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Gesundheit
Österreich
26.07.2021

"Für Demenzkranke ist das Spital der falsche Ort"

Fehlende Infrastrukturen, noch kaum durchschlagende Heilungsoptionen, zu späte Diagnosen: Mit Demenzen sind nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für das Gesundheitssystem viele strukturelle Probleme verbunden, und in unseren alternden westlichen Gesellschaften werden sie noch beträchtlich zunehmen. Prof. Christian Lampl, Leiter des Zentrums für integrative Alternsmedizin (ZiAM) am Ordensklinikum Linz Barmherzige Schwestern, sprach mit INGO über die Herausforderungen der Zukunft und mögliche Lösungen.

INGO: Wie viele Demenzkranke gibt es in Österreich und wie wird sich die Zahl der Betroffenen entwickeln?

Christian Lampl: Die Frage zum Status quo lässt sich schwer beantworten, weil es bei Demenzen eine hohe Dunkelziffer gibt. Sie werden nämlich viel zu spät diagnostiziert, und daher gibt es auch keine gesicherten Zahlen, lediglich Schätzungen und Prognosen. Diesen zufolge dürften hierzulande um die 130.000 Menschen an irgendeiner Form von Demenz leiden. Wir können allerdings davon ausgehen, dass sich die Anzahl der Betroffenen bis 2050 mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit verdoppeln wird. Das wird uns an den Rand der Versorgungskapazitäten bringen. Es geht dabei weniger um die Akutversorgung, sondern vor allem um das Thema der Pflege und professionelle Betreuung sowie auch um die systematische Unterstützung der Angehörigen. Die zentrale Frage ist: Wie können wir in Zukunft mit diesem Krankheitsbild und der Versorgung rundherum fertigwerden? 

Sind die Politik und das Pflegesystem auf diese starke Zunahme von Demenzen eingestellt?

Meiner Meinung nach nicht. Ich beobachte eher so etwas wie einen Jo-jo-Effekt. Jedes Mal, wenn ein neuer Demenzbericht herauskommt, thematisiert man zwar die nötigen Investitionen und macht auch ein paar Schritte in die richtige Richtung. Doch insgesamt investiert man hauptsächlich in Teilbereiche wie etwa die Ausbildung, und das oft verzögert. Ich sehe auch keine nachhaltigen Investitionen in Infrastrukturen. Das Hauptproblem ist ja, dass Demenzkranke – abgesehen von der Diagnostizierung – eigentlich nichts im Spital verloren haben. Langfristig brauchen die Betroffenen eine adäquate Betreuung in ihrer direkten Umgebung – vorzugsweise zu Hause, solange dies möglich ist. 

Was ist Ihrer Meinung nach der Grund, dass man nicht nachhaltig in die nötigen Infrastrukturen investiert?

Vermutlich wird aufgrund der hohen Dunkelziffer unterschätzt, wie stark unsere alternde Bevölkerung den Bedarf ansteigen lässt. Die Politik ist hier absolut gefordert. Doch mir scheint, dass man hierzulande ähnlich wie beim Pflege- oder Ärztemangel so lange zuwartet, bis es nicht mehr geht, und dann versucht, das irgendwie wettzumachen. Ich plädiere diesbezüglich für mehr Weitsicht. Der demografische Wandel lässt sich nun einmal nicht wegdiskutieren. Und bei Demenzen spielt das Alter eine wesentliche Rolle. Wir werden also nicht drum herumkommen, geeignete Strukturen zu schaffen. Je früher man damit beginnt, desto besser kann das gelingen.

Warum ist die richtige und auch frühzeitige Diagnose bei Demenzen so wichtig? 

Hinsichtlich der Erstdiagnose sehen wir nicht nur, dass sie oft zu spät erfolgt, sondern auch eine hohe Fehlerquote von etwa 20 Prozent aufweist. Beides ist ein Problem, denn die richtige Diagnose ist entscheidend für die Behandlung und auch dafür, wie man mit dem individuellen Betroffenen adäquat umgeht. Wir haben ja nicht nur Alzheimer, sondern es gibt viele Arten von Demenzen, die sich unterschiedlich manifestieren. Die kognitiven Leistungseinbußen sind nur die eine Seite, die psychosoziale Dynamik ist aber genauso wichtig. Für Angehörige etwa, aber auch Pflegepersonen sind Verhaltensauffälligkeiten die größte Herausforderung. Bei manchen Patientinnen und Patienten kommt es zur Tag-Nacht-Umkehr, sie sind verwirrt, irren nachts herum. Es gibt die Symptomatik der Fehlinterpretationen: Diese Menschen können Gegenstände erkennen und benennen, wissen aber nicht mehr, was man damit macht. Dann haben wir das Problem der Aggressivität. Diese steht etwa bei der frontotemporalen Demenz im Vordergrund. Hinzu kommen möglicherweise Inkontinenz und eine Schmerzproblematik. Demente leiden genauso wie alle anderen unter Schmerzen, nur können sie mit der Begrifflichkeit, dem Wort „Schmerz“ nichts mehr anfangen. Wie erkennt man also, ob ihnen etwas weh tut? Bei einer fortgeschrittenen Demenz nützen Schmerzskalen und Frageschemata nichts mehr, man ist rein auf Beobachtungen angewiesen.

"Die kognitiven Leistungseinbußen sind nur die eine Seite, die psychosoziale Dynamik ist aber genauso wichtig."

Zu den Fehl- und späten Diagnosen kommt es unter anderem, weil der Beginn dieser Erkrankung so schleichend ist. Betroffene und auch deren Umgebung bemerken milde kognitive Einbußen oft gar nicht oder sie verdrängen sie und spielen sie herunter. Unter Umständen kann es sich aber schon um Vorläuferstadien handeln. Würde man diese rechtzeitig finden, könnte man den Krankheitsverlauf etwas nach hinten verzögern.

Kognitive Störungen können aber auch andere Ursachen haben, und es ist nicht immer einfach, diese von einer Demenz abzugrenzen – oder die verschiedenen Demenzformen voneinander. Ob sich hinter einem bestimmten Erscheinungsbild Alzheimer verbirgt, ist für erfahrene Neurologen meist relativ schnell erkennbar, andere Formen kann man ad hoc weniger leicht eindeutig zuordnen. Neben Alzheimer gibt es zum Beispiel auch die Lewy-Body-Demenz, rein frontale Demenzen, Demenzen vom vaskulären Typ oder Mischformen, um jetzt nur einige zu nennen. Bei manchen Demenzarten kann es auch langwierig sein, die Patientinnen und Patienten richtig einzustellen. Auf jeden Fall aber ist diese Differenzierung ganz wesentlich. Dafür gibt es heutzutage ausgezeichnete neuropsychologische Testverfahren.

Die sorgfältige Abklärung von Verdachtsdiagnosen durch Experten braucht allerdings ebenfalls Zeit. Beispielsweise, um die Gehirnflüssigkeit daraufhin zu untersuchen, ob sich bereits Beta-Amyloid oder Tau-Protein darin nachweisen lassen. Das sind zwei Proteine, die bei Alzheimer eine wesentliche Rolle spielen. Darüber hinaus sieht man sich die Grundsubstanz des Gehirns und das Volumen an. Derartige Untersuchungen erfordern interdisziplinäres Know-how und personelle sowie finanzielle Ressourcen, die wir momentan im Spital noch haben. Aber wie lange noch angesichts der wachsenden Zahl der Betroffenen?

Wie sollte man auf diese Demografie bedingt unweigerliche Zunahme der Demenzen idealerweise reagieren? 

Wie bei vielen anderen chronischen Leiden oder Erkrankungen mit einer Progredienz braucht es hier ein Netzwerk. Denn selbst wenn es gelingt, das Krankheitsgeschehen um Monate oder Jahre zu verlangsamen, schreitet es fort. Man muss also ein Case-Management etablieren, das den Patienten beziehungsweise die Patientin führt und für die Schulung und Begleitung der Angehörigen sorgt. Außerdem müsste es sowohl für Betroffene als auch für pflegende Familienmitglieder das Angebot einer psychologischen Betreuung geben. Hier stoßen wir derzeit auf mangelnde Ressourcen. 

Außerdem ist die Frage des primären Ansprechpartners zu klären. Da Betroffene im Beginnstadium eine unglaublich gute Fassade haben, ist rasches Handeln sogar für das direkte Umfeld – also für Menschen, die mit dem Erkrankten zusammenleben, oder für den Hausarzt – eine Herausforderung. Dennoch ist es ganz wesentlich, dass sie die Sache ins Rollen bringen und dafür sorgen, dass frühzeitig ein Neurologe hinzugezogen und eine exakte Testung vorgenommen wird. Das heißt, hier braucht es mehr Unterstützung und Aufklärung.

Wie ist der Stand der Forschung?

Die Forschung sucht natürlich ebenfalls nach Lösungen. Es gibt zum Beispiel Wissenschafter, die Demenz als reine Alterserscheinung betrachten. Sie sagen, je älter die Menschen würden, desto dementer würden sie. Und weil sie früher im Allgemeinen nicht so alt geworden seien, wisse man nicht, ob es heute mehr Demenzkranke als vor 200 Jahren gebe. Dieser Ansicht kann ich persönlich nichts abgewinnen. Natürlich spielt der Faktor Zeit eine Rolle und nimmt das Risiko mit dem Alter zu, aber es gibt ja auch genügend fitte, geistig und kognitiv rege 90-Jährige. Umgekehrt sehen wir sogar 50-Jährige, die an Demenz leiden. Man darf die genetische Ebene daher nicht vernachlässigen. Mittlerweile denkt man übrigens bereits über molekulargenetische Bevölkerungsscreenings nach, mit der Idee, künftig Menschen mit erhöhtem Risiko schon vor Krankheitsausbruch zu finden und sehr früh zu behandeln. Die Frage ist allerdings: Wer will so etwas in jungen Jahren schon wissen? Das ist ja psychisch schwer zu verkraften.

"In Bezug auf Heilung haben wir aber leider bislang keine Ergebnisse, die uns entscheidend weiterbringen würden."

In der Forschung passiert sehr viel, was das Verständnis der dahinterstehenden Mechanismen betrifft, also die Entstehung und die Pathologie von Demenzen. Da kommt man, wenn auch in kleinen Schritten, durchaus voran. In Bezug auf Heilung haben wir aber leider bislang keine Ergebnisse, die uns entscheidend weiterbringen würden. Auch mit monoklonalen Antikörpern ist man noch nicht so weit. Selbstverständlich gibt es weltweit exzellente Forschungsgruppen, aber die Wissenschaft ist eben ein langwieriger Prozess. Es wird sogar an einer Impfung gegen Demenz geforscht, im Moment ist das aber noch Zukunftsmusik.

In welche Richtung gehen die Behandlungsansätze momentan?

Sie gehen in Richtung Verlangsamung und Symptombekämpfung aller Begleiterscheinungen wie beispielsweise Schlafstörungen, Aggression oder Schmerzen. Gegen die kognitiven Beeinträchtigungen des Erinnerungs- und Denkvermögens und des abstrakten Denkens können die derzeit verfügbaren Medikamente höchstens eine kleine Verschnaufpause geben – also die Symptome hinauszögern und dafür sorgen, dass der Verfall nicht so rapide vonstatten geht. 

Wie sieht es mit Präventionsmöglichkeiten aus?

In Bezug auf die kognitive Leistung gibt es viele Studien, die präventive Maßnahmen untersuchen. So gibt es zum Beispiel Hinweise auf einen günstigen Effekt von Ginkgo-Präparaten auf das Gedächtnis. Auch Zusammenhänge mit Kaffeekonsum, gesunder Ernährung, Bewegung oder entzündungshemmenden Medikamenten werden untersucht. Man muss sich hier aber immer auch das Studiendesign ansehen. Bereits an Demenz erkrankte Menschen auf diese Dinge hin zu untersuchen, ist nicht unbedingt zielführend. Da wären Effekte, die man jahrzehntelang an Gesunden beobachtet hat und dann im Alter evaluiert, sicherlich aussagekräftiger.

Was man sagen kann, ist, dass Menschen, die während ihres produktiven Lebens eine hohe geistige Leistungsfähigkeit an den Tag gelegt haben, oder solche, die geistig sehr vielseitig aktiv waren, wahrscheinlich ein geringeres Alzheimer-Risiko haben. Sofern sie keine genetische Disposition besitzen natürlich. Aber geistige Beweglichkeit ist präventiv immer gut, es ist schon sinnvoll, wenn ältere Menschen Gedichte auswendig lernen, Kreuzworträtsel lösen, sich regelmäßig bewegen und so weiter.

Welche Formen der Unterstützung braucht diese Patientengruppe in Zukunft? Und hat das Zentrum für Alternsmedizin (ZiAM) am Ordensklinikum Linz Barmherzige Schwestern, das auf die Bedürfnisse der älteren Bevölkerung zugeschnitten ist, hier vielleicht eine Vorreiterrolle?

Es ist sicherlich ein großer Vorteil, dass wir hier am ZiAM Spezialisten haben, beispielsweise für Neurologie, Psychologie oder auch Allgemeinmedizin, die sich speziell mit dem Thema Demenz befassen und daher entsprechendes Know-how mitbringen. Unser interdisziplinärer Ansatz kommt also auch dieser Patientengruppe zugute. Doch abgesehen von der Diagnostik – für die wir hier intramural natürlich die besten Voraussetzungen haben – stoßen wir mit unseren Personalkapazitäten an Grenzen. Mit leichten Demenzfällen kommen wir zurecht, nicht aber mit mittelschweren bis schweren Verläufen. Das ist einerseits eine Frage der Ressourcen, andererseits aber auch eine der Sinnhaftigkeit von längerfristigen klinischen Aufenthalten dieser Patientinnen und Patienten. De facto landen sie oft im Krankenhaus, weil die Familien bei diesen schweren Verhaltensauffälligkeiten ab einem gewissen Punkt am Ende mit ihrem Latein sind. Psychiatrieaufenthalte beispielsweise sind aber keine Lösung. Noch dazu gibt es da diesen Drehtüreffekt: Demenzkranke kommen rein ins Spital, raus aus dem Spital, werden oft von einem Haus ins andere geschickt. Für den Krankheitsverlauf ist das Gift. Die Betroffenen kennen sich nicht mehr aus, ihre Demenz verschlechtert sich dadurch maßgeblich. Gerade für Demente ist ihre gewohnte Umgebung essenziell. Das Spital ist der falsche Ort für sie.

"Mit leichten Demenzfällen kommen wir zurecht, nicht aber mit mittelschweren bis schweren Verläufen."

Was ich vermisse und was ich mir aus ebendiesen Gründen wünsche, wäre ein tagesklinisches Ambulatorium speziell für Demenzen und Gedächtnisstörungen, in dem von der Abklärung über die Beratung bis hin zur medikamentösen Einstellung alles in einer Hand ist. Man hätte sämtliche Experten – Pflege, Psychologie, Neurologie, Innere Medizin und so weiter – unter einem Dach, würde den Betroffenen die kontraproduktiven Krankenhausaufenthalte ersparen und könnte zugleich die pflegenden Angehörigen auffangen. Wie gut so ein integrativer Ansatz funktioniert, erleben wir tagtäglich im ZiAM. Im Fall der Demenzen müsste er aber eben genau darauf zugeschnitten sein. Zentren wie das beschriebene wären für alle Beteiligten optimal und könnten übrigens in weiterer Folge eine gute Basis für die Forschung darstellen. Aber dazu bräuchte es Innovationswillen und man müsste Geld in die Hand nehmen. Im Gegenzug wäre es ein absolut nachhaltiges Zukunftsszenario. 

Und wie man weiß, ist alles, was nachhaltig ist, langfristig billiger. Aber so lange im Gesundheitswesen nicht alles aus einem Topf bezahlt wird und es diese Verschachtelungen bei der Finanzierung von Maßnahmen gibt, bleibt eben sehr vieles Wichtige auf der Strecke. Denn wenn man daran nichts ändert, wird man wohl nicht genügend Ressourcen freimachen können. 

Interview: Uschi Sorz; Fotos: Barmherzige Brüder, depositphotos.com

Christian Lampl, Prof. Dr.

Abteilungsleiter der Akutgeriatrie am Ordensklinikum Linz Barmherzige Schwestern sowie Leiter der Abteilung Neurologie mit Stroke Unit und Akutgeriatrie des Konventhospitals Linz Barmherzige

Lampl ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, stv. ärztlicher Direktor am Ordensklinikum Linz Barmherzige Schwestern sowie Primarius der dortigen Abteilung für Akutgeriatrie und Remobilisation. Diese hat er nach einem innovativen Konzept als Zentrum für integrative Alternsmedizin (ZiAM) aufgebaut. Seit November 2019 ist er außerdem Leiter der Abteilung Neurologie mit Stroke Unit und Akutgeriatrie des Konventhospitals Linz Barmherzige Brüder. 

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