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Gesundheit
Österreich
25.09.2024

„Wir brauchen eine Kultur des freien, innovativen Denkens“

Seit 15. Februar 2024 ist Andrea Kurz Rektorin der Medizinischen Universität Graz. Im INGO-Interview erklärt die renommierte Wissenschaftlerin, warum ihr wichtig ist, dass Mitarbeiter*innen offen ihre Meinung äußern, wie sich die Versorgung innovativ weiterentwickeln sollte und was für eine qualitätsvolle Ausbildung des medizinischen Nachwuchses erforderlich ist. 

Sie sind seit Februar als Rektorin der Medizinischen Universität Graz im Amt. Welche Initiativen konnten Sie in diesem halben Jahr schon anstoßen?

Andrea Kurz: Wir haben schon etliche Vorhaben eingeleitet. Es ist mir wichtig, Impulse für einen Kulturwandel zu geben. Das betrifft viele Bereiche. Zentral sind aus meiner Sicht Personalentwicklung und Personalmanagement, hier haben wir schon einige Prozesse initiiert. Wir haben die Umstrukturierung verschiedener Kliniken und Institute in Angriff genommen, auch, um sie an internationale Benchmarks heranzuführen. Andere Beispiele betreffen Nachhaltigkeits-Projekte oder eine neue Innovationsgruppe, die sich mit Erfindungen unserer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigt, bis hin zur Einrichtung von Start-ups. Wir bemühen uns um eine verstärkte Zusammenarbeit mit den anderen Grazer Universitäten. Und es tut sich viel in Bezug auf Lehre und Studium. Wir überarbeiten das Curriculum und versuchen auf den Punkt zu bringen, wie wir die Studierenden noch besser unterstützen können. Ein ganz besonderes Anliegen ist es mir, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu ermutigen, innovativ und frei zu denken. Ich will die Weichen so stellen, dass alle sich sicher fühlen, ihre Meinungen offen zu äußern, ohne Sorge vor negativen Konsequenzen. Die Ideen und der Innovationsgeist unserer sehr, sehr guten Mitarbeitenden müssen Raum haben.

Sie haben in der Schweiz gelebt und viele Jahre in den USA. Was war denn – in Bezug auf die universitären Strukturen und das Gesundheitssystem – für Sie am gewöhnungsbedürftigsten bei der Rückkehr nach Österreich?

Andrea Kurz: Ein gewisser Kulturschock war das durchaus. Im Gegensatz zu den USA sehe ich hier, dass bei einem Vorhaben oft erst einmal alle Gründe genannt werden, warum etwas nicht möglich ist. Oder dass bei Veränderung reflexhaft mehr Ressourcen und mehr Geld eingefordert werden. Man kann Prozesse ja auch so umstrukturieren, dass sie ohne mehr Ressourcen besser werden. Die Flexibilität und die Anpassungsfähigkeit des Gesundheitssystems oder der Institutionen sind hierzulande vergleichsweise wenig ausgeprägt. Die Bereitschaft, „out of the box“ zu denken, Leistung anzuerkennen ist in den USA sicher stärker vorhanden, auch auf akademischer Ebene. Wobei ich auch vieles kritisch sehe, besonders was die US-Gesundheitsversorgung betrifft. 

Zurück zu den österreichischen Medizin-Universitäten. Einerseits sind sie gefordert, Spitzenmedizin und Spitzenforschung zu machen, andererseits sind sie in die Basisversorgung eingebunden. Ist dieser Spagat machbar oder brauchen sie ein präziseres Profil?

Andrea Kurz: Dieser Spagat ist sehr schwer zu bewerkstelligen. Die Universitätskliniken sollten einen Mehrwert liefern, indem sie Spitzenmedizin machen, indem sie weniger häufige Erkrankungen behandeln, für die es eine spezielle Expertise braucht. Unter den aktuellen Gegebenheiten des österreichischen Gesundheitssystems übernehmen wir aber häufig die Versorgung von Patientinnen und Patienten, die keine spezialisierten Zentren benötigen, oder die sogar überhaupt extramural versorgt werden könnten. Hier muss sich etwas ändern. Ich verstehe, dass Menschen, die keinen niedergelassenen Arzt finden, sich an das Spital wenden, aber das ist kein sinnvoller Einsatz der Ressourcen. 

Neben dem Problem der zersplitterten Finanzierung ist eine Hauptklage über das österreichische Gesundheitssystem das mangelhafte Zusammenspiel zwischen intra- und extramuralem Bereich. Welche Rezepte gibt es hier aus Ihrer Sicht? Können vorgelagerte Versorgungseinheiten zum Beispiel die Universitätskliniken entlasten?

Andrea Kurz: Hier gibt es recht hilfreiche Ansätze. Vorgelagerte Einheiten der Basisversorgung können relativ schnell verwirklicht werden und effektiv Entlastung für die Klinik-Ambulanzen schaffen. Wir haben in Graz im Bereich der Kinderklinik so ein Modell der vorgelagerten Erstbegutachtung. So wichtig solche Initiativen sind, mittel- und langfristig ist eine gute Versorgung der Regionen entscheidend. Da geht es nicht immer nur um Ärztinnen und Ärzte, auch mit Hilfe der Pflege, Physiotherapeutinnen und -therapeuten und anderen Berufsgruppen kann die wohnortnahe Versorgung optimiert werden. Auch die Telemedizin hat wichtiges Potenzial. Es werden viele Elemente ineinandergreifen müssen. Dazu gehören auch Strukturen, die sich um Menschen kümmern, die aus dem Krankenhaus nach Hause kommen. An all diesen Dingen müssen wir noch intensiver arbeiten. 

"Vorgelagerte Einheiten der Basisversorgung können relativ schnell verwirklicht werden und effektiv Entlastung für die Klinik-Ambulanzen schaffen."

Neben den öffentlichen Medizin-Universitäten in Graz, Innsbruck und Wien bzw. der Fakultät in Linz haben oder planen immer mehr Bundesländer ihre eigenen privaten Einrichtungen. Ist diese regelrechte Inflation sinnvoll?

Andrea Kurz: Ich halte das aus mehreren Gründen nicht für zweckmäßig. Zum einen sollten Privatuniversitäten tatsächlich aus privaten Mitteln finanziert werden. Wir sehen hier aber Modelle, bei denen die Finanzierung einer sogenannten Privatuniversität auch aus Landesmitteln erfolgt. Öffentliche Mittel sollten zur Stärkung der bestehenden öffentlichen Universitäten eingesetzt werden. Zudem müssen wir die Qualität der Universitäten und der Ausbildung der jungen Menschen absichern. Da haben die gewachsenen akademischen Einrichtungen natürlich ganz andere Voraussetzungen.

Apropos Ausbildungsqualität: Bereitet Ihres Erachtens das Medizinstudium bestmöglich auf den Beruf vor? Es wird immer wieder diskutiert, dass zum Beispiel Management- oder unternehmerische Skills nicht ausreichend vorkommen. 

Andrea Kurz: Gerade bei Management- und Führungskompetenz setzt sich zunehmend die Einsicht durch, dass das ein wichtiger Teil der Ausbildung sein muss. Wir bieten zum Beispiel in Graz in unserem Diplomstudium Humanmedizin Wahlfächer im Bereich Entrepreneurship, Gründungen oder Innovation an. Wir bewegen uns in die richtige Richtung. Generell steht das österreichische Medizinstudium im internationalen Vergleich nicht schlecht da. 

Die Diskussion über einen Ärzt*innenmangel und die bevorstehende Pensionierungswelle bei Mediziner*innen begleitet uns ständig. Brauchen wir mehr Studienplätze?

Andrea Kurz: Das muss man differenziert betrachten. Von der Anzahl der Köpfe aus gesehen, wäre die Zahl der Studienplätze wahrscheinlich ausreichend. Allerdings wollen immer mehr junge Menschen nicht in Vollzeit arbeiten. So gesehen werden wir wohl über kurz oder lang mehr Studienplätze brauchen, um ausreichend Vollzeitäquivalente zu bekommen. Dies wird bereits jetzt im Rahmen von Uni-Med-Impuls 2030 umgesetzt. Aber es ist nicht nur die Anzahl, es geht natürlich auch um die Verteilung, in die richtigen Fächer, in die richtigen Regionen. 

Sie haben in Ihrer Inaugurationsrede unter anderem über die Wichtigkeit von gemeinsamen Werten gesprochen. Welche sind Ihnen besonders wichtig? 

Andrea Kurz: Das fängt bei eigentlich einfachen Dingen an wie Menschlichkeit und Vertrauen. Es geht mir auch um Werte wie Respekt, Akzeptanz, Hilfsbereitschaft, Empathie, Transparenz - nicht zuletzt aber auch um den Mut für Neues. Gestaltungsdrang und Offenheit treiben uns im akademischen Umfeld an.

Wie soll am Ende Ihrer Amtszeit die Medizinische Universität Graz dastehen?

Ich wünsche mir, dass sie dann als national und international exzellent vernetztes spitzenmedizinisches Zentrum bekannt ist, an dem akademische Freiheit gelebt wird, an dem schon Studierende wirklich kritisch sind, an dem frei denkende Medizinerinnen und Mediziner ausgebildet werden, an dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Möglichkeit haben, ohne Vorbehalte innovativ zu arbeiten und auf das die Gesellschaft hier in der Steiermark stolz ist.

Interview: Birgit Kofler

Fotos: Med Uni Graz/ Lunghammer

Andrea Kurz, Assoc.-Prof.in Dr.in

Rektorin der Medizinischen Universität Graz

Andrea Kurz ist gebürtige Wienerin, sie absolvierte ihr Medizinstudium sowie ihre Ausbildung zur Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin an der Medizinischen Universität Wien, an der sie sich auch habilitierte. Sie hatte zahlreiche Führungsfunktionen im universitären und klinischen Bereich inne, etwa die Leitung der Division for Clinical Research an der Washington University oder die Funktion als Ordinaria und Professorin für Anästhesiologie am Inselspital – Universitätsspital Bern. Andrea Kurz leitete die Abteilung für allgemeine Anästhesiologie an der renommierten Cleveland-Klinik in den USA und war dort bis zur ihrem Wechsel nach Graz Vizedirektorin für Forschung an der Klinik für Anästhesiologie. Seit rund 25 Jahren betreibt sie klinische Forschung auf höchstem Niveau und hat mehr als 250 wissenschaftliche Arbeiten publiziert, darunter in renommierten Fachzeitschriften wie dem New England Journal of Medicine oder Lancet.

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