„Wir dürfen das Potenzial der Pflegewiedereinsteiger*innen keinesfalls außer Acht lassen“
Die Covid-19-Pandemie hat es deutlich vor Augen geführt, doch eigentlich ist es schon lange bekannt: Die Zahl der Pflegenden hält nicht Schritt mit dem Bevölkerungswachstum. Warum es als Gegenstrategie zum wachsenden Fachkräftemangel in der Pflege neben adäquaten Ausbildungsmaßnahmen und gezielter Attraktivierung der Pflegeberufe auch dringend mehr Wiedereinsteiger*innenprogramme braucht, erklärt die strategische Leiterin der Ausbildungsplattform und Vorsitzende des Pflegemanagementteams der Vinzenz Gruppe Barbara Klemensich im Gespräch mit INGO.
Frau Klemensich, seit vielen Jahren schlagen Vertreter*innen der Gesundheits- und Pflegeberufe Alarm wegen des Personalnotstands in der Pflege. Wie ernst ist die Lage?
Barbara Klemensich: Jüngsten Hochrechnungen zufolge werden in Österreich bis zum Jahr 2030 rund 90.000 zusätzliche Pflegekräfte gebraucht. Die Bewerber*innenzahlen an den entsprechenden Ausbildungsstätten vermindern sich aber teilweise drastisch bei gleichzeitig sinkender Eignung der Anwärter*innen für die sehr herausfordernde Ausbildung. Das macht die Lage tatsächlich außerordentlich ernst, denn Personalmangel bringt das Gesundheitssystem an den Rand seiner Leistungsfähigkeit. Sehr deutlich haben wir das zum Beispiel bereits in der Covid-19-Pandemie erlebt, und es zeichnet sich ab, dass sich die Situation noch verschärfen wird.
Wie sieht es international aus?
Laut einem WHO-Bericht von 2020 macht professionelle Pflege mit rund 59 Prozent aller im Gesundheitsbereich Tätigen überall die größte Berufsgruppe im Gesundheitssektor aus. Weltweit gibt es 27,9 Millionen Pflegekräfte. In 78 Ländern erfüllen sie sogar als so genannte Advanced Practice Nurses einen erweiterten Aufgabenbereich und verbessern damit etwa in ländlichen Gebieten den Zugang zur primären Gesundheitsversorgung oder auch die Versorgung vulnerabler urbaner Bevölkerungsgruppen. Folglich hat es beträchtliche Auswirkungen, wenn dafür immer weniger Menschen zur Verfügung stehen. Im Jahr 2016 wurde der weltweite Mangel an Pflegepersonen auf 6,6 Millionen geschätzt. Jede zwölfte Pflegekraft arbeitet in einem anderen Land als dem, in dem sie geboren oder ausgebildet wurde. Die internationale Mobilität der Pflegekräfte nimmt zu. Vor allem Länder mit hohem Einkommen greifen zur Deckung des Bedarfs an Pflegenden übermäßig auf internationale Mobilität zurück.
Was sind die Ursachen dieser kritischen Situation?
Die eine Seite der Medaille sind die deutlich längere Lebenserwartung und der damit einhergehende steigende Pflegebedarf sowie die Pensionierungen der Babyboomer und die Abnahme des interfamiliären Pflegepotenzials. All das war schon lange vorhersehbar. Einen bedeutenden Einfluss auf die derzeitige Krise haben aber auch tradierte Einstellungen und fatale Entscheidungen. Bei ihren Bemühungen, mehr Menschen in die Pflege zu bringen, setzt die Politik viel zu oft rein auf die Anzahl der zusätzlichen Hände anstatt auf die Kompetenzen der Pflege, die die Gesellschaft wirklich braucht. So äußerte zum Beispiel vor Kurzem die Vorarlberger Soziallandesrätin in den „Vorarlberger Nachrichten“, dass sie es für eine große Chance halte, mehr Menschen mit sehr niedrigem Bildungsgrad für den Pflegebereich zu gewinnen. Derlei Deprofessionalisierungstendenzen sind aus meiner Sicht kontraproduktiv. Zum einen zeigen sie ein unrealistisches Bild der Pflege, weil sie suggerieren, dass diese keine anspruchsvolle Tätigkeit ist. Darüber hinaus reduzieren sie Pflegende auf einen simplen Kostenfaktor, anstatt sie als wesentlichen Teil des Gesundheitswesens zu sehen, in den es nachhaltig zu investieren gilt. Dabei haben wir es gerade erst erlebt: Die Pandemie hat die Welt Billionen gekostet, ganze Volkswirtschaften sind zusammengebrochen. Meiner Meinung nach sind gezielt eingesetzte Gesundheitsausgaben für neue Versorgungsstrukturen, die auf die Kompetenzen der Pflege zurückgreifen, als Investition in unsere gesellschaftliche Verantwortung zu sehen. Es hat Gründe, dass nur ein geringer Teil der Jugend heute damit liebäugelt, den interessanten, anspruchsvollen und vielseitige Möglichkeiten bietenden Pflegeberuf zu ergreifen. Diese sollte man nicht durch Unterschätzung der professionell Pflegenden befeuern, sondern die Pflegeexpertise sichtbar und den Nutzen für die Bevölkerung erlebbar machen. Vom Ziel, ausreichend Personen für Ausbildungen und Praxisbereiche zur Verfügung zu haben, scheinen wir nämlich trotz vieler gesetzter Maßnahmen noch weit entfernt.
"Auf jeden Fall gilt es Pflege- und Betreuungsberufe bekannt zu machen, ihr Image zu verbessern und ihre Attraktivität zu steigern."
Wie kann man das ändern?
Auf jeden Fall gilt es Pflege- und Betreuungsberufe bekannt zu machen, ihr Image zu verbessern und ihre Attraktivität zu steigern.
Welche Maßnahmen wurden bis dato gesetzt?
Im Rahmen der ersten und zweiten Pflegereform wurden in den letzten zwei Jahren insgesamt 38 Maßnahmen beschlossen. Diese umfassen insbesondere die finanzielle Besserstellung von Mitarbeiter*innen im Pflegebereich, Auszubildenden und pflegenden Angehörigen. Aber auch Veränderungen bei der theoretischen Ausbildung, den Kompetenzen der Assistenzberufe und bei der Zuwanderung sind vorgesehen. Der Einstieg ausländischer Arbeitskräfte soll erleichtert werden. Diese unterstützen seit jeher den österreichischen Pflegemarkt, laut Gesundheitsberuferegister kommt aktuell etwa jede*r zehnte Pflegende aus dem Ausland. Großteils sind die Angehörigen der Pflegeberufe mit nichtösterreichischer Staatsangehörigkeit aus angrenzenden Staaten, zum Beispiel 22 Prozent aus Deutschland oder 14 Prozent aus der Slowakei. Vier Prozent kommen von den Philippinen.
Wie wichtig ist die Rekrutierung ausländischer Pflegekräfte?
Die Anwerbung ausländischer Pflegekräfte über das bekannte Maß hinaus scheint notwendig. Hier braucht Österreich auf jeden Fall eine reflektierte Strategie und vereinfachte Integrationsprozesse. Sicher ist auch, dass es strenge ethische Recruitingmaßstäbe geben muss und dass die Kosten dafür hoch sind.
Welche Rolle spielt die Erweiterung der Ausbildungslandschaft?
Der Ausbau der Kapazitäten ist wichtig und richtig. Denn eine realistische Drop-out-Rate während der Ausbildung muss in den Berechnungen genauso Berücksichtigung finden wie die Integration von Innovationen wie etwa die Umsetzung des Community-Nursing-Modells oder auch Anpassungen im Sinne einer qualitativen Verbesserung der Versorgung. Zu den jährlich knapp 5000 Absolvent*innen ergibt sich laut Berechnungen je nach Jahr ein Mehrbedarf von 1800 bis 4300 Personen. Unumstritten ist, dass die Ausbildungslandschaft für Pflegeberufe Angebote für alle interessierten und geeigneten Menschen bieten muss.
Geht diesbezüglich in Österreich etwas weiter?
Die Ausbildungskapazitäten werden in ganz Österreich spät, aber doch erhöht. Wien zum Beispiel strebt in den nächsten Jahren eine Aufstockung um 1700 Plätze an. Die Kosten dafür liegen im Millionenbereich. In die Erstausbildung der Pflege wurde erheblich investiert. Davon noch unberücksichtigt geblieben ist die praktische Ausbildung. Die wachsende Zahl und berechtigten Ansprüche der Auszubildenden werden die Betriebe organisatorisch und ökonomisch massiv fordern. Daher ist es absolut notwendig, den Bildungsauftrag vom Versorgungsauftrag zu trennen und damit die notwendigen Zeitressourcen für die Ausbildung sicherzustellen. Ein gelungenes Praktikum ist ein entscheidender Faktor für den weiteren Verlauf der Ausbildung und der Berufslaufbahn.
"Leider müssen wir österreichweit zur Kenntnis nehmen, dass es nicht ausreichend viele Bewerber*innen für die Ausbildungsplätze gibt."
Was ist für ein erfolgsträchtiges Ausbildungskonzept die größte Herausforderung?
Leider müssen wir österreichweit zur Kenntnis nehmen, dass es nicht ausreichend viele Bewerber*innen für die Ausbildungsplätze gibt. Daher sind in den nächsten Jahren vermehrt Anstrengungen zu unternehmen, um Quereinsteiger*innen und Berufsumsteiger*innen für Pflegeberufe zu gewinnen. Laut Statistik wechseln 15 bis 20 Prozent aller Erwerbstätigen einmal in ihrem Arbeitsleben den Beruf.
Sind Ausbildungsoffensiven und die Gewinnung von Quereinsteiger*innen schon alles, was unternommen werden kann?
Nein. Auch die Rückkehr in den Pflegeberuf muss dringend forciert werden, denn das Potenzial der Wiedergewinnung ist groß, rasch zugänglich und im Vergleich zu anderen Initiativen von überschaubarem finanziellem Aufwand. Wir müssen die interessierten Menschen erreichen, von veränderten Rahmenbedingungen überzeugen und sie „job-ready“ machen.
Wie vielversprechend ist das?
2022 wurde in Deutschland eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie mit dem Titel „Ich pflege wieder, wenn ...“ präsentiert, die auf einer Bremer Pilotstudie aufbaut und auf einer Online-Befragung von rund 12.700 ausgestiegenen sowie in Teilzeit beschäftigten Pflegekräften basiert. Demnach stünden dort mindestens 300.000 Vollzeitpflegekräfte – in einem optimistischen Szenario sogar 660.000 – durch Rückkehr in den Beruf oder Aufstockung der Arbeitszeit zusätzlich zur Verfügung. Die Voraussetzung ist allerdings, dass sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege deutlich verbessern.
Als stärksten Motivator nannten die Befragten eine Personalausstattung, die sich am tatsächlichen Bedarf der pflegebedürftigen Menschen ausrichtet. Die Pflegekräfte wollen ihren verantwortungsvollen Beruf so ausüben können, wie es ihren fachlichen Vorstellungen und ihrer Ausbildung entspricht. Ebenso wünschen sie sich respektvolle Vorgesetzte, einen kollegialen Umgang mit allen Berufsgruppen, eine vereinfachte Dokumentation und eine bessere Vergütung von Fort- und Weiterbildungen. Unter diesen Bedingungen ist das Potenzial erstaunlich hoch: Die Hälfte der Teilzeitbeschäftigten und sogar 60 Prozent der Ausgestiegenen würden sich dadurch zu mehr Stunden beziehungsweise zum Wiedereinstieg bewegen lassen, wobei mehr als 80 Prozent der errechneten zusätzlichen Kräfte auf der Rückkehr der „Aussteiger*innen“ beruhen. Konkret ergab die Befragung, dass Teilzeitkräfte ihre Arbeitszeit im Mittel um zehn Wochenstunden aufstocken würden und ausgestiegene Pflegekräfte sich eine Rückkehr in den Pflegeberuf mit 30 Wochenstunden vorstellen könnten.
Welches Potenzial kann man daraus für Österreich ableiten?
Nach pragmatischer Schätzung etwa ein Zehntel. Deutschland hat zirka zehnmal so viele Einwohner*innen wie Österreich, das Durchschnittsalter der Bevölkerung ist vergleichbar, die Lebenserwartung und die Geburtenrate sind ungefähr gleich hoch. Das heißt, nach konservativer Schätzung könnten wir für Österreich von einem Potenzial von 30.000 bis 66.000 Pflegekräften ausgehen.
Bekräftigt wird diese Einschätzung von den Aufzeichnungen der Statistik Austria und der Anzahl der Registrierten im Berufsregister. Seit 2004 zeichnet die Statistik Austria die Absolvent*innenzahlen von DGKP-, Pflegefachassistenz- und Pflegeassistenzausbildungen auf. Daraus abgeleitet, kann österreichweit von zirka 4800 Absolvent*innen jährlich ausgegangen werden. Setzt man die gleichen Absolvent*innenzahlen für 40 Versicherungsjahre bis zum Pensionsantritt an, müssten 192.000 Menschen eine Pflegeausbildung absolviert haben und theoretisch dem System zur Verfügung stehen. 2021 waren 165.308 Pflegekräfte im Berufsregister registriert, was einer Differenz von 26.692 Personen entspricht.
"Die pflegerische Versorgung in unserem Land sicherzustellen ist eine der größten sozialpolitischen Herausforderungen dieser Zeit."
Was spricht für die Umsetzung eines Wiedereinsteiger*innenprogramms?
Die pflegerische Versorgung in unserem Land sicherzustellen ist eine der größten sozialpolitischen Herausforderungen dieser Zeit. Wir müssen die Pflegekräfte zeitnah gewinnen. So viele Menschen neu auszubilden, um den Bedarf zu decken, ist zumindest nicht schnell genug möglich. Daher dürfen wir das Potenzial der Wiedereinsteiger*innen keinesfalls außer Acht lassen. Die Ausbildungs- und Recruitungkosten können zudem durch Wiedereinsteiger*innenprogramme reduziert werden.
Hat es seitens der Vinzenz Gruppe schon solche Initiativen gegeben?
Ja. Unter dem Titel „Neue Chance für die Pflege“ hat das Vinzentinum Wien 2021 gemeinsam mit Kooperationspartner*innen und dem AMS Wien ein Wiedereinsteiger*innenprogramm durchgeführt. Ziel dieses zehnwöchigen Programms war es, ausgestiegene Pflegekräfte wieder anschlussfähig und sicher im Beruf zu machen. Eine absolvierte pflegerische Ausbildung, gute Deutschkenntnisse und hohe Motivation, in den Beruf zurückkehren zu wollen, waren Voraussetzung. Zu den wesentlichsten Programmpunkten zählten ein Update zu fachlichen und persönlichkeitsbildenden Kenntnissen und Fertigkeitentrainings im so genannten „Skill-Lab“. Auch dem Sammeln von Praxiserfahrung im Krankenhaus und in der Langzeitpflege wurde große Bedeutung beigemessen. Alle diese Maßnahmen halten wir für wichtige Voraussetzungen für ein angstfreies, nicht überforderndes Onboarding beim Wiedereinstieg.
Welche Erfahrungen haben Sie aus diesem Wiedereinsteiger*innenprogramm mitgenommen?
Wir haben mit einer kleinen Teilnehmer*innengruppe begonnen, denn arbeitswillige, arbeitslos gemeldete Pflegekräfte gibt es anders als kolportiert kaum. Die Rückmeldungen zum Programm waren hervorragend. Man kann sagen, dass es sich bewährt hat und bundesweit übernommen werden kann. Dazu braucht es Kampagnen, um ehemalige Pflegekräfte zu finden und wieder für den Beruf zu gewinnen. Ich sehe dieses Programm als geteilte Verantwortung zwischen dem Bund – für die Kosten und die Organisation der bundesweiten Kampagne – und den Ländern – für die Kosten und die Organisation des Wiedereinsteiger*innenprogramms – sowie den Trägern. Letztere sind für das Aufbereiten des Praxisumfelds und für das sensible Onboarding verantwortlich.
Eines ist klar: Es gibt für komplexe Fragestellungen keine einfachen Lösungen und daher auch kein Patentrezept. Entscheidend ist meiner Meinung nach, der Negativspirale aus problematischen Arbeitsbedingungen und daraus folgendem Rückzug aus der Pflege entgegenzuwirken und zur Stundenerhöhung und Rückkehr in den Beruf zu motivieren. Es braucht Mut und Perspektiven für eine wirksame Ausbildungsoffensive, eine effektive Pflegereform und ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen. Diese notwendigen Initiativen sind kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.
Interview: Uschi Sorz; Fotos: Digitales Handwerk, depositphotos.de
Barbara Klemensich, MBA
Strategische Leiterin der Ausbildungsplattform und Vorsitzende des Pflegemanagementteams der Vinzenz Gruppe
Klemensich hatte ab 1993 unterschiedliche Führungspositionen im Wiener Gesundheitsverbund inne, 2010 wechselte sie in die Vinzenz Gruppe. Sie war dort Pflegedirektorin im Orthopädischen Spital Speising und viele Jahre in der Lehre tätig. Seit 2020 ist sie Vorsitzende des Pflegemanagementteams und strategische Leiterin der Ausbildungsplattform der Vinzenz Gruppe.