„Bei Pflege-Sonderausbildungen besteht in Österreich noch viel Luft nach oben“
Der Bedarf an gut ausgebildeten Pflegekräften steigt ständig. Warum es hier auf einen ausgewogenen Skill-and-Grade-Mix ankommt und welche Rolle Sonderausbildungen dabei spielen, erklärt Markus Golla, Leiter des Instituts für Pflegewissenschaften an der IMC FH Krems, im Gespräch mit INGO.
Warum plädieren Pflege-Fachleute heute immer energischer für die Akademisierung und weiterführende Spezialisierung in der Pflege?
Markus Golla: Ganz einfach: Die Akademisierung ist ja eine Weiterentwicklung des Diploms. Doch während das Curriculum des Schuldiploms unveränderlich ist, haben Hochschulen die Möglichkeit, in ihren Curricula zeitnah auf die aktuellen Bedürfnisse der Praxis einzugehen und diese immer wieder entsprechend anzupassen. Durch Sonderausbildungen bekommen wir zudem Pflegepersonal mit maßgeschneiderten Fähigkeiten auf sehr hohem Niveau. Wir wissen aus Forschungsergebnissen, dass sich die Komplikationsrate bei den Patient*innen auf der Station mit der Zunahme von höher ausgebildetem Personal reduziert. Die Qualität der Pflege verbessert sich dadurch deutlich. Damit will ich den Wert des Schuldiploms keineswegs schmälern, ganz im Gegenteil, das ist eine sehr gute Ausbildung. Aber Masterstudien und Spezialisierungen sind insgesamt ein wichtiger Schritt zur Professionalisierung der Pflege. Was heute ganz klar gebraucht wird, ist ein ausgewogener Skill-and-Grade-Mix. Also nicht nur akademisierte Leute, aber doch zu einem guten Teil. Da Österreich in puncto Akademisierung zu den Schlusslichtern auf der Welt zählt, liegt es auf der Hand, diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Welche Forderungen gehen mit dem Engagement für zeitgemäße, bedarfsorientierte Berufsbilder in der Pflege noch einher?
In den allermeisten anderen Ländern sind Spezialisierungen auf Masterniveau – so genannte Advanced-Nursing-Ausbildungen – schon lange gang und gäbe. Und selbstredend sind die in solchen Studien erworbenen Fähigkeiten dort mit erweiterten Befugnissen verbunden, etwa um bestimmte Medizinprodukte zu verschreiben. Auch in Österreich beginnen diese Ausbildungen anzulaufen, aber bislang gibt es hierzulande keine gesetzliche Handhabe, um diese Mehrkompetenzen konkret in der Praxis anwenden zu können. Das ist ein Problem. Es bedeutet nämlich, dass wir diese Studierenden zwar auf hohem Niveau ausbilden, aber auf den Kompetenzschub, der damit einhergehen könnte beziehungsweise sollte, weitgehend verzichten. Das ist so, als würde ich mir einen Porsche kaufen, der alle Stückerl spielt, und dann zockle ich damit eher gemächlich dahin, weil ich seine tollen Features eh nirgends einsetzen darf. So ist es auch mit den Sonderausbildungen. Diese nur auf ein Masterlevel zu heben, ohne die Gesetze anzupassen, macht keinen Sinn. Und das Zweite ist: Die Absolvent*innen finden bis jetzt nur wenige kleine Projekte vor, in denen ihre Spezialisierungen zum Einsatz kommen können. Wir haben in Österreich einige Community-Nurse-Pilotprojekte, ein paar Cancer Nurses und eine Liver Care Nurse am Ordensklinikum in Linz, und das war es auch schon. Damit das Potenzial, das dieses Berufsbild mitbringt, im System greift, braucht es eine wesentlich breitere Ausrollung.
"Wünschenswert wären viel mehr Community Health Nurses nach internationalem Vorbild."
Welche Sonderausbildungen sind zurzeit besonders relevant bzw. zukunftsträchtig?
Die Advanced-Nursing-Ausbildungen sind zu Recht im Kommen. Sie bieten Fachkarrieremöglichkeiten, die uns bislang in Österreich noch ziemlich fehlen. Im Moment können Pflegende, die sich weiterentwickeln wollen, Lehrer*innen oder Führungskraft werden. Wir brauchen aber auch einen Ausbau der Kompetenzen in den Fachbereichen, in denen Pflegende tätig sind. Ein Beispiel wäre etwa in der Onkologie die Spezialisierung als Cancer Nurse. Viel Potenzial für Sonderausbildungen sehe ich auch im Rahmen der Palliativ- und Intensivpflege. Oder für Advanced Nursing Counseling in der professionellen Beratung. In anderen Ländern sehen wir zudem gerontologische Spezialisierungen in der gehobenen Pflege, das ist auf jeden Fall sehr zukunftsträchtig und könnte man sich folglich hierzulande abschauen. Wünschenswert wären darüber hinaus viel mehr Community Health Nurses nach internationalem Vorbild, die die Gesundheit der Menschen in den Gemeinden stärken, indem sie ihnen proaktiv und beratend als Präventionsspezialistinnen und gut mit dem Gesundheitssystem vernetzte Gesundheitsdrehscheibe zur Verfügung stehen.
Wie ist die Ausbildungssituation in Österreich für derartige Spezialisierungen?
Bis dato beschränkt sich diese leider noch auf ein paar Vorläufer. Außerdem haben wir den für Österreich typischen „Fleckerlteppich“, sprich das Angebot ist recht uneinheitlich. Natürlich hat die Freiheit der Hochschulen bei den Curricula Vorteile wie etwa die große Vielfalt, die damit einhergehen kann. Dafür sieht es bei der Übersicht und Vergleichbarkeit weniger gut aus. Außerdem sind erst ganz wenige der Advanced-Nursing-Ausbildungen hierzulande bolognakonform. Ich sehe also in der Bildungslandschaft für Pflegespezialisierungen noch sehr viel Luft nach oben. Nicht zuletzt, was die Finanzierung betrifft. An der Fachhochschule in Krems haben wir den einzigen Advanced-Nursing-Practice-Studiengang mit einer normalen Studiengebühr von rund 365 Euro pro Semester. Das liegt daran, dass das Land Niederösterreich diese Ausbildung fördert. Im Rest Österreichs sind das meist sehr teure, privat zu bezahlende Studienplätze, die die Studierenden insgesamt plus minus 10.000 Euro kosten.
"Erfüllende Berufswege müssen aber nicht zwangsläufig in der Führung liegen."
Welche guten Gründe gibt es für Pflegende, eine Sonderausbildung zu machen und sich zu spezialisieren?
In meinen Augen sollte immer nur eine Motivation den Ausschlag geben: Bin ich dort glücklich, wo ich arbeite, und möchte ich mich in diesem Feld weiterentwickeln? Wer in der Langzeitpflege glücklich ist, braucht keine Sonderausbildung, sondern professionalisiert sich eben in Fortbildungen weiter. Durch die permanenten Fortschritte in der Medizin bedeutet eine Tätigkeit in der Pflege ja grundsätzlich lebenslanges Lernen, es gilt sich laufend auf den neuesten Stand zu bringen. Erfüllende Berufswege müssen aber nicht zwangsläufig in der Führung liegen. Das ist sehr individuell, da sollte man sich auf keinen Fall irgendeinen Druck machen. Wenn man allerdings Spaß am Management und am selbstständigen Arbeiten hat und es der Persönlichkeit entspricht, können Führungspositionen oder eben auch Fachkarrieren in der Pflege sehr interessant sein.
Was bringt spezialisiertes Personal dem Gesundheitswesen?
Eine Entlastung des Gesundheitssystems plus erhöhter Lebensqualität für die Patient*innen und mehr Patient*innensicherheit. Es gibt sogar Studien, die eine Korrelation zwischen hohem Pflegeniveau und gesenktem Mortalitätsrisiko aufzeigen.
Interview: Uschi Sorz; Fotos: Schützenauer, www.depositphotos.com
Markus Golla, BScN, MScN, Prof. (FH)
Leiter des Instituts für Pflegewissenschaft der IMC FH Krems
Nach seinem Diplom als Gesundheits- und Krankenpfleger (DGKP) und Spitalstätigkeit im IMCU-Bereich hat Golla an der UMIT Wien Pflegewissenschaft mit Schwerpunkt Pädagogik studiert und anschließend an der UMIT Hall das Masterstudium Pflegewissenschaft mit Schwerpunkt Advanced Nursing Practice absolviert. Seit 2019 ist er Leiter des Instituts für Pflegewissenschaft der IMC FH Krems sowie des dort angesiedelten Studiengangs Gesundheits- und Krankenpflege. Außerdem ist er auf das Thema Pflege und Gesundheitswesen spezialisierter freiberuflicher Journalist und Gründer der Redaktion von „Pflege Professionell“, die über den Facultas Verlag die Magazine „Pflege Professionell“, „Pflegende Angehörige“ und „Lehren & Lernen im Gesundheitswesen“ herausbringt. Des Weiteren ist er Peer-Reviewer des hpsmedia-Magazins „Pflegewissenschaft“ und hat die fachliche/wissenschaftliche Leitung des „Business Circle Pflegemanagementforums“ und der „Neuropsychogeriatrie-Tagung“ inne.