Digitalisierung im Krankenhaus: Herausforderung und Chance
Virtuelle Tumorboards, Cinematic Rendering, roboter-assistierte Chirurgie: Die Digitalisierung ist unübersehbar auch im oberösterreichischen Gesundheitswesen angekommen. Welche Chancen bietet die digitale Revolution im Krankenhaus – und welche Gefahren birgt sie? Dazu nahmen beim Kongress der oö. Ordensspitäler in Linz internationale Expertinnen und Experten Stellung.
„Es gibt in Oberösterreich bereits zahlreiche positive Beispiele für die neuen Möglichkeiten durch Digitalisierung. Kein Computer kann aber die helfende und beruhigende Hand ersetzen.“
Mag.a Christine Haberlander,
Gesundheitslandesrätin OÖ
Ein neuer Blick auf die Welt, der bessere Entscheidungen ermöglicht: So bringt Oxford-Professor Dr. Viktor Mayer-Schönberger die Digitalisierung auf den Punkt. Mehr Daten bedeuten demnach mehr Information und eine neue Qualität der Beurteilung, vergleichbar mit dem Phänomen, dass aus einem Standbild durch eine höhere Frequenz von Aufnahmen plötzlich ein bewegter Film wird.
Tatsächlich explodiert die Menge an digitalen Daten seit Jahren geradezu, sodass der Anteil der analogen Daten weltweit heute nur noch weniger als ein Prozent ausmacht. Das hat gravierende Konsequenzen: „Bisher waren wir es gewohnt, zuerst eine Frage zu formulieren, dann Daten zu sammeln und so Antworten zu finden“, skizziert Mayer-Schönberger. In Zukunft werde es dagegen darauf ankommen, angesichts der Masse an vorhandenen Daten die richtigen Fragen zu stellen und die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. Er plädiert deshalb dafür, Daten wann immer möglich zu sammeln und auch wiederzuverwenden.
Was aber tun gegen das Unbehagen und die Sorge von Patientinnen und Patienten, dass Daten missbräuchlich verwendet werden könnten? „Vertrauen schaffen durch Verantwortung übernehmen“, rät der international renommierte Experte und Buchautor. In unterschiedlichsten Bereichen, vom Lebensmittel bis zum Auto, seien wirkungsvolle Risikomanagement-Prozesse und Regulative selbstverständlich. Dies müsse in gleicher Weise auch beim Datenschutz gelten.
Dazu sei es auch im Gesundheitswesen notwendig, Stellenwert und Bedeutsamkeit des Datenmanagements zu erhöhen. Für Mayer-Schönberger ist es durchaus denkbar, dass in Spitälern künftig Datenanalysten mit Ärztinnen und Ärzten zusammenarbeiten.
Denn durch die Möglichkeit, umfassende Daten der einzelnen Patientin, des einzelnen Patienten bereitzustellen, biete die Digitalisierung vor allem eine enorme Chance: eine evidenzbasierte Medizin, die konsequent auf das Individuum fokussiert ist. Der Durchschnittspatient sei ein Relikt des 20. Jahrhunderts, so Viktor Mayer-Schönberger: „Gerade die Ordensspitäler wissen schließlich, dass jede Patientin, jeder Patient verschieden und individuell ist“.
„Das Problem sind nicht die Daten, sondern was wir damit machen.“
Prof. Dr. Viktor Mayer-Schönberger,
Universität Oxford
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E-Rezept als Erfolgsrezept? Estland als digitaler Vorreiter
Ein Blick in die digitale Zukunft eröffnet sich bereits heute in Estland. Der baltische Staat setzt auf umfassende Digitalisierung in vielen Lebensbereichen. Breitband-Internet ist nahezu flächendeckend verfügbar, die elektronische Signatur ist allgegenwärtig und gilt vielfach als glaubwürdiger als eine händische Unterschrift. „Digitalisierung wird hier nicht nur gepredigt, sondern im Alltag angewendet“, sagt Prof. DDr. Robert Krimmer, Experte für E-Governance an der Technischen Universität Tallinn.
Statt auf Insellösungen setzt man in Estland auf digitale Integration. Attraktive Anwendungen, vom E-Banking in Echtzeit bis zur Einkommenssteuererklärung in wenigen Minuten, und zahlreiche Feedback-Schleifen sorgen dafür, dass die Estinnen und Esten häufig „digital unterwegs“ sind und dies deshalb gut beherrschen. Eine einzige, individuelle Kennnummer für jede Person ist bei allen Anwendungen des E-Government-Systems gleichermaßen gültig.
Dazu zählt auch das öffentliche Gesundheitsportal, das 2010 eigenführt wurde und inzwischen 740.000 elektronische Patientenakten mit rund 20 Millionen Gesundheitsakten und 300 Millionen Ereignissen umfasst. 50 Prozent der ärztlichen Überweisungen erfolgen bereits digital. 20 unterschiedliche Systeme wurden für dieses Portal zu einem Standardformat zusammengeführt, wobei auch Blockchain-Technologie zum Einsatz kommt.
Ein Kernpunkt ist das E-Rezept: 99 Prozent aller Medikamente werden heute elektronisch verschrieben und können unter Vorlage eines Personalausweises in jeder Apotheke abgeholt werden. Auf eine Testphase wurde bei der Einführung bewusst verzichtet. „Stattdessen hat man den Leuten gesagt: Anfangs wird das Ganze nur zu 80 Prozent problemlos funktionieren. Aber wo Probleme auftreten, werden diese binnen 24 Stunden erledigt. Durch dieses Live-Testing hat man gemeinsam ein gutes System erschaffen“, erklärt Krimmer.
Die elektronische Patientenakte umfasst sämtliche relevanten Daten, von Anamnesen, Untersuchungen und Röntgenbildern bis zu Case Summaries, Rezepten und Impfpässen. Jeder Este, jede Estin kann sich in das Portal einloggen, online Einsicht nehmen und in seiner persönlichen Akte jeden einzelnen Eintrag sperren. Er kann auch Gesundheitszertifikate erstellen, wie sie z. B. für den Führerschein nötig sind, und diese direkt übermitteln, etwa an die Kfz-Behörde. Auch eine elektronische Terminvereinbarung in Krankenhäusern ist Teil des Portals, sie funktioniert aber noch nicht in allen Spitälern.
Der Zugriff auf alle Patientendaten im Portal ist grundsätzlich für jeden Arzt und jedes Krankenhaus möglich – aber außer bei den eigenen Patientinnen und Patienten nicht erlaubt. Wer wann worauf zugegriffen hat, ist jederzeit nachvollziehbar; Missbrauch führt zu Konsequenzen.
Sicherheit, Selbstkontrolle durch Transparenz und Nachvollziehbarkeit zählen für Prof. Krimmer neben Effizienz, Zeit- und Kostenersparnis zu den Vorteilen des digitalen Gesundheitsportals. Als Risiken nennt er Technologieabhängigkeit, Datenverlust und Informationsüberladung. Nicht zuletzt ist auch die Unterstützung von „digitalen Analphabeten“, die von sich aus damit nicht zurechtkommen, ein Thema.
Letztlich ermöglicht das E-Gesundheitsportal auch Schritte in Richtung einer personalisierten Medizin, indem z. B. Patientinnen und Patienten mit genetischen und anderen Risikofaktoren identifiziert und aktiv kontaktiert werden. Die Daten könnten somit gezielte Prävention, aber auch einen gezielteren Mitteleinsatz bewirken. Wie dies ethisch beurteilt wird, ist eine Frage des digitalen „Mindset“ der Gesellschaft. In Estland ist dieses offenbar bereits stärker ausgeprägt als in anderen Ländern.
„99 Prozent der Medikamente werden in Estland heute elektronisch verschrieben.“
Prof. DDr. Robert Krimmer,
TU Tallinn
Digitale Gesundheitsdaten: It´s not just mine, it´s me
Hermes oder Pandora, Heilsbringer oder Bedrohung? Diesen beiden Meta-Narrativen der Digitalisierung stellt Prof. Dr. Petra Grimm, Leiterin des Instituts für Digitale Ethik an der Hochschule der Medien in Stuttgart, eine dritte Alternative gegenüber. Das „Prometheus-Narrativ“, will heißen: eine menschengerechte Digitalisierung für ein gutes und solidarisches Leben, mit gesicherten Grundrechten wie Autonomie, Freiheit, Privatheit und Gerechtigkeit.
Wie jede Technologie sei die Digitalisierung an sich weder gut noch schlecht, meint die deutsche Wissenschaftlerin: Die Auswirkungen hängen vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext ab. Sie ortet heute eine „Quantifizierung des Sozialen“, die alles ausblendet, was sich nicht messen und mit Zahlen darstellen lässt. Ausdruck dafür seien Fitness-Apps, Wearables wie die Apple Watch oder auch digitale Lebensstil-Plattformen, wo die persönliche Gesundheit wie ein Aktienindex dargestellt wird.
Diese Instrumente seien nicht darauf ausgelegt, Privatheit zu schützen: Sie lassen „Privacy by Design“, also Datenschutz schon bei der technischen Umsetzung, vermissen. Doch gerade bei gesundheitsbezogenen Daten ist die selbstbestimmte Entscheidung über deren Nutzung besonders wichtig: „Was ich meinem Arzt erzähle, möchte ich nicht meinem Banker erzählen“, so Grimm. Schließlich sind höchst persönliche Daten von einer speziellen Qualität: Sie sind nicht bloßes Eigentum einer Person, sondern sie machen diese Person aus – it´s not just mine, it´s me.
Petra Grimm fordert deshalb „Ethics by Design“, also die Berücksichtigung ethischer Grundsätze schon bei der Entwicklung von digitalen Anwendungen. Unternehmen und Organisationen – auch im Gesundheitsbereich – müssten Verantwortlichkeit beweisen, indem sie Risiken und Folgen digitaler Innovationen abschätzen und entsprechend handeln.
Digitale Ethik betrifft für Grimm aber auch zwei weitere Ebenen: Aufgabe der Gesellschaft sei es, Grundrechte zu wahren, digitale Kompetenzen zu fördern und darauf zu achten, ob im Sinne einer besseren Lebensqualität Grenzen der Digitalisierung notwendig sind. Und jede/r Einzelne sei gefordert, sich Gedanken zu machen über Nachvollziehbarkeit, Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten und letztlich über die Frage, wo Digitalisierung die eigenen Handlungsoptionen erweitert oder einschränkt.
„Nicht fragen, was technisch machbar ist, sondern was wünschenswert ist – und für wen.“
Prof. Dr. Petra Grimm,
Hochschule der Medien Stuttgart
Bildquellen in diesem Beitrag: Fotos von Wolfgang Simlinger