„In komplexen Situationen gibt es keine einfachen Antworten“
Hans-Georg Hausmann ist Trainer für Ethikberatung im Gesundheitswesen. Im Interview erklärt der ausgebildete Gesundheits- und Krankenpfleger, warum ein professionell moderierter Dialog allen Beteiligten bei den oft existenziellen Entscheidungsfindungen helfen kann, wie seine Rolle dabei aussieht und welche ethischen Prinzipien in solchen Fallbesprechungen zum Tragen kommen.
Trotz schlechter gesundheitlicher Voraussetzungen ein gespendetes Organ transplantieren? Einem hochbetagten Menschen eine Ernährungssonde legen und damit eigentlich nur den Sterbeprozess verlängern? Jegliche Möglichkeit der Spitzenmedizin ausschöpfen, obwohl sie im Individualfall kaum Nutzen bringt? Regelmäßig stehen klinische Behandlungsteams vor weitreichenden, oft existenziellen Entscheidungen. Die Konfrontation mit ethischen Fragen ist dabei unvermeidlich. Damit ethisches Handeln nicht vom Bauchgefühl Einzelner abhängt, setzen Spitäler zunehmend auf eine strukturierte Auseinandersetzung mit Dilemmasituationen wie diesen – durch Ethikkomitees, Ethikbeiräte, ethische Konsile. Hans-Georg Hausmann, nach 25 Jahren in der Intensivpflege mittlerweile hauptberuflich Ethikberater am Ordensklinikum Linz Barmherzige Schwestern und Österreichs erster als Trainer für Ethikberatung im Gesundheitswesen zertifizierter Gesundheits- und Krankenpfleger, hat mit INGO über diese schwierige Materie gesprochen
Herr Hausmann, Sie sind am Ordensklinikum Linz sowohl im Ethikberatungsdienst als auch im Ethikkomitee vertreten. Was sind die Aufgaben dieser Teams? Wie unterscheiden sie sich?
Hans-Georg Hausmann: Ethische Fragen sind ein integraler Bestandteil des klinischen Alltags, aber gleichzeitig alles andere als einfach. Instanzen wie die beiden genannten sind dafür da, den Mitarbeiter*innen diesbezüglich Orientierung zu geben. Die Vinzenz Gruppe hat in jedem ihrer Krankenhäuser ein interdisziplinäres Ethikkomitee installiert, das für allgemeine ethische Belange zuständig ist. Etwa für die Identifikation ethisch relevanter Themen und die Bewusstseinsbildung dafür, die Organisation entsprechender Fortbildungsangebote und Veranstaltungen für die Mitarbeiter*innen, die Erarbeitung von Richt- und Leitlinien oder auch die Qualitätssicherung des Ethikprogramms. Es schafft sozusagen die Grundlagen, damit die Ethikarbeit wirken kann. Das Team des Ethikberatungsdienstes wiederum hat die Aufgabe, die behandelnden Ärzt*innen und Pflegenden in konkreten Situationen zu unterstützen. Es kann, indem es zur Klärung beiträgt, der bestmöglichen Entscheidung den Boden bereiten. In manchen Fällen auch unter Einbeziehung der Familienangehörigen und Vertreter*innen anderer klinischer Disziplinen wie Psycholog*innen oder Seelsorger*innen. Beide Arbeitsgemeinschaften werden von einem Ethikkoordinator oder einer Ethikkoordinatorin geleitet.
Wie kann man sich Ihren Arbeitsalltag als klinischer Ethikberater vorstellen?
Als Ethikberater werde ich hinzugezogen, wenn es um klassische Dilemmasituationen geht. Zum Beispiel wenn sich Behandler*innen und Angehörige nicht einig sind und der oder die Patient*in nicht mehr ansprechbar ist. Dann braucht es jemanden, der oder die in der Lage ist, ein Gespräch zu moderieren und eine strukturierte, kritische, klärende Auseinandersetzung mit der jeweiligen Situation einzuleiten, die alle Seiten und Aspekte berücksichtigt. Unter anderem geht es dabei darum, die richtigen Fragen zu stellen. Bei Konflikten braucht es manchmal auch mehrere Gespräche, um einen Konsens zu finden.
"Die Letztentscheidung und -verantwortung liegt immer bei den behandelnden Mediziner*innen."
Welche Fragen müssen geklärt werden?
Wie ist die Ausgangslage? Welche möglichen Folgen hat die Durchführung oder Nichtdurchführung dieser oder jener Therapie? Was ist zumutbar? Welche Handlungsalternativen gäbe es? Was könnte die erkrankte Person selbst gewollt haben? Welche Werte sind ihr im Leben immer wichtig gewesen? Lässt sich das noch ermitteln? Was sind die nächsten Schritte? Ich sorge dafür, dass sämtliche Faktoren, auch zuvor übersehene oder nicht bedachte, beleuchtet werden und alle Sachverhalte, Einschätzungen und Sichtweisen auf den Tisch kommen. Am Ende wird das Ganze protokolliert, rechtsethisch formuliert und in der Krankenakte festgehalten. Wichtig ist: Ethikberater*innen fällen keine Entscheidungen und oktroyieren niemandem etwas auf, sie unterstützen vielmehr durch das systematische Herausfiltern und Ordnen der Einzelheiten, wodurch letztlich ein Gesamtbild entsteht. Daraus lassen sich dann gemeinsam Priorisierungen und Handlungsempfehlungen ableiten. Die Letztentscheidung und -verantwortung liegt immer bei den behandelnden Mediziner*innen.
Welche ethischen Kriterien spielen dabei eine Rolle?
Für die Beurteilung der Handlungsoptionen haben sich vier universelle bioethische Prinzipien etabliert: die Schadensvermeidung, das Patient*innenwohl, Respekt vor der Autonomie der Patient*innen sowie die Gerechtigkeit. Die Amerikaner Tom Lamar Beauchamp und James F. Childess haben sie Ende der 1970er-Jahre entwickelt und dabei auch auf die Bedeutung des Interpretationsspielraums hingewiesen, denn nicht immer harmonieren diese Prinzipien miteinander. Es gilt sie einzeln zu betrachten und dann abzuwägen. Welche Behandlung schadet der betroffenen Person am wenigsten, welche nutzt ihr am meisten? Welche Vorgehensweise ist angesichts der Prognose oder der vorhandenen Ressourcen am ehesten gerechtfertigt? Wie ist es mit der Lebensqualität? Gibt es einen dezidierten Patient*innenwillen und wenn nicht, wie könnte dieser mutmaßlich aussehen? In komplexen Situationen gibt es keine einfachen Antworten, so viel ist klar. Man versucht, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden. Die vier Prinzipien sind dabei eine Art roter Faden.
Was bedeutet Gerechtigkeit in diesem Zusammenhang?
Gerechtigkeit nach Beauchamp und Childess bedeutet einerseits das beständige Bestreben, allen Menschen gerecht zu werden und Diskriminierung zu vermeiden. Es darf keine Rolle spielen, ob Patient*innen beispielsweise übergewichtig, Raucher*innen, Alkoholiker*innen oder sportlich und gesundheitsbewusst sind. Oder ob sie eine psychiatrische Diagnose haben. Dinge wie Geschlecht, Alter, Weltanschauung, Hautfarbe, Religion et cetera selbstverständlich auch nicht. Andererseits ist mit Gerechtigkeit aber auch ein gewissenhafter Umgang mit den verfügbaren Ressourcen und eine gerechte Verteilung an alle gemeint.
Was ist, wenn der Patient*innenwille mit der medizinischen Sinnhaftigkeit in Konflikt steht?
Das Selbstbestimmungsrecht der Patient*innen ist absolut zu respektieren, selbst wenn jemand eine medizinisch sinnvolle Behandlung verweigert. Ein Beispiel: Angehörige einiger Glaubensgemeinschaften lehnen Bluttransfusionen grundsätzlich ab und halten dies auch meist in einer Patient*innenverfügung fest. Es ist zwar wichtig, dass die Ärzt*innen ihn oder sie dann ehrlich und umfassend über die Konsequenzen aufklären, aber gegen seinen oder ihren erklärten Willen können sie letztlich nichts tun. Umgekehrt kann allerdings auch niemand Mediziner*innen dazu zwingen, Behandlungen vorzunehmen, die medizinisch nicht angemessen sind und die sie für wirkungslos oder sogar kontraindiziert halten.
"Manchmal ist es nicht einfach, den Menschen klarzumachen, dass es trotz Spitzenmedizin medizinische Grenzen gibt."
Kommt dies öfter vor?
Ja, gerade in unserer Zeit der rasanten medizinischen Entwicklungen ist es gar nicht so selten, dass Menschen über irgendwelche vielversprechenden Forschungsergebnisse oder Behandlungen gelesen haben und diese vehement einfordern. Oder dass Angehörige das tun, wenn der oder die Patient*in nicht mehr entscheidungsfähig ist. Tatsache ist aber: Nicht jede Therapie ist für jede*n geeignet. Ob sie im Einzelfall wirkt, hängt von vielen Parametern ab, etwa dem Zelltyp, dem Stadium der Erkrankung, dem betroffenen Gewebe, genetischen Faktoren. Manchmal ist es nicht einfach, den Menschen klarzumachen, dass es trotz Spitzenmedizin medizinische Grenzen gibt.
Wie ist es mit lebensverlängernden Maßnahmen?
Das ist ebenfalls eine Frage, die sich in der Kommunikation mit Angehörigen oft stellt: Wie lange schöpft man lebensverlängernde Maßnahmen aus? Ist es zum Beispiel noch vertretbar, eine Ernährungssonde zu legen oder würde das nur einen bereits begonnenen Sterbeprozess hinauszögern, ihn noch dazu quälender gestalten als nötig? Oft geht es darum, zu verdeutlichen, in welche Richtung die Interventionen auf Basis der Fakten realistischerweise gehen können. Wie ist die Prognose? Ist Heilung das Behandlungsziel oder lediglich eine Verzögerung der Erkrankung? Macht eine Operation Sinn? Oder ist nur noch eine Symptom- oder Schmerzbehandlung möglich? Ist vielleicht eine Phase erreicht, wo Sterbebegleitung das Adäquate ist?
Letzteres ist für viele schwer zu akzeptieren, weil die durchaus spektakulären Fortschritte in der Medizin und die heutzutage generell höhere Lebenserwartung manchmal den Blick darauf verstellen, dass der Tod eine unabänderliche Tatsache ist. Das wird leider oft verdrängt in unserer Gesellschaft. Wir sollten aber nicht nur versuchen, ein gutes Leben zu ermöglichen, sondern auch ein gutes Sterben, wenn die Zeit gekommen ist. Ich halte es für sehr wesentlich, sich das zu vergegenwärtigen. Damit ein würdiger, belastungsarmer und möglichst ruhiger Abschied stattfinden kann.
"Als langjähriger Intensivpfleger kenne ich die Grenzsituationen und die schweren Fragen, die sie aufwerfen, sehr gut."
Sie waren 25 Jahre Intensivpfleger und haben sich erst danach für die Ausbildung zum Ethikberater im Gesundheitswesen entschieden. Wie kam es dazu?
Als langjähriger Intensivpfleger kenne ich die Grenzsituationen und die schweren Fragen, die sie aufwerfen, sehr gut. Ich weiß, wie belastend sie für die Einzelnen in den Behandlungsteams sein können. Angesichts dessen empfand ich das Angebot an ethischer Begleitung für Angehörige der Gesundheitsberufe lange Zeit als unzureichend. Dann hat sich innerhalb der Vinzenz Gruppe für mich die Möglichkeit aufgetan, mich in diesem Bereich weiterzubilden. Einerseits habe ich von dem viersemestrigen Aufbaustudium Medizin- und Bioethik an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Johannes-Kepler-Universität erfahren und mich dafür inskribiert, andererseits ist dessen wissenschaftlicher Leiter Privatdozent Jürgen Wallner auch an der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) in Göttingen assoziiert und lehrt seit vielen Jahren unter anderem in der Vinzenz Gruppe deren Ethikberatungscurricula. Ich habe diese Chancen ergriffen und berufsbegleitend beide Ausbildungen gemacht. Dabei hat mich das Ordensklinikum nach Kräften unterstützt. Seit 2022 bin ich nun Professional Master of Medical Ethics (PM.ME.) und heuer habe ich das dritte Modul der AEM abgeschlossen. Die ersten beiden AEM-Module sind eine Basis- und eine erweiterte Ausbildung für Ethikberater*innen, das dritte Modul zertifiziert zum Trainer für Ethikberatung im Gesundheitswesen. Alles in allem hat mein Weiterqualifizierungsweg fünf intensive Jahre gedauert, die ich als sehr bereichernd erlebt habe.
Wie ergänzen sich diese beiden Ausbildungen? Und wie sind die Perspektiven für Pflegepersonen, die sich in Ethik spezialisieren wollen?
Das Universitätsstudium war für mich gewissermaßen der theoretische und philosophische Unterbau. Es ist auch Voraussetzung für das dritte Modul der AEM-Ausbildung, das mit dem Trainer*innenzertifikat abschließt. Für diese letzte Kompetenzstufe muss man ein Ethikstudium – zum Beispiel im Rahmen der Theologie, Philosophie oder Rechtswissenschaften – sowie umfassende Praxiserfahrung vorweisen. Für die ersten beiden Module der AEM-Ausbildung braucht man kein Studium, sie bereiten auf die praktischen Funktionen im Krankenhaus vor. Das erste Modul qualifiziert die Absolvent*innen für den Einsatz als Ethikberater*in, aber auch zur Mitwirkung in Ethikgremien. Das zweite Modul schließt man als Koordinator*in für Ethikberatung im Gesundheitswesen ab, es befähigt zu leitenden Tätigkeiten. Die Karriereperspektiven für Pflegepersonen in dieser Spezialisierung sind somit breit. Die Grundausbildung zur Ethikberatung haben auch schon relativ viele Pflegepersonen gemacht.
Unter den Trainer*innen für Ethikberatung sind Sie aber die erste Pflegeperson in Österreich.
Stimmt. Allerdings gibt es generell erst vier Trainer*innen für Ethikberatung im Gesundheitswesen in unserem Land.
Macht diese zusätzliche Kompetenzstufe Ihre Arbeit besonders facettenreich?
Ja richtig. Ich freue mich, dass ich jetzt auch angehende Ethiberater*innen unterrichten kann, zum Beispiel demnächst an der Karl Landsteiner Universität und natürlich unter dem Dach der Vinzenz Gruppe. Meine Arbeit als Ethikberater ist aber auch abgesehen davon facettenreich. Neben den geschilderten Fallbesprechungen auf Zuweisung und den schweren Themen gehören beispielsweise auch die Agenden der interkulturellen Integration am Ordensklinikum zu meinen Tätigkeiten. Im Gesundheitssystem werden wir künftig mehr Mitarbeiter*innen aus anderen Nationen, auch aus Nicht-EU-Staaten haben. Es ist wichtig, diese beim Integrationsprozess gut zu begleiten und ihnen den Einstieg und das Leben hier zu erleichtern. Als Mitglied des Ethikkomitees habe ich außerdem eine Reihe organisatorischer Aufgaben.
Ist die Ethikarbeit im Gesundheitswesen ein junges Gebiet? Ist das Ordensklinikum Linz hier eine Vorreiterin?
Berührungspunkte mit Ethik hatte das Gesundheitswesen natürlich schon immer. Aber ich denke, dass diese strukturierte, transparente, professionalisierte Form der Ethikarbeit eher eine jüngere Entwicklung ist. Es haben ja noch lange nicht alle heimischen Krankenhäuser Ethikkomitees. Aufgrund ihrer christlichen Werte zählen die Ordensspitäler hier zweifellos zu den Pionierinnen. Im Ordensklinikum Linz Barmherzige Schwestern zum Beispiel ist bereits seit 15 Jahren ein Ethikkomitee aktiv. Aus der Zeit des Übergangs der Ordensspitäler in die weltlich geführte Vinzenz Gruppe stammt auch ein Ethikkodex. Er geht auf die Kongregation der Barmherzigen Schwestern zurück und wurde inzwischen bereits zweimal weiterentwickelt und überarbeitet. Ergänzend erarbeiten die Ethikbeauftragten der Häuser Leitlinien und Empfehlungen für konkrete Fragestellungen.
Wie schöpfen Sie Kraft für Ihre Arbeit?
Am meisten Kraft gibt mir die Überzeugung, in meiner Tätigkeit genau am richtigen Platz zu sein. Ich kann hier mein Wesen einbringen, denn ich habe mich schon von Kindesbeinen an für die philosophischen Fragen des Lebens und des Sterbens interessiert und immer viel darüber nachgedacht. Ich kann hier aber auch meine gesamte Lebenserfahrung einsetzen: die berufliche als Intensivpfleger, die private als Sohn, der beide Eltern beim Sterben begleitet hat. Eine Empathie, die aus der eigenen Erfahrung kommt, auch im Beruf leben zu können, ist ein gutes Gefühl. Und dass diese gestützt von profundem Fachwissen ist, gibt mir Sicherheit.
Interview: Uschi Sorz; Fotos: Ordensklinikum Linz Barmherzige Schwestern, www.de.depositphotos.com
Hans-Georg Hausmann, DGKP, PM.ME.
Ethikberater am Ordensklinikum Linz Barmherzige Schwestern
Hausmann ist diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger (DGKP) und war 25 Jahre lang in der Intensivpflege tätig. Zunächst im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, danach 14 Jahre am Ordensklinikum Linz Barmherzige Schwestern, wo er seit Beginn 2023 hauptberuflich als Ethikberater tätig ist. Berufsbegleitend hat er an der Johannes-Kepler-Universität (JKU) Medizin- und Bioethik studiert und 2022 den Professional Master of Medical Ethics (PM.ME.) erworben. Parallel hat er die Ausbildung zum Ethikberater und zum Trainer für Ethikberatung im Gesundheitswesen der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) absolviert. Unter anderem unterrichtet er an der Karl Landsteiner Privatuniversität in Krems.