Arzneimittelengpass: Ursachen, Auswirkungen, Abhilfestrategien
Seit Jahren steigt der Bedarf an Medikamenten weltweit an. Dadurch kommt es in fast allen Bereichen immer wieder zu Medikamentenknappheit und Lieferengpässen. In Österreich betraf es zuletzt wegen der starken Grippewelle Antibiotika, Fiebersäfte und Schmerzmittel. INGO sprach über das wiederkehrende Problem der mangelnden Versorgung mit Mag. Alexander Herzog, Generalsekretär der PHARMIG, des Verbandes der pharmazeutischen Industrie Österreichs.
Seit Jahren kommt es immer wieder zu Lieferschwierigkeiten bei Arzneimitteln. Im Jänner waren in Österreich aufgrund der Grippewelle über 500 Arzneimittel nicht oder nur eingeschränkt verfügbar. Hat sich die Situation in der Zwischenzeit entspannt?
Alexander Herzog: Es gibt ein öffentlich zugängliches Register des Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen, das über den aktuellen Stand informiert. Diese Zahl schwankt natürlich täglich, wobei man beachten sollte, dass auch die verschiedenen Packungsgrößen miteingerechnet werden. Jede Packung hat eine eigene Pharmazentralnummer. Sind daher von ein und demselben Produkt beispielsweise die Packungsgrößen 10 Stück und 20 Stück nicht lieferbar, wird das Medikament zweimal in der Liste angeführt. Die Gesamtanzahl der nicht lieferbaren Medikamente liegt aktuell daher bei rund 200 Einzelprodukten.
Hat sich die Situation im Vergleich zu den letzten Jahren verschlechtert?
Durchaus nicht. Die Anzahl der nicht lieferbaren Produkte ist in den vergangenen drei Jahren sogar tendenziell gesunken. Der Grund, warum der aktuelle Medikamentenengpass zurzeit große mediale Aufmerksamkeit erregt, liegt darin, dass erstmals auch Arzneimittel gelistet sind, die eine sehr breite Verwendung haben, darunter Antibiotika, Fieber- und Hustensäfte sowie Schmerzmittel. In den vergangenen Jahren betraf es vorwiegend Krankenhausprodukte für einzelne Indikationen.
Der jetzige Engpass betrifft vor allem gängige Medikamente zur Behandlung von Grippe- und grippalen Infekten. Fachleute warnten bereits im Sommer 2022 vor einer starken Zunahme der saisonalen Influenza-Aktivität. Warum wurde bei der Beschaffung der dafür relevanten Medikamente nicht entsprechend vorgesorgt?
Die Planung für die Beschaffung und Bevorratung passiert stets ein Jahr im Voraus. Was die saisonale Influenza betrifft, betrachten wir im Frühjahr die Virus-Aktivität auf der Südhalbkugel, evaluieren diese mit den Aussagen der Experten und erstellen dann die Prognose. Diese Vorgehensweise hat sich bis dato stets bewährt. Heuer ist die Grippewelle bei uns jedoch deutlich stärker und intensiver ausgefallen als auf der Südhalbkugel - was überrascht, da es bisher genau umgekehrt war. Aber ja, die Pandemie hat vieles verändert. So ist auch die Aktivität des Respiratorischen Synzytial-Virus, von dem vor allem Babys und Kleinkinder betroffen sind, diese Saison besonders hoch. Diese Umstände, aber auch noch andere Faktoren haben zu dem aktuellen Engpass geführt.
"Heuer ist die Grippewelle bei uns jedoch deutlich stärker und intensiver ausgefallen als auf der Südhalbkugel - was überrascht, da es bisher genau umgekehrt war."
Welche sind diese?
Einerseits funktionieren die durch die Pandemie unterbrochenen Logistik-Ketten aus China und Indien noch immer nicht einwandfrei, andererseits verursacht auch der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine Probleme.
Die Abhängigkeit von China und Indien ist seit der Pandemie ein großes Thema. Was hat sich in den vergangenen drei Jahren diesbezüglich getan?
Diese Abhängigkeit ist grundsätzlich ein europäisches Thema. Hier hat die EU-Kommission bereits 2020 eine EU-Pharma-Strategie präsentiert, die konkrete Maßnahmen zur Gewährleistung der Zugänglichkeit, Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von Arzneimitteln enthält. Gerade bei der Verfügbarkeit geht es aber darum, wie sich die pharmazeutische Industrie durch geeignete Rahmenbedingungen motivieren lässt, ihre Produktion vor allem von Niedrigpreismedikamenten stärker nach Europa zu bringen. Das ist nicht so einfach zu lösen, da wir sowohl hohe Sozialstandards als auch Arbeitskraftkosten und jetzt zusätzlich auch noch sehr hohe Energiekosten haben.
Was wäre hier eine gute Lösung?
Wir sollten uns eher auf pharmazeutische High-Tech-Produkte konzentrieren, die bereits in Europa hergestellt werden. So werden zwei Drittel aller Impfstoffe weltweit in Europa produziert. Unsere Stärken liegen im innovativen Bereich, beispielsweise bei neuen Therapien für seltene Erkrankungen. Darauf sollten wir das Hauptaugenmerk legen.
Um aber wieder auf den aktuellen Engpass zurückzukommen: Gesundheitsminister Rauch will wegen der Medikamentenengpässe die seit längerem diskutierte Wirkstoffverschreibung vorantreiben. Was halten Sie davon?
Wir sehen diese Thematik sehr kritisch. Der Wirkstoff allein macht schließlich nicht das Präparat aus, dazu benötigt es die zusätzlichen Komponenten. Hier gibt es wesentliche Unterschiede in der Verträglichkeit. Welche Zusammensetzung für die Patient*innen daher die richtige ist, kann die Apotheke nicht entscheiden. Darüber hinaus würde die Wirkstoffverschreibung keine Versorgungsprobleme lösen.
Inwiefern?
Es würden die Richtlinien zur ökonomischen Verschreibweise von Heilmitteln in Kraft treten. Das würde eine Preisspirale nach unten in Gang setzen und dies in einem Segment, in dem die Produkte bereits jetzt schon wirtschaftlich kaum mehr am Markt zu halten sind. Die Preise müssten endlich an die Inflationsrate angepasst werden. In Österreich kostenSchmerzmittel und Antibiotika teilweise weniger als eine Wurstsemmel – was letztlich auch ein Grund ist, warum die Produktion in den asiatischen Raum verlagert wurde. Hier muss sich dringend etwas ändern.
Text: Rosi Dorudi; Foto: Stefan Csaky/PHARMIG
Alexander Herzog, Mag.
Generalsekretär der PHARMIG
Herzog ist seit Juli 2018 Generalsekretär der PHARMIG, des Verbandes der pharmazeutischen Industrie Österreichs. Nach Abschluss seines BWL-Studiums an der Karl-Franzens-Universität Graz arbeitete Herzog in verschiedenen Positionen im wirtschaftlichen Bereich (unter anderem IBM Eastern Europe, Austrian Research Centers). 2003 wechselte er zur Wiener Wirtschaftsagentur (früher: Wiener Wirtschaftsförderungsfonds), wo er in unterschiedlichen Leitungsfunktionen tätig war. 2006 machte sich Herzog als Unternehmensberater mit den Spezialgebieten Private Equity und Sanierungs- und Restrukturierungsmanagement selbstständig. Von 2007 bis 2014 war er bei der Wiener Gebietskrankenkasse als Stellvertreter der Obfrau, Mitglied des Vorstandes und der Kontrollversammlung tätig. 2014 wurde er geschäftsführender Obmann der Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft. Parallel dazu hatte er die Position als stellvertretender Vorsitzender der Trägerkonferenz des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger inne.