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Gesundheit
Österreich
05.12.2022

„Bettensperren und OP-Wartelisten sind überall ein absolutes No-Go-Szenario“

Wolfgang Kuttner ist oberösterreichischer Landesvorsitzender des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbands (ÖGKV) und seit Oktober Vorstandsmitglied des europäischen Pflegeverbands EFN (European Federation of Nurses Associations). Mit INGO sprach er darüber, welche Pflege-Themen den europäischen Ländern momentan am meisten unter den Nägeln brennen. 

Herr Kuttner, welcher Themen stehen derzeit aus gesamteuropäischer Sicht ganz oben auf der Agenda der Pflegeverbände? 

Wolfgang Kuttner: Das ist ohne Zweifel der Personalmangel. Egal ob es um die Spitäler, die mobilen Dienste oder die Langzeitpflege geht, der Fachkräftemangel stellt die meisten EU-Staaten vor enorme Herausforderungen. Alle müssen sich überlegen, wie sie mehr Personal bekommen und vor allem auch behalten können. Es ist ja ein großes Problem, dass viele professionell Pflegende ihren Beruf aufgrund schlechter Rahmenbedingungen aufgeben, wodurch die Arbeitsverhältnisse für die Verbleibenden noch schwieriger werden. Je nachdem, welcher EU-Staat betroffen ist, gibt es mehr oder weniger Aussteiger*innen, aber überall bereitet das Kopfzerbrechen. Damit verbunden ist das zweite große Thema auf unserer Agenda die Stärkung der Frontline Nurses. Das sind die Pflegepersonen, die direkt am Krankenbett stehen. 

Wie kann man die Frontline Nurses stärken?

Die Zukunft liegt ohne Zweifel in der gehobenen Gesundheits- und Krankenpflege. Ein Qualitätsschub im Sinne von Weiterqualifizierungen und erweiterten Kompetenzen kann den gesamten Gesundheitssektor entlasten und damit natürlich auch die Arbeitsverhältnisse der Pflegenden verbessern. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei die Advanced Practice Nurse, kurz ANP, ein. In einigen Staaten wie Großbritannien oder den skandinavischen Ländern ist es ja schon lange gang und gäbe, dass diese hochspezialisierten Fachkräfte, die ein Masterstudium absolvieren müssen, beispielsweise als School Nurses, Pain Nurses oder Community Nurses im Einsatz sind. In Österreich sind wir hier erst im Stadium der ersten zaghaften Schritte.

 

"Die Zukunft liegt ohne Zweifel in der gehobenen Gesundheits- und Krankenpflege."

Was es in puncto ANPs auf alle Fälle braucht, ist eine Harmonisierung auf gesamteuropäischer Ebene. Im Moment gibt es diesbezüglich höchst unterschiedliche nationale Regelungen. Die EFN möchte erreichen, dass einheitliche Parameter wie Ausbildungscurricula, das Ausmaß der vorhergehenden DGKP-Berufspraxis oder auch Kompetenzen im Arbeitsalltag in die nationalen Gesetze eingehen. Abgesehen von der Stärkung des gesamten Systems würde dies den Frontline Nurses überall einen interessanten Karriereweg bieten. DGKPs könnten sich dann in jedem Land ohne große Hindernisse zur ANP weiterqualifizieren. Auch dieser Aspekt wertet die Pflege auf und attraktiviert sie. Darüber hinaus setzen wir uns dafür ein, dass die EU-Direktive der Ausbildungsanerkennung erweitert wird. Zurzeit können nur DGKPs ohne Nostrifizierung in anderen EU-Ländern arbeiten.  

Nicht zuletzt denken wir bei der Stärkung der Frontline Nurses auch an die Langzeitpflege. Wir möchten das Standing der gehobenen Krankenpflege auch in diesem Setting erhöhen und darauf hinweisen, dass die Langzeitpflege entgegen bestehender Vorurteile innerhalb der Pflege-Community ein ausgesprochen lohnendes Einsatzgebiet für sie sein könnte. 

Was bewirkt die internationale Zusammenarbeit der nationalen Pflegeverbände in der EFN?

In der EFN erarbeiten wir zu den relevanten Themen – wie zum Beispiel den gerade geschilderten – gemeinsame Positionen. Damit versuchen wir zum einen, auf Entscheidungsträger*innen auf EU-Ebene Einfluss zu nehmen. Die Ergebnisse unserer Gremien fließen aber natürlich auch in die nationalen Pflegeverbände ein. Diese unterbreiten die entsprechenden Forderungen dann den Politiker*innen ihres eigenen Landes. Außerdem bringt die internationale Zusammenarbeit eine bessere Vergleichsbasis, etwa zu unterschiedlichen Rollenprofilen in der gehobenen Gesundheits- und Krankenpflege. 

Welche Kampagne bereitet die EFN gerade vor?

Besonders prominent in unserem Arbeitspaket, das wir im Oktober für die nächsten fünf Jahre festgelegt haben, ist ein Maßnahmenpapier zur Ausbildungsfinanzierung der ANPs. Bei den ANP-Masterstudiengängen bestehen diesbezüglich noch große Unterschiede. In manchen Ländern gibt es zwar generell Studiengebühren, aber die Kosten gehen bei einer öffentlich finanzierten ANP-Ausbildung nicht darüber hinaus. Ganz konträr ist das beispielsweise in Österreich: Bei uns bieten bislang nur private Institutionen dieses Studium an und Interessent*innen müssen einen fünfstelligen Eurobetrag investieren, um den Mastergrad zu erwerben. Im Berufsleben amortisiert sich das nicht notwendigerweise schnell. Wir wollen, dass man für alle Pflegenden in Europa die Voraussetzung schafft, sich weiterzuentwickeln, nicht nur für die, die es sich privat leisten können. Für die ANP-Ausbildung sollte man nirgendwo mehr als gegebenenfalls national übliche Studiengebühren bezahlen müssen. 

Gibt es in Europa auch „Vorzeigeländer“, also solche, wo sich Österreich ein paar Scheiben abschneiden könnte? 

In vielen osteuropäischen Ländern wie etwa Slowenien ist die ANP-Ausbildung ausschließlich öffentlich finanziert, in Großbritannien und Skandinavien zu einem hohen Prozentsatz. Österreich ist diesbezüglich leider eines der Schlusslichter. Von der Art, wie das Gesundheitswesen in den skandinavischen Ländern gesteuert ist, der Kompetenzenverteilung zwischen Ärzt*innen, Pflegeberufen, Hebammen und anderen Professionist*innen, könnte sich unser Land durchaus ein paar Scheiben abschneiden. In einem Pflegeberuf kann man dort ohne Weiteres eine Fachkarriere machen und trotzdem als ANP in direktem Patient*innenkontakt verbleiben. Für Norweger*innen beispielsweise ist es vollkommen normal, mit einem Doktorgrad in Gesundheits- und Krankenpflege auf Spitalsstationen zu arbeiten. Bei uns müsste man in die Forschung gehen oder eine Managementfunktion übernehmen, um damit eine Beschäftigung zu finden. Aber wir brauchen die Expertise der ANPs auch am Krankenbett oder in der Langzeitpflege. 

Was den Personalmangel betrifft, kann Skandinavien außerdem auf die Tradition der supranationalen Pool-Dienste zurückgreifen. Das löst das Problem zwar nicht grundlegend, kann es aber etwas abmildern und vor allem die Arbeitssituation für das Stammpersonal in den Kliniken verbessern.  

"Österreich ist diesbezüglich leider eines der Schlusslichter."

Was hat es mit diesen Pool-Diensten auf sich?

In den nordischen Ländern können Pflegepersonen mit entsprechenden Sprachkenntnissen problemlos in anderen Staaten als Einspringer*innen aktiv werden, um Arbeitsspitzen aufzufangen. Die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung über Landesgrenzen hinweg ist dort ein jahrzehntealtes Konzept. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn schwedische DGKPs in Norwegen einspringen und vice versa. Oder dass jemand, der in Kopenhagen verunfallt, in Schweden auf eine Intensivstation gebracht wird, wenn im eigenen Land kein Platz zur Verfügung steht. 

Für manche freiberuflich Pflegenden ist es also durchaus eine Option, auf freiwilliger Basis so einen Job zu übernehmen. Sie haben ein Mitspracherecht über Dauer und Umfang der Leistungen und die Zusammensetzung der Dienste, also ob Tages- oder Nachtdienste oder eine bestimmte Mischung aus beidem. Organisiert wird das von spezialisierten Agenturen. Durch Pool-Dienste ist das Stammpersonal entlastet und wird nicht über den regulären Dienstplan hinaus strapaziert, zugleich hat der oder die Einspringer*in Gestaltungsspielraum.

"In den nordischen Ländern können Pflegepersonen mit entsprechenden Sprachkenntnissen problemlos in anderen Staaten als Einspringer*innen aktiv werden, um Arbeitsspitzen aufzufangen."

Ich habe selbst sehr positive Erfahrungen damit: Ich war fünf Jahre als DGKP in Dänemark tätig und übernehme immer noch an dem einen oder anderen verlängerten Wochenende einen Pool-Dienst in einem skandinavischen Land. Abgesehen davon, dass die Bezahlung stimmt, ist es auch ein angenehmes Arbeiten, wo man aufgrund eines guten Personalschlüssels genügend Zeit für die Patient*innen hat. Doch wie gesagt: Als alleinige Maßnahme werden Pool-Dienste sicherlich nicht ausreichen, um den Fachkräftemangel in den Griff zu bekommen. Darum setzen sich die skandinavischen Pflegeverbände auch vehement dafür ein, dass die Politik mehr Geld für substantielle Verbesserungen in die Hand nimmt. Bettensperren und OP-Wartelisten sind überall ein absolutes No-Go-Szenario, das es unbedingt zu vermeiden gilt. Sehr zu Recht argumentieren die Kolleg*innen, dass ein wachsendes Pflegeproblem unweigerlich mit gesellschaftlichem Wohlstandsverlust Hand in Hand geht.  

Wo sehen Sie für Österreich den größten Handlungsbedarf?

Auch bei uns ist natürlich der Personalmangel die größte Baustelle. Wir müssen schleunigst zusehen, die Tätigkeit in einem Pflegesetting rundum zu attraktivieren. Österreich braucht definitiv Nachwuchs. Zugleich herrscht in den Köpfen der Menschen ein sehr veraltetes und unrealistisches Bild der Pflege vor. Sie wird hauptsächlich mit Körperpflege- und Bringtätigkeiten assoziiert und kaum mit den weit darüber hinausreichenden Kompetenzen, die sie de facto durch ihre Ausbildung hat. In Ländern wie den USA, Großbritannien oder Skandinavien, wo Community Nurses oder School Nurses schon lange mitten in der Gesellschaft präsent sind, ist das anders. Hier sind Pflegende automatisch Rollenvorbilder. Womit wir wieder bei den Karrieremodellen sind: Anzustreben ist ein Win-win-Kreislauf aus breiterem Tätigkeitsspektrum, mehr Sichtbarkeit, folglich besserem Image, damit verbundener Anziehung junger Menschen und dadurch wiederum besseren Arbeitsbedingungen und weniger Berufsabbrecher*innen. Unter anderem müssen wir in Österreich dafür sorgen, dass beispielsweise schon Schulkinder in Berührung mit Pflegepersonen kommen. Es darf nicht bei vereinzelten Pilotprojekten bleiben, das Wirken der Pflegeberufe mitten in der Gesellschaft muss Fahrt aufnehmen. Die gehobenen Ausbildungen, konkret die ANPs, müssen forciert werden, sowohl von der Ausbildungsseite als auch von den Einsatzgebieten her. Wir haben zum Beispiel jedes Jahr rund 16.000 junge Leute, die sich um die plus minus 1.800 Studienplätze für ein Humanmedizinstudium reißen. Warum ist die Pflege nicht ähnlich begehrt? Wir müssen es schaffen, dass sie wieder zu einem erstrebenswerten Beruf wird – mit gutem Gehalt, Karrierechancen, gesellschaftlichem Ansehen. Das sind die Hebel. 

Was könnte eine Entwicklung in diese Richtung hemmen?

Stimmen aus der Politik, die die Diplomausbildungen wieder in ein altes Format zurückdrehen wollen, sind absolut kontraproduktiv. Gesundheits- und Krankenpflege wird heute aus gutem Grund in Fachhochschulen gelehrt. Gemäß der Gesetzesnovelle von 2016 endet die Übergangsfrist Ende 2023, ab 1. 1. 2024 wird die Ausbildung ausschließlich auf akademischem Niveau stattfinden. Man sollte das, was wir in dieser Hinsicht bislang erreicht haben, nicht leichtfertig torpedieren. 

"Stimmen aus der Politik, die die Diplomausbildungen  wieder in eine altes Format zurückdrehen wollen, sind absolut kontraproduktiv."

Was halten Sie von der Pflegelehre?

Zum einen ist diese unnötig, denn wir haben genügend entsprechende Ausbildungsangebote, und das Argument, wir könnten sonst die interessierten 15-Jährigen nicht abholen, ist leicht zu widerlegen. Einen Lückenschluss nach der Pflichtschulzeit stellen beispielsweise die Sozialbetreuungsschulen dar. In diese kann man nach einem Vorbereitungsjahr einsteigen und sie mit einer Pflegeassistenz-Prüfung abschließen. Der Zutritt zur Pflege für diese Zielgruppe ist also sehr wohl existent, man müsste ihn nur stärker bewerben. Zum anderen ist die Aufnahme von 15-Jährigen in Pflegesettings, die durch den Fachkräftemangel ohnehin schon bis zum Anschlag belastet sind, kritisch zu sehen. Es bleibt schlicht zu wenig Zeit für die notwendige Anleitung, Probleme sind vorprogrammiert. Und last not least sollten wir uns die Stellungnahmen aus der Schweiz zu Herzen nehmen, wo es die Pflegelehre bereits gibt. Schließlich verweisen ihre Befürworter*innen in Österreich ja immer auf das Schweizer Modell, in Wirklichkeit wird dieses von den Schweizer Kolleg*innen äußerst negativ beurteilt. Die Abbrecher*innenquote ist sowohl während der Lehrzeit selbst als auch nach dem anschließenden Berufseinstieg hoch. Damit würden wir den Fachkräftemangel definitiv nicht beheben.

Wie beurteilen Sie die Bemühungen der österreichischen Regierung, die Situation der Pflege zu verbessern?

Die Bemühungen gehen schon in eine richtige Richtung. Wobei wir es uns beim ÖGKV durchaus zugutehalten, dass unsere Lobbyarbeit hier eine wichtige Anschubkraft darstellt. Aber die Effekte jahrzehntelanger Versäumnisse auszubügeln, ist halt nicht so einfach. Österreich ist extrem gefordert und gut beraten, nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Bessere Voraussetzungen für die höhere Ausbildung als ANP und die Anerkennung gehobener Pflegeberufe durch eine Ausstattung mit mehr Kompetenzen, etwa zum Verschreiben von Wund- oder Inkontinenzprodukten, sind ein überfälliger Schritt. Hier erwarte ich mir mehr Realitätssinn und Engagement.

Sie unterrichten auch im Bachelorlehrgang Krankenpflege an der FH Gesundheitsberufe Oberösterreich. Wie ist angesichts der heftigen Debatten rund um die Probleme der Pflege die Stimmung unter Ihren Schüler*innen?

Unsere Schüler*innen sind selbstbewusst. Sie können manches an den heutigen Verhältnissen absolut nicht mehr verstehen, zum Beispiel wieso topausgebildete Spezialist*innen aus der Pflege in Österreich keine Verschreibungen vornehmen dürfen. Ich denke, dass diese Generation Pflegender streitbarer ist und sich nicht mehr so viel gefallen lassen wird. Darin unterstützen und bestärken wir sie auch. 

Was würden Sie Ihren Schüler*innen gern als Motto für ihren späteren Berufsweg mitgeben?

Ich möchte ihnen mitgeben, dass die Gesundheits- und Krankenpflege trotz aller in den Medien beschriebenen Umstände ein wunderschöner Beruf ist, der nichtsdestotrotz vieles zu bieten hat: ein gesichertes Erwerbseinkommen, die Möglichkeit in verschiedensten Anstellungsformen und Regionen und sogar im Ausland problemlos Arbeit zu finden. Das können längst nicht alle Berufsgruppen von sich behaupten. Abgesehen davon ist die Pflege eine sehr zufriedenstellende Tätigkeit.

Interview: Uschi Sorz; Foto: Klinikum Wels Grieskirchen

Wolfgang Kuttner, BScN, MSc

Vorsitzender des oberösterreichischen Landesverbandes des ÖGKV

Kuttner hat nach seinem Diplom als Gesundheits- und Krankenpfleger (DGKP) zunächst ein Bachelorstudium in Pflegewissenschaft an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg absolviert und danach eine Weiterbildung in Intensivpflege in Dänemark abgeschlossen. Berufliche Stationen als DGKP führten ihn nach Dänemark und Salzburg. 2018 schloss er den Master in Advanced Nursing Education an der FH Campus Wien ab, im selben Jahr nahm er seine Tätigkeit als Fachhochschuldozent an der FH Gesundheitsberufe in Oberösterreich auf. Nebenbei ist er freiberuflich als Travel-Nurse in Skandinavien im Einsatz. Er ist Vorsitzender des oberösterreichischen Landesverbandes des ÖGKV und wurde zudem im Oktober in den Vorstand des europäischen Pflegeverbands EFN (European Federation of Nurses Associations) gewählt.

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