„Der Berufsstolz Pflegender hängt eng mit der Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit zusammen“
Simone Reichinger ist Pflegekoordinatorin und Pflegequalitätsmanagerin im Krankenhaus Barmherzige Schwestern Ried und hat für ihre Masterarbeit zum Thema Berufsstolz in der Pflege geforscht. Mit INGO sprach sie darüber, was diesen fördert, was ihn schwächt und warum er eine unverzichtbare Ressource für das Gesundheitswesen ist.
Frau Reichinger, warum ist das Image der Pflege so schlecht?
Simone Reichinger: Ich würde gar nicht sagen, dass das Image der Pflege grundsätzlich schlecht ist. In weiten Teilen der Gesellschaft genießt sie immer noch hohes Ansehen. Nur ist leider das öffentlich kommunizierte Bild von ihr ziemlich verzerrt. Für die Medien scheint Pflege fast ausschließlich ein Skandalthema zu sein. Es vergeht fast kein Tag, wo nicht in irgendeiner Zeitung eine Schlagzeile zur prekären Situation der Pflege zu finden ist. Natürlich ist es gut und wichtig, dass Defizite aufgezeigt werden, das ist gar keine Frage. Doch das ist eben nicht das ganze Bild. Die Pflege an sich ist ein wunderschöner Beruf. Auch wenn man an ihren derzeitigen Rahmenbedingungen schnellstmöglich sehr vieles ändern muss. Wirksame Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel sind absolut einzufordern. Doch mit Vehemenz und Nachdrücklichkeit gilt es in erster Linie jene zu adressieren, die das bewerkstelligen können: Entscheidungsträger*innen und Politiker*innen. Als Hauptbotschaft an die Öffentlichkeit ist es eher kontraproduktiv – es demotiviert den dringend benötigten Nachwuchs. Wer will schon einen Beruf ergreifen, über den man wenig anderes hört als negative Nachrichten? Es wäre eminent wichtig, genauso oft aufzuzeigen, was den Pflegeberuf wirklich ausmacht und was schön daran ist. Durch die einseitige Darstellung wird die Pflege – vielleicht gar nicht in böser Absicht, aber doch – völlig zu Unrecht schlechtgeredet bzw. -geschrieben.
Nähren die permanenten Negativbotschaften Vorurteile?
Natürlich. Wir Pflegende spüren das oft an Äußerungen à la „Wie gut, dass es euch gibt, ich könnte nie so eine Arbeit machen“. Das kann ja nett gemeint sein, hat aber einen unangenehmen, im Grunde herablassenden Beigeschmack. So als würden wir uns hergeben für irgendeine minderwertige Tätigkeit. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Diese Art von „Beifall“ ist jedenfalls nicht die Anerkennung, die wir uns wünschen und die wir schon allein aufgrund unserer fachlichen Kompetenz verdient haben.
Vorurteile liegen aber nicht nur an medialen Negativbotschaften, die immerhin einen realen Hintergrund und somit eine gewisse Berechtigung haben. An ihnen kritisiere ich lediglich die Einseitigkeit, also dass von diesen Kanälen nur solche Dinge aufgegriffen werden und nichts anderes. Es vermitteln aber auch Filme und Serien ein unrealistisches Bild der Pflege. Hier sieht man überwiegend – ich formuliere das jetzt bewusst provokant – die hingebungsvolle „Krankenschwester“, die nichts zu sagen hat. Oder es werden Ärzt*innen gezeigt, die ihre Patient*innen mobilisieren. In Wirklichkeit macht das natürlich Gesundheits- und Krankenpflegepersonal.
Die Menschen wissen eigentlich nicht, was wir täglich machen, und darum möchte ich es ihnen auch gar nicht verübeln, wenn sie sich in der Art äußern, die ich vorhin geschildert habe. Die meisten denken, dass Pflegende den ganzen Tag mit der körperlichen Grundversorgung der Patient*innen beschäftigt sind. Zudem kennen sie oft den Unterschied zwischen informeller Laienpflege inklusive der 24-Stunden-Betreuung und professioneller Gesundheits- und Krankenpflege nicht. Unter dem Überbegriff „Pflege“ wird alles in einen Topf geworfen.
Welche Art von Anerkennung würden Sie sich wünschen?
Eine ehrlich gemeinte, die unsere fundierte Ausbildung, unser weitreichendes fachliches Wissen, unsere professionelle Leistung und unsere Empathiefähigkeit meint.
Und dass dies zu wenig gesehen wird, hat ernste Folgen ...?
Richtig. Die Hauptfolge ist, dass nur wenige potenzielle Berufseinsteiger*innen angezogen werden, wenn die Menschen Pflege immer mit negativen Nachrichten verknüpfen. So kann in der Gesellschaft kein positives Bild von einem erstrebenswerten Beruf entstehen.
"Wertschätzung drückt sich eben auch bis zu einem gewissen Grad in Geld aus."
Es ist aber auch wichtig, dass Gesundheits- und Krankenpflege von Institutionen als Profession anerkannt und wertgeschätzt wird. Und Wertschätzung drückt sich eben auch bis zu einem gewissen Grad in Geld aus. Ich sage oft: „Jeder will gute Pflege haben, aber kosten darf sie nichts.“ Dass diese Rechnung nicht aufgeht, müsste eigentlich klar sein. Und was dem Image sicher nicht förderlich ist, ist eine Deprofessionalisierung der Pflege, wie sie etwa von der Ausbildungsseite her mit der Einführung einer Pflegelehre geschieht. Oder dass viele glauben, dass jede oder jeder pflegen kann. Umgeschulte oder angelernte Pflegekräfte aus dem Ausland zu akquirieren gehört ebenfalls zu diesen Deprofessionalisierungstendenzen.
Wie sehen sich professionell Pflegende selbst? Sie haben ja in Ihrer Masterarbeit das Thema Berufsstolz in der Pflege wissenschaftlich untersucht. Wie sieht es aktuell damit aus?
Mit dem Berufsstolz ist es überraschenderweise trotz der „schlechten Presse“ ziemlich gut bestellt. Von den 378 Pflegenden, die ich für meine Studie befragt habe, hat fast die Hälfte angegeben, „völlig stolz“ auf ihren Beruf zu sein, weitere 40 Prozent bezeichneten sich als „überwiegend stolz“. Somit sind knappe 90 Prozent meiner Proband*innen stolz darauf, Pflegende zu sein. Das heißt, dass diese großartige Ressource „Berufsstolz“ noch vorhanden ist.
Darüber hinaus habe ich den Studienteilnehmer*innen die Frage gestellt, welche Aspekte ihren Berufsstolz besonders fördern. Dabei zeigte sich, dass das Gefühl, einer anspruchsvollen, sinnvollen und erfüllenden Tätigkeit nachzugehen, die stärkste Korrelation mit dem Berufsstolz hat. Genau diese drei Attribute sind das Schöne an der Pflege. Des Weiteren gaben die Proband*innen an, dass es ihren Berufsstolz fördert, wenn sie ehrliche Anerkennung und Wertschätzung erfahren.
Wie passt das zusammen, dass so viele Pflegende ihren Beruf aufgeben, obwohl die meisten eigentlich stolz darauf sind?
Das liegt daran, dass gerade die Aufgaben der Pflege, die Sinn vermitteln, immer mehr beschnitten werden. Wie sehr das der Fall ist, hat gerade erst die Studie „MissCare Austria“ der Karl Landsteiner Privatuniversität gezeigt. Hier wurde im Zuge einer Befragung von auf heimischen Allgemeinstationen tätigen Personen untersucht, wie stark die Rationierung der pflegerischen Tätigkeit – im Fachbegriff „Missed Nursing Care“ – tatsächlich ist. Dabei gaben 84 Prozent der Befragten an, dass sie oder ihr Team in den vergangenen zwei Wochen mindestens eine für die Patientenversorgung notwendige Tätigkeit weglassen mussten. Etwa emotionale Unterstützung, Gesprächsführung mit Patient*innen und Angehörigen, Überwachung von kognitiv Beeinträchtigten, Entlassungsmanagement oder Mobilisierung von Patient*innen. Auch das zeitnahe Reagieren auf die Klingel, pünktliches Verabreichen von Medikamenten oder die Messung von Vitalparametern bleiben öfter auf der Strecke. Das ist schrecklich für die Patient*innen, aber können Sie sich vorstellen, mit welchem Gefühl diese Pflegenden nach dem Dienst nach Hause gehen? Berufsstolz ist ein Riesenpotenzial, um Leute in den Beruf zu bekommen und um sie dort zu halten. Aber wenn hochmotivierte, gut ausgebildete Gesundheits- und Krankenpfleger*innen ihre Arbeit nicht mehr so ausführen können, wie sie gedacht ist, gefährdet man ihn.
"Berufsstolz ist ein Riesenpotenial, um Leute in den Beruf zu bekommen und um sie dort zu halten."
Hat Lobbyarbeit für die Pflege bereits etwas bewirkt? Etwa in Hinsicht auf konkrete Verbesserungsmaßnahmen oder zumindest spürbare Bemühungen in diese Richtung?
Konkret umgesetzte Verbesserungsmaßnahmen wüsste ich jetzt keine. Ich glaube, dass wir noch ganz am Anfang stehen, aber es kommt etwas in Bewegung. Ich bemerke schon, dass die Aufforderung „Der Pflege eine Stimme geben“ langsam durchdringt. Pflegeexpert*innen aus der Praxis, aus der Lehre, aus dem Management, aus der Forschung kommen öfter zu Wort. Das ist auch hoch an der Zeit, denn wir sind die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen. Pflegeberufe professionalisieren sich auch immer mehr. Ich habe jede Menge kompetente Kolleginnen, die etwas erreichen wollen, vieles hinterfragen und sich nicht mehr alles gefallen lassen.
Wie könnte man die Pflege sichtbarer machen?
Das beginnt wie gesagt bei der Vermittlung eines realistischen Bildes der Pflege nach außen. Diesbezüglich möchte ich aber auch gerne einen Appell an meine Kolleg*innen richten und ihnen sagen: Seid stolz auf euch! Versteht den Wert eurer Arbeit, kommuniziert euren Berufsstolz und die schönen Dinge am Pflegeberuf nach außen und engagiert euch berufspolitisch. Wir brauchen selbstbewusste Pflegepersonen, die sich bei den Entscheidungsträger*innen Gehör verschaffen.
Was sagen Sie zur Pflegereform? Können die angekündigten Schritte das Image der Pflege nachhaltig verbessern?
Es ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Trotzdem finde ich, es ist halt nur ein kleines Stück vom Kuchen. Für mich als junger Mensch ist das nicht ganz nachvollziehbar, wenn manche Politiker*innen so tun, als hätte die Pflege mit dieser einen Milliarde Euro das große Los gezogen, und gleichzeitig höre ich fast jeden Tag, wie viele Milliarden an Fördergeldern ständig für andere Bereiche aus dem Steuertopf gehen. Und was den Aspekt der Nachhaltigkeit betrifft, so frage ich mich: Was kommt nach den drei Jahren, wenn die Milliarde aufgebraucht ist? Wieso ist es nicht selbstverständlich, einem gesellschaftlich höchst wertvollen Beruf wie der Pflege die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um die Bevölkerung gut versorgt zu wissen? Warum redet man nicht intensiver mit der Pflege? Denn auch wenn man sie nicht mehr völlig ignoriert: Summa summarum hört man Pflegexpert*innen und -wissenschaftler*innen im Vergleich zu Expert*innen für andere Berufsgruppen immer noch zu wenig zu.
"Was kommt nach den drei Jahren, wenn die Milliarde aufgebraucht ist?"
Inwiefern?
Zum Beispiel haben sich viele Pflegeexpert*innen gegen die Pflegelehre ausgesprochen, die nun eingeführt werden soll. Aus meiner Sicht sind die Maßnahmen der Pflegereform sehr auf Quantität ausgerichtet, nicht auf Qualität. An das Sichern einer hohen Pflegequalität wird viel zu wenig gedacht. Das gefährdet auch den Berufsstolz, denn was uns Pflegende stolz macht, ist die Qualität unserer Arbeit. Das, was wir leisten können, vermittelt uns Sinn. Ein Land, das seiner Bevölkerung eine hohe Pflegequalität bietet, fördert also zugleich die Motivation der Berufsgruppe, die maßgeblich daran beteiligt ist, sie zu ermöglichen. Ich finde, bei der Pflegereform ist nicht genug auf die gehobenen Dienste in der Gesundheits- und Krankenpflege eingegangen worden.
Welche Maßnahmen fehlen hinsichtlich der gehobenen Dienste?
Sie müssten endlich gemäß ihren in der Ausbildung erworbenen Kompetenzen arbeiten können und mehr Handlungsspielraum bekommen. Warum dürfen zum Beispiel Inkontinenzprodukte nur von Ärzt*innen verordnet werden und nicht von Pflegenden? Letztere haben tagtäglich damit zu tun. Dasselbe gilt für Wundprodukte, die nicht von Wundexpert*innen verschrieben werden dürfen. Oder für Pflegeexpert*innen, die oft keine Pflegegeldeinstufungen vornehmen dürfen. Dabei könnte mehr Autonomie den Beruf der gehobenen Gesundheits- und Krankenpflege entscheidend attraktivieren, ohne dass dies die Steuerzahler*innen auch nur einen Cent kostet. Im Gegenteil: Es spart enorm viel an bürokratischem Aufwand ein, entlastet Pflegende sowie Ärzt*innen und erleichtert auch den Patient*innen das Leben. Spätestens jetzt, wo sich das Berufsbild der akademische ausgebildeten Advanced Practice Nurse zu etablieren beginnt, sollte es hier zu einem Umdenken kommen. Zumal das international schon seit Langem üblich ist und bestens funktioniert.
Die Pflegereform beinhaltet zwar eine Ausbildungsoffensive, aber mir fehlt die Förderung von gehobenen Weiterbildungen wie etwa der Ausbildung zur Advanced Practice Nurse oder im Pflegemanagement. Interessierte müssen das in Eigenregie deichseln und – wenn das nicht zufällig eine Institution übernimmt – eine sehr hohe Studiengebühr aus eigener Tasche bezahlen.
Was spricht dafür, den Pflegeberuf trotzdem zu ergreifen? Warum eine Tätigkeit wählen, die so viele soziale und fachliche Kompetenzen erfordert, unter den derzeitigen Umständen physisch und psychisch belasten kann und dann wird auch noch am Berufsstolz gesägt?
Dafür spricht, dass er trotz allem sinnstiftend sein kann, denn Gesundheits- und Krankenpflegepersonal hat das Wissen, um Menschen nach State of the Art zu pflegen. Angehörige haben das oft nicht. Helfen zu können ist erfüllend. Von den Patient*innen bekommen wir ja auch viel zurück: Dankbarkeit, Vertrauen. Wir hören zahllose Geschichten, gewinnen durch den intensiven Kontakt zu Menschen an Lebenserfahrung. Pflegen ist abwechslungsreich und vielfältig. Wir können sowohl zu würdevollem Sterben als auch umgekehrt zum Gesundwerden vieler beitragen. Mit einer Grundausbildung kann man in verschiedensten Tätigkeitsfeldern arbeiten, das ganze Berufsleben lang kann man wechseln oder sich weiterentwickeln. Theoretisch kann der berufliche Weg von der Pflegeassistenz bis zum Doktorat reichen. Und Pflegende werden auf der ganzen Welt gebraucht, wir finden fast überall Arbeit und werden auch in Jahrzehnten noch gefragt sein.
Sie haben im Zuge Ihrer Masterarbeit einige wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen. Welche Worte würden Sie auf dieser Basis gerne an die Politik richten?
Ich würde sagen: Bedenken Sie, dass es um die Bedürfnisse und das Wohl der Patient*innen geht, und verstehen Sie, dass das Berufsbild der Pflege untrennbar damit verbunden ist. Ermöglichen Sie den Pflegenden daher die Rahmenbedingungen, in denen sie gemäß ihrer Ausbildung und den Werten ihres Berufsbilds arbeiten können. Dazu gehören auch so essenzielle Faktoren für die Gesundheit und die Genesung wie Zuwendung, Beratung, Aufklärung und Prävention.
Interview: Uschi Sorz; Foto: BHS Ried
Simone Reichinger, BScN, MSc
Pflegekoordinatorin und Pflegequalitätsmanagerin im Krankenhaus Barmherzige Schwestern Ried
Reichinger ist diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin (DGKP) und hat zunächst ein Bachelorstudium in Pflegewissenschaften absolviert, bevor sie 2017 im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern (BHS) Ried zu arbeiten begann. Parallel absolvierte sie ab 2019 ein Masterstudium in Pflegemanagement an der Donau-Universität Krems, das sie 2022 mit einer Arbeit über Berufsstolz in der Pflege abschloss. Im BHS Ried ist sie zur Hälfte als DGKP und Pflegekoordinatorin und zur Hälfte im Pflegequalitätsmanagement tätig.