Gemeinsame Lösungen für die Zukunft der Pflege entwickeln
Die demografische Entwicklung spricht eine deutliche Sprache: Auf immer mehr pflegebedürftige Menschen kommen immer weniger Pflege- und Betreuungskräfte. Dieser fundamentalen Herausforderung stellen sich die betroffenen Einrichtungen im Bezirk Ried nun gemeinsam.
Der Startschuss zu einer eigens zu diesem Zweck gegründeten Plattform fiel im Dezember bei einem runden Tisch, zu dem die Barmherzigen Schwestern Ried und der Sozialhilfeverband Ried die Partnerorganisationen Caritas, Hilfswerk, RIFA, Rotes Kreuz und Volkshilfe geladen hatten. Im Interview mit INGO berichtet Mag. Johann Minihuber, Geschäftsführer des Krankenhauses Barmherzige Schwestern Ried sowie der Barmherzige Schwestern Ried Errichtungs- und Vermietungs GmbH, wie man die großen Zukunftsthemen der Pflege in der Region anpacken wird.
Die Barmherzigen Schwestern Ried und der Sozialhilfeverband Ried haben eine Kooperationsplattform initiiert, die das Ziel hat, die künftige Versorgungssicherheit in der Region zu stärken. Was war die Motivation dahinter?
Minihuber: Die Motivation dahinter ist die demografische Doppelmühle, deren Auswirkungen wir bereits jetzt spüren und die sich wahrscheinlich noch verschärfen wird: Auf der einen Seite steigt mit der Alterung der Bevölkerung die Anzahl der pflegebedürftigen Menschen massiv an, auf der anderen Seite rücken nach der Pensionierung der so genannten Babyboomer-Generation immer weniger Berufseinsteiger*innen nach. Alle Branchen ringen um Mitarbeiter*innen. Für uns in der Gesundheitsversorgung bedeutet das, dass wir uns etwas einfallen lassen müssen, wenn wir unser Anliegen, die zu betreuenden Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, weiterhin angemessen erfüllen wollen. Wie können wir mit der gesellschaftlichen Entwicklung und den knapper werdenden Ressourcen konstruktiv umgehen, ungünstige Tendenzen abfedern? Die neue Plattform haben wir aus dem Gedanken heraus angeregt, dass es nichts bringt, die Ausgangslage nur zu beklagen. Wir brauchen ganz konkrete, handfeste Lösungen, und zwar zeitnah. Aus diesem Grund wollen wir uns nun mit allen Playern in der Region regelmäßig zuammensetzen: um genau diese Lösungen proaktiv und im Miteinander zu entwickeln.
Das Missverhältnis aus zunehmend knapper werdenden Ressourcen und immer mehr pflege- und betreuungsbedürftigen Menschen betrifft das gesamte Gesundheitssystem. Welchen Mehrwert hat es, Lösungen direkt aus der Region heraus zu entwickeln?
Es geht darum, das hier vorhandene Potenzial zu heben, und da sehe ich es als sinnvoll an, die lokalen Kräfte zu bündeln. Gemeinsam können wir den Bereich, für den wir selbst Verantwortung tragen, am besten gestalten. Und dort, wo uns das gut gelingt, können wir unsere Erfahrungen auch – nach dem Motto „think global, act local“ – an das Gesundheits- und Sozialsystem weitergeben. Erfolgreiche Lösungen, die in der Region entstehen, müssen nicht notwendigerweise ausschließlich in der Region bleiben.
"Erfolgreiche Lösungen, die in der Region entstehen, müssen nicht notwendigerweise ausschließlich in der Region bleiben."
Was sind die größten Herausforderungen im Bezirk Ried?
Diese ergeben sich eindeutig durch die fehlenden personellen Kapazitäten. In einigen Alten- und Pflegeheimen sind Betten oder sogar Bettentrakte wegen Personalmangel gesperrt. Das wirkt sich auch auf die Akutversorgung aus. Zum Beispiel können wir die angestrebte Verweildauer der Patient*innen im Spital nicht immer einhalten, weil sich für pflegebedürftige Menschen nach einem Eingriff nicht gleich ein Platz in der stationären Langzeitpflege oder einer mobilen Pflege findet. Damit sind auch dringend benötigte Akutbetten zu lange belegt. Es ist allerhöchste Zeit, integriert zu denken und Grundlagen dafür zu schaffen, dass die Einrichtungen trotz unterschiedlicher Zuständigkeiten besser zusammenwirken können. Etwa durch Abstimmungs-Boards und übergreifende Entscheidungs- und Organisationsprozesse. Die große Frage im Gesundheits- und Sozialsystem lautet auch nicht „Wo können wir noch mehr einsparen?“, sondern „Wo können wir die Ausgabensteigerungen eindämmen?“.
Stehen unterschiedliche Zuständigkeiten Optimierungsprozessen im Wege?
Meiner Ansicht nach sind der Gesundheits- und der Sozialsektor noch zu scharf voneinander getrennt. Auch für uns im Krankenhaus ist es wichtig zu wissen, wie es den Partner*innen im extramuralen Bereich geht und was sie aktuell beschäftigt. Wenn wir uns gegenseitig in unserer jeweiligen Situation besser wahrnehmen, öffnet das innovativen Ideen Tür und Tor und macht diese zugleich besser und schneller umsetzbar. Ich bin davon überzeugt, dass wir näher zusammenrücken müssen, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die Gesundheits- und Sozialeinrichtungen verbinden.
Wie könnten solche Lösungen aussehen?
Ganz oben auf der Agenda steht die Optimierung der Versorgungsprozesse. Diese haben organisatorische, aber auch technische Aspekte. Ich halte es beispielsweise für eine kluge Idee, Materialeinkauf und -lieferungen zu bündeln, etwa die Logistik von Verbrauchsmaterialien wie Wäsche oder andere Beschaffungsprozesse. Man könnte die gesamte Logistik effizienter gestalten, Serviceprozesse durch Synergien maximal ausnutzen. Warum sollte das Fahrzeug eines Logistikunternehmens nicht mehrere Partnereinrichtungen auf ein- und derselben Tour beliefern und zusätzlich auf dem Rückweg wieder andere Transportgüter mitnehmen? Es gibt so viele Dinge, die man gemeinsam denken kann, vom Facility-Management über die Kommunikation bis zur IT. Auch das Potenzial der Digitalisierung ist hier noch lange nicht ausgeschöpft. Und nicht zuletzt: Je effizienter solche Dinge ablaufen, desto mehr können sich Pflegemitarbeiter*innen ihren Kernaufgaben widmen, weil eine ausgeklügelte und abgestimmte Organisation weniger bürokratische Zusatzaufgaben bedeutet. Eine solche Entlastung attraktiviert auch den Beruf wieder mehr, der ja im Prinzip ein wunderschöner ist. In diesem Zusammenhang wäre die Steigerung der Wertschätzung für die Pflege als dritter Aspekt bei unseren gemeinsamen Anstrengungen zu nennen. Außerdem sollte man gegenüber der Bevölkerung deutlich sein, ihr die Fakten rund um den demografischen Wandel und seine Auswirkungen auf den Gesundheits- und Pflegesektor nicht vorenthalten.
"Eine solche Entlastung attraktiviert auch den Beruf wieder mehr, der ja im Prinzip ein wunderschöner ist."
Der Digitalisierung wurde auch beim ersten runden Tisch der Plattform-Partner*innen im Dezember ausführlich diskutiert. Wo bietet sie abgesehen von Abstimmungs- und Versorgungsprozessen noch weitere Chancen?
Ein gutes Beispiel für die Benefits der Digitalisierung ist das Awareness-Programm zu nosokomialen Infektionen – also Infektionen durch resistente Krankenhauskeime –, das wir im Krankenhaus Barmherzige Schwestern Ried implementiert haben. Es arbeitet mit künstlicher Intelligenz und kann in der Fülle aller Patient*innendaten wie Befunde, Blutwerte und dergleichen sofort Auffälligkeiten aufspüren und unseren Infektiolog*innen gezielt Warnhinweise geben. Manuell wäre das eine Mammutaufgabe, sprich in dieser Effizienz und Schnelligkeit unmöglich. Und warum sollten nicht auch die mobile und die stationäre Pflege von solchen Vorteilen profitieren?
Ein Instrument, das man dafür nutzen könnte, ist die durchgängige Patient*innenakte. Einen ersten Schritt in diese Richtung haben wir mit der „digitalen Gesundheitsreise“ gesetzt: Hier wird von der Vinzenz Gruppe in Kooperation mit Siemens Healthineers ein Patient*innenportal und auch eine zugehörige App entwickelt, um stets aktuelle Daten greifbar zu haben beziehungsweise definierte Services online nutzen zu können.
Eine andere Sache, die wir am runden Tisch diskutiert haben, ist eine App, mit der man relevante Informationen für die Betreuung und Pflege zu Hause dokumentieren und verwalten kann. Sie soll sowohl den Angehörigen als auch den betreuenden Pflegekräften den Alltag erleichtern. Im Grunde liefert die Digitalisierung immer mehr nützliche Unterstützungstools und der Austausch darüber ist wertvoll, denn das könnte man ja durchaus noch ausbauen beziehungsweise in unsere vernetzte Kommunikation einbauen.
Die regionalen Ausbildungsmöglichkeiten standen ebenfalls im Fokus der Debatte am runden Tisch. Worauf wurde da das Augenmerk gelegt?
Eine wichtige Frage ist hier, wie wir Wieder- und Quereinsteiger*innen wieder verstärkt für Pflege- und Betreuungsberufe gewinnen können. Wie können wir die dazu nötigen Fort- und Weiterbildungen in der Region bündeln? Was würde uns helfen, damit das nicht jede Institution für sich allein machen muss? Welche speziellen Kurzformate könnte man für Wiedereinsteiger*innen entwickeln? Ich denke da zum Beispiel an ein fachliches Update in der Medikation. Solche Maßnahmen könnten das Onboarding von Interessent*innen erleichtern.
Wie wird es mit der Kooperationsplattform weitergehen?
Der einhellige Tenor nach diesem ersten Treffen war: Ja, wir machen weiter. Das Interesse und die Bereitschaft der Teilnehmenden, diese Plattform als Format erhalten, ist erfreulicherweise außerordentlich groß. Der nächste runde Tisch ist für Mai geplant. Da werden wir Facility-Management-Fragen erörtern, unter anderem die Überprüfung medizinischer Geräte. Wir werden darüber reden, wie wir die gemeinsame ELGA-Nutzung auch im Pflegebereich optimal einsetzen können, Stichwort Usability. Also ganz konkrete Dinge, die auch wirksam sind. Dass jeder Entscheidung eine Wirksamkeitsprüfung zugrundeliegt, ist uns allen wichtig. Alle Partnerorganisationen können ihre Ideen und Ansätze einbringen. Wir erwarten uns sehr viel von dieser Kooperation. Denn wenn viele einen Beitrag leisten, kommen wir den notwendigen Schritten näher, die die Situation der Pflege tatsächlich effektiv verbessern.
Interview: Uschi Sorz; Foto: ©Krankenhaus Barmherzige Schwestern Ried/Hirnschrodt
Johann Minihuber, Mag.
Geschäftsführer des Krankenhauses Barmherzige Schwestern Ried
Minihuber hat Gesundheitswissenschaften und Krankenhausmanagement studiert und ist seit 1990 im Gesundheitswesen tätig. 2009 kam er zur Vinzenz Gruppe. Vor seinem Wechsel nach Ried leitete er das Regionalbüro Westösterreich und koordinierte als Projektleiter den Strategie-Entwicklungsprozess für sämtliche Krankenhäuser der Vinzenz Gruppe sowie das Fusionsprojekt Ordensklinikum Linz. Als Geschäftsführer der Vinzenz Ambulatorium GmbH in Linz baute er zudem Angebote im Bereich der ambulanten Rehabilitation auf. Seit 2019 ist er Geschäftsführer des Krankenhauses Barmherzige Schwestern Ried sowie der Barmherzigen Schwestern Ried Errichtungs- und Vermietungs GmbH. Seit 2021 ist er gemeinsam mit Erwin Windischbauer auch Geschäftsführer der Ordensklinikum Innviertel Holding.