„Es muss mehr Geld ins System“
Lange Wartezeiten, Personalknappheit, Versorgungslücken und ein gewaltiges Budgetloch: Das österreichische Gesundheitssystem steht vor großen Herausforderungen. Im INGO-Interview spricht der Präsident der Österreichischen und der Wiener Ärztekammer OMR Dr. Johannes Steinhart über notwendige Weichenstellungen und den Wert der Freiberuflichkeit, warnt vor weiteren Einsparungen im Gesundheitssystem und fordert mindestens 1.000 zusätzliche Kassenverträge.
Herr Präsident Steinhart, wie beurteilen Sie die aktuelle gesundheitspolitische Situation?
Johannes Steinhart: Die Ergebnisse der Nationalratswahlen lassen aus heutiger Sicht recht langwierige Koalitionsverhandlungen befürchten. In dieser entscheidenden Phase ist es wichtig, der Politik klar zu machen, welche für die Zukunft der Gesundheitsversorgung bedeutsamen Weichenstellungen auf sie zukommen. Wir wissen aus Erfahrung, aber auch aus Umfragen, zuletzt aus einer für den Austrian Health Report, was Patient*innen wollen: Nämlich Versorgungssicherheit, kürzere Wartezeiten auf Termine im Krankenhaus und in der Kassenordination, und ein starkes solidarisches Gesundheitssystem. Sieben von neun politischen Parteien haben gegenüber dem ORF betont, dass Gesundheit und Pflege in ihrem Wahlprogramm an oberster Stelle stehen. Daran werden wir die Politik auch in den kommenden Wochen und Monaten erinnern.
Bereitet Ihnen die budgetäre Lage Sorgen?
Johannes Steinhart: Ja. Die aktuellen Berichte um ein Milliardenloch im österreichischen Budget lassen ein gewaltiges Sparpaket erwarten. Doch der Gesundheitsbereich ist kein Budgetposten wie jeder andere. Weitere Einsparungen in einem Gesundheitssystem, das ohnehin seit Jahren durch so genannte Kostendämpfungspfade und dergleichen belastet wird, hätten böse Folgen für die Versorgung für Generationen. Einige Baustellen im Gesundheitssystem müssen dringend bearbeitet werden. Stichworte sind hier die Personalknappheit in den Spitälern, der Mangel an Kassenverträgen, unzureichender Nachwuchs in einigen medizinischen Fächern, und dergleichen mehr. Die Behebung solcher Mängel, die in einem wohlhabenden Land wie Österreich nicht vorkommen dürften, wird und muss einiges kosten.
Sie kritisieren häufig die Privatisierungs- oder Konzernisierungs-Tendenzen in der Medizin. Warum?
Johannes Steinhart: Mein Ansatz ist klar: Ich stehe für ein starkes solidarisches Gesundheitssystem, für die bestmögliche Versorgung der Menschen und für die Freiberuflichkeit von Ärzt*innen. Patient*innen haben ein Recht darauf, dass sie von Ärzt*innen behandelt werden, für die der höchste geltende Grundsatz die bestmögliche medizinische Behandlung ist. Und nicht die Profit-Interessen eines Investors. Ärzt*innen sollen nach medizinischen Kriterien vorgehen können, ohne Vorgaben von Controllern und Betriebswirten befolgen zu müssen. Das bedeutet für mich: Der Arztberuf ist ein Freier Beruf, und von dieser Freiberuflichkeit brauchen wir mehr und nicht weniger, und dafür kämpfe ich politisch.
Wie könnte der auch international zu beobachtenden Trend zu Konzernisierung im Gesundheitswesen gestoppt werden?
Johannes Steinhart: Österreich braucht eine gesetzliche Barriere zum Schutz unseres solidarischen Gesundheitssystems. Gesundheit darf nicht zu einem Spekulationsobjekt werden, mit dem gewinnorientierte Investoren satte Gewinne einfahren können, indem sie bei den Versorgungsleistungen für alte und kranke Menschen sparen. Schließlich gibt es inzwischen eine Reihe internationaler abschreckender Beispiele, und wir müssen ja nicht unbedingt jeden Fehler selber machen. Beim Nachbarn Deutschland kann man sehen, wohin der Weg führt. In den Bereichen Labormedizin, Zahnmedizin, Pflege oder auch im Apothekensegment haben sich inzwischen Konzerne im großen Stil eingekauft, die ausschließlich gewinnorientiert vorgehen. Sie konzentrieren sich auf die lukrativsten Bereiche und Operationen, erlangen marktbeherrschende Stellungen und verteuern und ruinieren schließlich das Gesundheitssystem. Nicht lukrative Untersuchungen und Behandlungen werden aufgeschoben oder unterlassen. Das ist nicht der Weg, den man wollen sollte. Es wäre verantwortungslos, unsere Gesundheitsversorgung abzuverkaufen und damit anhaltend zu beschädigen: Staat, Patient*innen, Ärzt*innen – alle würden am Ende draufzahlen. Um das zu verhindern, brauchen wir schnell eine Kurskorrektur durch die Politik.
Wie sehen Sie den Stellenwert der Ordensspitäler in der Gesundheitsversorgung?
Johannes Steinhart: In mehreren Regionen Österreichs ist eine Gesundheitsversorgung ohne Ordensspitäler nicht vorstellbar, und das bereits seit Jahrhunderten. Sie liefern eine sehr gute medizinische Versorgung zu einem für die Länder attraktiven Preis, sie sind offen für technische Innovationen, sie entwickeln die Qualität weiter und bemühen sich außerdem, humanistische Werte zu leben. Dass Ordensspitäler zum Teil jetzt auch Primärversorgungseinheiten in ihrer räumlichen Nähe betreiben, bringt Synergien und erweitert die Angebote für Patient*innen. Nach meiner Überzeugung ist es wichtig, dass hier die Kontrolle auch in Zukunft bei Ärzt*innen bleibt. Ein gutes Mittel wäre, bei der Vergabe von Kassenverträgen analog dem PVE-System freiberufliche Ärzt*innen zu bevorzugen.
Wie sollen Krankenhäuser entlastet werden?
Johannes Steinhart: Zentral ist etwa eine Patient*innenlenkung. Diese würde das System bald entlasten und die Finanzierung wieder auf gesündere Beine stellen. Wenn Patient*innen sofort zur für sie optimalen Versorgung gelangen, hat das nicht nur für sie Vorteile, es werden auch weniger Ressourcen vergeudet. Die Ärztekammer hat bereits eine Reihe von Vorschlägen gemacht, beispielsweise die Stärkung des Kassenarztsystems durch mehr Fachärzt*innen mit Kassenverträgen oder die in Wien etablierten Erstversorgungsambulanzen in den Wiener Spitälern. Grundsätzlich kann Entlastung der Spitäler nur funktionieren, wenn es genügend niedergelassene Ärzt*innen gibt, idealer Weise solche mit Kassenvertrag. Ich warne seit fast 15 Jahren vor einem Ärzt*innenemangel, Politik und Kassen haben das zunächst belächelt und wertvolle Zeit vergeudet. Die Ärztekammer fordert mindestens tausend zusätzliche Kassenverträge, um einer wachsenden und älter werdenden Gesellschaft gerecht zu werden, aber umsetzen müssen das die Sozialversicherungen.
Erwarten Sie sich von der Künstlichen Intelligenz Entlastungen im Gesundheitssystem?
Johannes Steinhart: Die KI wird wohl in Krankenhäusern und Ordinationen vieles durcheinanderwirbeln. Das Potenzial von KI ist groß. Geforscht wird in viele Richtungen, zum Beispiel um Diagnosen und Therapien zu verbessern, um Krankheiten und Fehlentwicklungen schneller festzustellen, um die personalisierte Therapiewahl weiterzuentwickeln, und um neue Medikamente zu erforschen. Bei der Bildanalyse sind die KI-Systeme schon weit entwickelt. KI wird auch eingesetzt, um Ärzt*innen und das nichtärztliche Personal in Praxen, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen administrativ zu entlasten. Sprach- oder Chatbots übernehmen zum Beispiel die Terminvereinbarung, KI bringt die Nacherstellung von Rezepten auf den Weg, verfasst Arztbriefe oder unterstützt eine automatisierte Dokumentation.
Das alles ist beeindruckend und hat eine Reihe von Konsequenzen. Zum Beispiel Fragen der Haftung, der Rechtssicherheit und des Datenschutzes. Das Berufsbild von Ärzt*innen wird sich wohl verändern, die ärztliche Ausbildung wird angepasst werden müssen, etc. KI kann aus heutiger Sicht Ärzt*innen ergänzen, aber nicht ersetzen: Sie müssen KI-basierte Befunde immer als letzte Instanz prüfen und einordnen, um eine adäquate Behandlung sicherzustellen. Ärzt*innen erfüllen auch eine soziale, humanistische Funktion, die KI nie erreichen kann.
Die KI-Entwicklungen sind in der Medizin nicht aufzuhalten. Umso wichtiger ist es, dass Ärzteschaft und Politik die sich dieses Themas annehmen und die Entwicklungen möglichst mitbestimmen, damit wir nicht von der KI-Welle überrollt werden. Das steht ganz oben auf meiner Agenda als Ärztekammer-Präsident.
Ihre Empfehlungen an die Player im österreichischen Gesundheitssystem?
Johannes Steinhart: Da gibt es einige, und wir richten uns damit ja auch regelmäßig an die Öffentlichkeit. Auf den Punkt gebracht: Es muss mehr Geld ins System, eine gute Gesundheitsversorgung ist nicht billig zu haben. Es geht aber nicht nur um Geld: An Ärzt*innen und Pflegekräften besteht ein internationaler Bedarf und es gibt einen globalen Wettbewerb um sie. Die Arbeitsbedingungen in Österreich müssen deshalb so attraktiv sein, dass wir in diesem Wettbewerb bestehen und sie gerne hier arbeiten.
Interview: Birgit Kofler
Foto: Oliver Topf