, aber auch sonst. Meines Erachtens bräuchten wir akut einen Stufenplan mit Geldförderungen wie in den Unternehmen und müssten in den nächsten drei bis fünf Jahren einige Milliarden Euro in den Pflegebereich fließen.
Im Positionspapier wird auch die Ausstattungsfrage angesprochen, denn zu Beginn der Corona-Krise waren Schutzausrüstungen und Masken ja knapp. Hat sich das mittlerweile etwas gebessert?
Ja, das hat sich deutlich gebessert. Allerdings hauptsächlich in der Quantität. Was die Qualität der Materialien betrifft, gibt es sicherlich noch Luft nach oben. Aufgrund der zentralen Beschaffung gehen Beanstandungen einen langen Weg von den Bezirkshauptmannschaften an das Land, von dort an die AGES und von dort wiederum an das Ministerium. In puncto Nachbesserungen dauert es daher leider ziemlich lange. Es bräuchte bessere Strukturen und schnellere Kommunikationswege, damit man rechtzeitig auf Kritik an der Produktqualität reagieren kann.
Pflegefachkräfte arbeiten unter einem hohen Leistungsdruck. Hinzu kommen laut Positionspapier nun auch die Unwägbarkeiten und Dynamik der Pandemieentwicklung sowie die hohe Sterblichkeit, die verkraftet werden muss. Wie kann man die psychischen Mehrbelastungen auffangen?
Einerseits braucht es ganz konkrete und niederschwellige Unterstützungsangebote wie etwa Coaching, psychologische Beratung, Supervision. Andererseits aber auch ein aktives Aufbrechen der Tabuisierung, die gerade in diesen Berufen mit derlei Maßnahmen verbunden ist. Von Pflegefachkräften erwartet man, dass sie immer stark sind, die Zähne zusammenbeißen, zupacken, nicht jammern. Dass sie durch die Härten ihres Berufs auch auf der menschlichen Ebene belastet sein können, wird kaum wahrgenommen. Selbst innerhalb der Institutionen und der Kollegenschaft wird das gern als Schwäche ausgelegt, es ist ein Stigma damit verbunden.
"Es sollte selbstverständlich werden, dass Pflegefachkräfte psychologische Unterstützung in Anspruch nehmen."
Das sollte man im Zuge verstärkter Angebote offensiv ansprechen und mehr Bewusstseinsbildung diesbezüglich machen. Professionelle psychologische Beratung kann schließlich auch eine Art Ventil sein, sie nimmt auf alle Fälle Druck heraus. Statt Dinge zu verdrängen, lernt man, sie zu verarbeiten und damit umzugehen, was grundsätzlich widerstandsfähiger macht. Es sollte also selbstverständlich werden, dass Pflegefachkräfte psychologische Unterstützung in Anspruch nehmen. Das stärkt nicht nur sie selbst, sondern kommt auch dem Betriebsklima und letztlich der Leistungsfähigkeit ganzer Abteilungen zugute.
Ist seit der Veröffentlichung des Papiers schon etwas geschehen beziehungsweise haben sich vielleicht manche Punkte etwas entspannt, etwa durch die Priorisierung von Pflegefachkräften bei der Covid-Impfung?
Ja, die Impfungen haben sehr vieles entspannt. Bei uns in Oberösterreich sind schon fast alle Pflegefachkräfte, die das wollten, geimpft.
Ein in der Gesellschaft umstrittener Punkt ist die Freiwilligkeit der Covid-Impfung für Pflegepersonal, die das Positionspapier mit dem Verweis auf informierte Entscheidungsfreiheit ebenfalls fordert. Aber haben Pflegefachkräfte nicht eine besondere Verantwortung gegenüber ihren Schützlingen, die ja zu den vulnerabelsten Personen in dieser Pandemie zählen?
Sehr viele lassen sich auch impfen, gerade aus dem Verantwortungsgefühl heraus. Bei uns in Oberösterreich sind das bislang etwa 65 Prozent. Außerdem zählt man in diesem Beruf selbst zur Hochrisikogruppe. Laut WHO sind zehn Prozent der an Covid-19 erkrankten Personen Angehörige der Gesundheitsberufe. Wenn sich einzelne Personen nicht impfen lassen wollen, liegt das daran, dass es diese Impfstoffe erst so kurz gibt. Das verunsichert. Das kann man nicht mit anderen in diesem Sektor notwendigen Impfungen wie beispielsweise jener gegen Hepatitis vergleichen, denn diese Stoffe sind schon viel länger getestet. Meiner Ansicht nach muss man daher in dieser Phase die Impffreiheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schützen und darf die Covid-Impfungen nicht verpflichtend machen.
Und wenn die Covid-Impfstoffe besser erprobt wären, sagen wir, bei der nächsten Pandemie?
Wenn die Impfungen erprobt sind, es genug klinische Langzeitstudien gibt und Covid-19 wieder wütet, kann man das andenken.
Inwieweit sind epidemiologische Themen wie Übertragungswege und Prävention in pflegerischen Ausbildungen derzeit eigentlich präsent? Das Positionspapier fordert, dass diese Inhalte aufgenommen werden. Das legt die Vermutung nahe, dass sie bislang vernachlässigt werden.
Epidemiologische Themen sind hier tatsächlich kaum präsent. Dies im Zuge einer Anlassgesetzgebung zu ändern, wäre sicherlich ratsam. Denn mehr Wissen darüber kommt einer schnelleren, besseren und umfassenderen Krisenbewältigung natürlich zugute. Zusätzlich finde ich es aber auch wichtig, in die Ausbildung psychosoziale Komponenten zu integrieren. Auch das hilft nämlich in Krisenzeiten. Wenn Pflegefachkräfte von vornherein gelernt haben: Wie gehe ich auf Menschen zu? Wie erkenne ich, dass jemand am Limit ist oder Angst hat? Und nicht zuletzt gehört die Fähigkeit zur Selbstreflexion trainiert. All das brauchen Pflegefachkräfte.
Das Positionspapier fordert außerdem bei pflegebezogenen Entscheidungsprozessen in den nationalen Gesundheitsministerien die Einbindung eines Chief Nursing Officers, also eines unabhängigen Experten oder einer unbhängigen Expertin aus der professionellen Pflege. Was halten Sie davon?
Ich halte das für absolut notwendig, im Prinzip sogar für unabdingbar. Diese Forderung unterschreibe ich aus ganzem Herzen! Man darf die Pflege, die ein so wesentlicher Faktor geworden ist, nicht ohne die Expertise der Pflegefachkräfte weiterentwickeln. Es ist ja auch so, dass beispielsweise die akademisierten Pflegefachkräfte heute Dinge machen, die früher Ärztinnen und Ärzte gemacht haben.
"Der Trend geht unaufhaltsam in Richtung Ärzteentlastung."
Der Trend geht unaufhaltsam in Richtung Ärzteentlastung. Es wäre unfair, die Pflegefachkräfte nicht einzubinden, wenn es um ihren Bereich geht. Ihre Sichtweise und ihre Erfahrungen sind ein wertvoller Input.
Und wenn es bei solchen Fragestellungen um die Planung und Vorbereitung künftiger Pandemien ginge: Welche Erfahrungswerte der Pflegefachkräfte aus der Corona-Krise könnte ein Chief Nursing Officer im Gesundheitsministerium einbringen, die helfen könnten, für derartige Notsituationen besser gerüstet zu sein?
Unter anderem könnten sie dazu beitragen, Pandemieregelungen in Spitälern und Altenheimen menschlicher zu gestalten, ohne die Sicherheit zu beeinträchtigen. In der aktuellen Krise hat man hier den Spagat zwischen Sicherheit, Hygiene und der Lebensqualität der zu Pflegenden nicht gut hinbekommen. Man versucht, die Menschen zu schützen, indem man sie extrem isoliert. Mithilfe der Pflegefachkräfte könnte man herausarbeiten, wie sich das Ganze so gestalten lässt, dass die Betroffenen nicht total vereinsamen, und zwar ohne sie zu gefährden. Denn sie leben den Alltag mit ihnen. Sie kennen die Abläufe samt unzähliger Kniffe und Details, hätten also auch entsprechende Tipps auf Lager, anhand derer sich Hygieneregeln finetunen lassen könnten. Ein weiterer bedeutsamer Aspekt ist, dass es für Bedienstete in Spitälern und Pflegeheimen einfach wichtig ist, gehört zu werden. Es wäre eine Form von Respekt, den man ihnen damit zollt. Derzeit werden Regelungen einfach über sie drübergestülpt und wenn sich das eine oder andere davon als nicht praktikabel erweist, denken sich viele: Warum fragen sie uns nicht?
Interview: Uschi Sorz; Fotos: Dr. Strolmair privat
Johann Stroblmair, Dr.
Geschäftsführer der TAU.Gruppe.Vöcklabruck
Stroblmair war ab 2002 Geschäftsführer des Diakoniewerks Oberösterreich, wo er seit 1990 beschäftigt war, und ist seit vielen Jahren in verantwortlichen Positionen im Bereich der Senioren- und Pflegearbeit tätig. Seit dem Frühjahr 2020 ist er einer der beiden Geschäftsführer der TAU.Gruppe.Vöcklabruck, der Holding der Franziskanerinnen Vöcklabruck GmbH.