"Die Politik verlässt sich bei der Pflege zu sehr auf die pflegenden Angehörigen"
Die Interessengemeinschaft (IG) pflegender Angehöriger kümmert sich um die Belange von nahezu einer Million Österreicher*innen, die ihnen Nahestehende zu Hause pflegen. Im Gespräch mit INGO erklärt IG-Präsidentin Birgit Meinhard-Schiebel, mit welchen Problemen sie kämpfen und warum sie oft Schwierigkeiten haben, sich Unterstützung zu holen.
Frau Meinhard-Schiebel, warum ist es wichtig, dass pflegende Angehörige eine Interessenvertretung im Rücken haben?
Birgit Meinhard-Schiebel: Pointiert gesagt sind pflegende Angehörige Österreichs größter Pflegedienst. Die Politik verlässt sich viel zu sehr darauf, dass eine große Zahl pflegebedürftiger Menschen innerhalb der Familie betreut wird, wohl nach dem Motto, das sei immer noch am günstigsten. Schließlich verrichten pflegende Angehörige ihre Arbeit kostenlos. Sie sind eine tragende Säule der Pflege, aber eine, die im Verborgenen wirkt. Niemand sieht sie, niemand hört sie. Darum wurde 2010 in der Folge einer Themenveranstaltung der AUVA die IG pflegender Angehöriger gegründet. Alle Teilnehmenden fanden, die Betroffenen brauchen eine Stimme gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik, die ihre Anliegen vertritt und ihre Bedürfnisse kommuniziert. Diese Aufgabe hat die IG übernommen.
Was sind die größten Herausforderungen für pflegende Angehörige?
Zum einen ist das der Informationsmangel. Viele Betroffene wissen nicht einmal, dass es Unterstützung gibt oder dass sie Pflegegeld beziehen könnten. Andere finden sich im Angebotsdschungel nicht zurecht. Für Hauskrankenpflege und mobile Dienste gelten unterschiedliche Voraussetzungen, es gibt verschiedenste Trägerorganisationen. Pflegende haben oft keine Ahnung, wo sie Informationen darüber herbekommen können, welche Möglichkeiten sie in ihrer spezifischen Situation konkret haben. Und vor jenen, die das herausgefunden haben, tun sich bürokratische Hürden auf. Was ist alles vor- und nachzuweisen? Anträge sind oft viel zu kompliziert. Wir brauchen einen einfacheren und schnelleren Zugang zu institutioneller Hilfe.
Zum anderen stehen pflegende Angehörige meist unter großer psychischer Belastung. Pflege kann sich über eine lange Zeit hinziehen und im Gegensatz zu einem normalen Job gibt es da oft keinen Feierabend, kein Wochenende, wo man einmal abschalten kann. Das gilt ganz besonders, wenn die zu pflegende Person an Demenz erkrankt ist. Da weiß man nie, was als Nächstes passiert. Sogar wenn es tatsächlich gelingt, sich einmal eine Auszeit oder einen Urlaub zu organisieren, reist die Sorge um die hilfsbedürftige Person immer mit. Das führt auf die Dauer zu Überforderung. Die größte Gruppe der pflegenden Angehörigen machen Frauen aus. Zusammen mit Berufstätigkeit, Kindern und dem eigenen Haushalt ist die Mehrfachbelastung für sie beträchtlich.
"Wir brauchen einen einfacheren und schnelleren Zugang zu institutioneller Hilfe."
Ist Demenz für einen großen Teil der pflegenden Angehörigen ein Thema?
Ja, absolut, das betrifft sehr, sehr viele. Und durch den demografischen Wandel und die Alterung der Bevölkerung nimmt das auch rasant zu. Es gibt einfach immer mehr Menschen mit irgendeiner Form von Demenz. Dabei geht es nicht immer allein um Alzheimer. Unterschiedliche Demenzerkrankungen erfordern aber unterschiedliche Unterstützungsleistungen für die Angehörigen. Bevor sich Menschen in den vorhandenen Gedächtnis- und Demenzambulanzen Hilfe holen, vergeht außerdem oft viel Zeit. Demenzerkrankte verweigern nicht selten jede Untersuchung. Sie wollen den Krankheitsprozess nicht wahrhaben und scheuen die Diagnose. Ohne diese gibt es aber keine Unterstützung. Erst mit einer Diagnose besteht Anspruch auf Pflegegeld und kommt das Rad ins Rollen.
Ist die Situation pflegender Angehöriger in der Stadt und am Land unterschiedlich?
Ja. In einer Großstadt wie Wien beispielsweise gibt es ein breites Netz an mobilen Diensten und anderen Betreuungsleistungen. Mittlerweile machen sich Institutionen auch mehr Gedanken, wie sie pflegende Angehörige unterstützen können. Das Case-&-Care-Management des Fonds Soziales Wien etwa kümmert sich nicht nur um die pflegebedürftigen Menschen, sondern bezieht dabei auch deren Angehörige mit ein. Im ländlichen Bereich ist es oft die Frage, inwieweit entsprechende Dienstleistungen überhaupt vorhanden sind und wie sie zu den Leuten kommen. Darüber hinaus ist es am Land stärker tabuisiert, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Unter Umständen muss der mobile Dienst um die Ecke parken, damit die Nachbar*innen ja nichts mitbekommen. Diese Scham hängt mit unserem traditionellen Verständnis von Familie zusammen. Hierzulande betrachtet man Pflege vorwiegend als Privatsache, die man nicht nach außen trägt. Dass das nicht zwangsläufig so sein muss, zeigt das Beispiel Dänemark. Dort haben die Menschen ein ganz anderes Selbstverständnis: Die Pflege ist Aufgabe der Kommunen und wird über Steuergeld finanziert. Das mögen zwar vordergründig hohe Ausgaben sein, kommt der Gesamtökonomie aber durchaus zugute: einerseits weil die Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt nicht durch private Pflegeverpflichtungen eingeschränkt ist, andererseits weil Pflegebedürftige auch mit entsprechender professioneller Unterstützung länger in den eigenen vier Wänden bleiben können. Letzteres kommt nicht nur den persönlichen Wünschen der meisten Menschen entgegen, sondern senkt auch die Kosten für Heimplätze, die ja besonders teuer sind.
Familiärer Pflege ist also nicht unbedingt der Vorzug gegenüber einer Fremdbetreuung zu geben?
Wie man an Dänemark sieht, nein. Aber die Strukturen müssen eben entsprechend ausgebaut sein, sodass sie gut funktionieren und es eine Bandbreite an Möglichkeiten gibt. Als IG vertreten wir die Ansicht, dass es einen Versorgungspfad geben müsste, wo all das zu finden ist, was man individuell gerade braucht. Nehmen wir etwa die 24-Stunden-Betreuung: Zu ihr gibt es noch keine Alternative. Dabei sind 24 Stunden gar nicht immer notwendig. Für viele wäre es eine viel bessere Unterstützung, wenn sie sagen könnten, diese Woche brauche ich so und so viele Stunden externe Hilfe und nächste Woche so und so viele. Diese Flexibilität fehlt. Die Angebote müssten sich wesentlich mehr an der Lebensrealität der Betroffenen orientieren. Man sollte aus verschiedenen Betreuungsformen wählen und diese auch kombinieren können.
Welche Rolle spielt das Entlassungsmanagement in den Krankenhäusern auf diesem Pfad?
Das Entlassungsmanagement müsste eine große Rolle spielen, funktioniert aber in Österreich leider nicht flächendeckend gut. Dabei wäre es eine ideale Andockstelle. Es kann gleich bei der Aufnahme der betreffenden Patient*innen die pflegenden Angehörigen erheben, um rechtzeitig zu klären, was nach der Entlassung in der häuslichen Pflege geschehen soll, und dabei dann optimalerweise konkret unterstützen. Doch selbst dort, wo Spitäler bereits entsprechende Initiativen gestartet haben, fehlt es an Kontinuität. Nachdem das Case-&-Care-Management den Bedarf erhoben und die Familie beraten hat, bricht der Kontakt normalerweise wieder ab und die pflegenden Angehörigen sind wieder auf sich allein gestellt. Pflegesituationen verändern sich aber ständig, oft sogar unglaublich schnell. Aus diesem Grund müsste man einen flexiblen Pfad entwickeln und den Betroffenen eine Verbindungsperson zur Seite stellen, die sie auf diesem Weg durchgehend begleitet.
"Das Entlassungsmanagement müsste eine große Rolle spielen, funktioniert aber in Österreich leider nicht flächendeckend gut."
Wie wichtig ist emotionale Unterstützung?
Pflegende Angehörige verlieren ihr eigenes seelisches und körperliches Wohl sehr leicht aus den Augen. Daher wären Angebote, die sich direkt an sie richten, ganz besonders wichtig. Hier haben wir in Österreich auch schon ein Pilotprojekt: eine vierwöchige stationäre Reha für pflegende Angehörige im Rehabilitationszentrum der Pensionsversicherung in Bad Schallerbach. Unter bestimmten Umständen können sie sogar die pflegebedürftige Person dorthin mitnehmen, denn es gibt die Möglichkeit, zu diesem Zweck die Ressourcen eines angeschlossenen Pflegeheims zu nutzen. Bei der Entwicklung dieses Projekts war die IG vor zwei Jahren eingebunden, es läuft jetzt, darauf sind wir stolz. Solche Initiativen sollte es viel mehr geben. Ein Vorbild könnte diesbezüglich auch die Angehörigenambulanz der Hamburger Asklepios-Klinik sein, in der ein Team aus Psycholog*innen, Ärzt*innen, Pflegekräften und Sozialarbeiter*innen die Lebensqualität der Angehörigen in den Fokus nimmt und diesen psychosoziale Unterstützung und Therapien zur Bewältigung von Stress und Überforderung bietet.
Wovon hängt es ab, was pflegende Angehörige individuell brauchen?
Pflegende Angehörige sind eine sehr heterogene Gruppe mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen. Würde man sie über einen Kamm scheren, würde sich keine*r angesprochen fühlen. Aus diesem Grund setzt sich die IG jedes Jahr ein Schwerpunktthema. Dabei gehen wir Punkt für Punkt auf die Bedürfnisse einer speziellen Gruppe ein, halten den Finger auf ihre spezifischen Probleme und machen Lösungsvorschläge, die wir unter anderem auf unserer Jahreskonferenz präsentieren. Dazu laden wir neben Expert*innen und Betroffenen auch immer Vertreter*innen der Politik und andere Stakeholder*innen ein. Zusätzlich richten wir bei allen sich bietenden Gelegenheiten, etwa bei Veranstaltungen, das Scheinwerferlicht auf das aktuelle Thema. 2022 waren das zum Beispiel die vergessenen pflegenden Angehörigen von Kindern mit einer chronischen Erkrankung oder Behinderung. Eine ihrer größten Sorgen ist, was nach ihrem Tod mit diesen geschieht. Wer wird sich um sie kümmern? Wo werden sie wohnen? Werden sie geeignete Beschäftigungsmöglichkeiten haben? Hier braucht es dringend mehr Rechtssicherheit.
Welches Schwerpunktthema hat sich die IG für 2023 gesetzt?
2023 werden wir die Auswirkungen von Long Covid auf die pflegenden Angehörigen in den Mittelpunkt stellen. Hier gibt es noch viele offene Fragen, obwohl diese Erkrankung bereits im internationalen Klassifikationssystem ICD abgebildet ist. Es gibt gar nicht so wenige Menschen, auch jüngere, die dadurch längere Zeit aus dem Arbeitsleben hinauskatapultiert werden. Wir vertreten die Ansicht, dass Long Covid unbedingt im Pflegegeldsystem verankert werden muss. Gleichzeitig ist es ein höchst unterschiedliches und unvorhersehbares Krankheitsbild mit über 200 möglichen Symptomen, die noch dazu oft wellenförmig auftreten. Pflegegeldbegutachter*innen brauchen Richtlinien, wie sie mit einer so vielschichtigen Krankheit umgehen sollen. Und die Herausforderungen für die pflegenden Angehörigen sind natürlich groß: erhöhter Pflegeaufwand, viele Unsicherheiten. Eine Covid-19-Infektion kann zum Beispiel Demenzerkrankungen verschlechtern, Schübe auslösen. All das werden wir bei unserer nächsten Jahreskonferenz am 18. April mit Expert*innen debattieren, auch ein Rechtsexperte wird dabei sein.
"Wir vertreten die Ansicht, dass Long Covid unbedingt im Pflegegeldsystem verankert werden muss."
Ein weiterer Fokus der IG sind die Interessen pflegender Kinder und Jugendlicher. Was macht deren Situation so schwierig und mit welcher Unterstützung können sie rechnen?
In Österreich gibt es mindestens 43.000 so genannte „Young Carers“, die eine ihnen nahestehende Person pflegen, entweder aufgrund von chronischer Krankheit oder Behinderung. Sie tragen eine Verantwortung, die ihrem Alter nicht angemessen ist, und haben jede erdenkliche Unterstützung verdient. Aber dazu muss die Gesellschaft erst einmal hinschauen. Auch diese Gruppe ist nämlich unsichtbar und oft sehr isoliert. Selbst wenn sie noch so überfordert sind, sprechen diese Kinder nicht oder kaum darüber, oft aus Angst, dass das ihrer Familie schaden könnte, oder weil sie nicht als „anders“ auffallen möchten. Es gibt durchaus Hilfsangebote und vor Kurzem wurde eine neue App des Sozialministeriums lanciert mit Kontaktadressen, Notfallnummern und Informationen. Zugleich mit derlei Maßnahmen muss man sich aber auch etwas dazu einfallen lassen, wie man überhaupt an die Young Carers herankommt. Hier ist es zum Beispiel sinnvoll, bei den pädagogischen Berufen anzusetzen. Die IG hat gemeinsam mit dem Jugendrotkreuz ein entsprechendes Arbeitsmodul für die Lehrer*innenaus- und -fortbildung entwickelt und bei der Rektor*innenkonferenz der Pädagogischen Hochschulen vorgestellt. Das wurde sehr gut angenommen. Es geht darum, Notlagen zu erkennen und diese adäquat ansprechen und die richtige Unterstützung vermitteln zu können.
Die IG gibt es jetzt seit gut zwölf Jahren. Wie sieht Ihre momentane Bilanz aus?
Mittlerweile sind wir gut vernetzt und werden gehört, etwa bei regelmäßigen Jour-fixes mit dem Sozialministerium. Wir haben viel Know-how auf Basis profunder Daten aufgebaut, folglich haben unsere Forderungen Hand und Fuß. Aktuell konnten wir erreichen, dass pflegende Angehörige ihren Anspruch auf finanzielle Unterstützung für Ersatzpflege bereits nach drei Tagen geltend machen können, wenn sie einmal ausfallen, und nicht wie zuvor ab sieben. Unsere Forderung, den Rechtsanspruch auf Pflegekarenz übereinstimmend mit der potenziell möglichen Zeit des Pflegekarenzgeldbezugs auf drei Monate auszuweiten, wird im ersten Quartal 2023 erfüllt. Bislang hatte man zwar drei Monate Anspruch auf das Geld, aber nur vier Wochen auf die Pflegezeit und musste sich dann erneut mit den Arbeitgeber*innen abstimmen. Zur kürzlichen Ausweitung der kostenlosen psychologischen Angehörigengespräche auf fünf Termine sagen wir allerdings: Wenn eine Pflegesituation viele Jahre dauert, ist das zu wenig. Das müsste flexibler sein.
Unsere Aktivitäten werden gefördert, das ermöglicht uns Medienkampagnen, Aktionstage und die Verteilung von Adresskarten, um die Betroffenen besser zu erreichen. Wir selbst – der Vorstand aus sieben Personen, ein wissenschaftlicher Beirat sowie die Regionalkoordinator*innen in den Bundesländern – arbeiten ehrenamtlich. Neben der Lobbyarbeit sind wir auch Anlaufstelle für Betroffene, beraten sie und stellen zusätzlich auf unserer Hompage https://www.ig-pflege.at/ so viel wie möglich Detailinformation bereit. Wir entwickeln auch Praktisches: im Vorjahr etwa eine Notfallkarte im Scheckkartenformat, auf der man für den Fall eines plötzlichen Ausfalls durch ein unvorhergesehenes Ereignis die Telefonnummer einer Vertrauensperson angeben kann. Diese ist außerordentlich begehrt, wir verschicken sie bereits zu Tausenden. Last not least haben wir in der Pandemie das moderierte Online-Café „Auszeit“ gegründet, wo pflegende Angehörige sich virtuell austauschen können. Das hat sich so bewährt, dass wir es beibehalten werden.
Was motiviert Sie persönlich, um sich in der IG zu engagieren?
Vor meiner Pensionierung war ich beruflich zehn Jahre beim Österreichischen Roten Kreuz für Strukturfragen zuständig. In dieser Zeit wurde ich durch den häufigen Kontakt mit Hauskrankenpflegepersonen mit der Problematik der pflegenden Angehörigen sehr vertraut. Ich selbst bin keine Betroffene. Ich glaube, der Blick von außen ist auch recht hilfreich. Ich möchte die Advokatin und Unterstützerin der pflegenden Angehörigen sein.
Was möchten Sie allen pflegenden Angehörigen mit auf den Weg geben?
Dass es klug, richtig und wichtig ist, sich beizeiten Unterstützung zu holen. Leider tun das die wenigsten, bevor sie nicht heillos überfordert sind. Darum geht es aber in Wirklichkeit: die eigenen Grenzen erkennen und Hilfe annehmen.
Interview: Uschi Sorz; Fotos: Katrin Schützenauer, www.depositphotos.com
Birgit Meinhard-Schiebel,
Präsidentin der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger
Meinhard-Schiebel war unter anderem neun Jahre lang als ehrenamtliche Referentin für Aus- und Fortbildungsfragen behinderter Menschen in der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation tätig, hat 18 Jahre lang mit arbeitssuchenden Frauen gearbeitet und fast zehn Jahre im Österreichischen Roten Kreuz den Bereich Soziale Dienste verantwortlich geführt. Seit 2010 ist sie Präsidentin der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger, die sich für die Anliegen von Menschen einsetzt, die Angehörige betreuen und pflegen.