„Wir müssen Spitäler von Aufgaben entlasten, die dort nicht primär hingehören“
Mit der Novelle des Primärversorgungsgesetzes wird der Ausbau der Primärversorgungseinrichtungen (PVE) deutlich beschleunigt. Bis 2025 soll es österreichweit mindestens 121 PVE geben. Gesundheitsminister Johannes Rauch bezeichnet dieses Vorhaben als "Projekt Bergdoktor", erklärt gegenüber INGO die Hintergründe – und benennt mögliche Hürden.
Warum wird der Fokus bei der medizinischen Grundversorgung auf die Primärversorgungseinrichtungen gelegt?
Johannes Rauch: In den letzten Jahren hat sich das österreichische Gesundheitssystem zunehmend in Richtung Zwei-Klassen-Medizin entwickelt. In einigen Regionen und Fächern spüren die Menschen den Mangel an Kassenärztinnen und -ärzten. Gerade für Menschen mit geringem Einkommen ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung dadurch schwieriger geworden. Die Stärkung des niedergelassenen Bereichs ist einer der zentralen Bausteine bei der Reform des Gesundheitswesens. Uns ist nun ein entscheidender Schritt zum Ausbau der Gesundheitsversorgung in Wohnortnähe gelungen, denn mit der Novelle des Primärversorgungsgesetzes beschleunigen wir den Ausbau der ärztlichen Versorgung vor allem am Land.
Welche konkreten Vorteile bieten Primärversorgungszentren – sowohl für Patient*innen als auch für Ärzt*innen?
Die Patient*innen profitieren vom deutlich erweiterten Leistungsangebot und längeren Öffnungszeiten, zum Beispiel abends oder auch am Wochenende. Die multiprofessionellen Teams in PVE bestehen jedenfalls aus Hausärzt*innen, Krankenpfleger*innen, Gesundheits- und Assistenzpersonal. Je nach Bedarf und Möglichkeit können auch Kinderärzt*innen eingebunden werden. Zusätzlich kann das Team durch Angehörige weiterer Gesundheitsberufe wie zum Beispiel Physiotherapeut*innen, Hebammen, Psychotherapeut*innen oder Sozialarbeiter*innen unterstützt werden. Durch die Zusammenarbeit im Team geht das Modell der Primärversorgungszentren auch auf die aktuelle Lebensrealität der Ärzt*innen und Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen ein. Das gemeinschaftliche Arbeiten im Team und die flexibel gestaltbaren Arbeitszeiten in PVEs bieten eine bessere Work-Life-Balance und daher attraktive Arbeitsbedingungen.
Ein Streitpunkt bei Reformen und Initiativen ist stets die Finanzierung. Wie sieht diese beim Versorgung-Ausbau aus?
Die Finanzierung von PVE erfolgt in erster Linie auf Landesebene durch die Krankenversicherungsträger und die Länder. Uns ist es aber gelungen, zusätzlich 100 Millionen Euro an Förderungen aus dem Aufbau- und Resilienzplan (Recovery and Resilience Facility) der EU zu lukrieren. Die Umsetzung der eingereichten Projekte muss innerhalb von drei Jahren nach Zusage stattfinden. Mein dezidiertes Ziel ist eine Verdreifachung bis zum Jahr 2025 auf 121 PVE.
Das Primärversorgungsgesetz wurde bereits 2017 verabschiedet. Warum wurde die aktuelle Novelle notwendig?
Der Prozess zur Errichtung neuer PVE hat oft viel Zeit in Anspruch genommen. Bisher war ja in jedem Fall ein Einverständnis der Ärztekammer zur Ausschreibung einer PVE notwendig. Jetzt beschleunigen wir die Gründung: Sind in einer Versorgungsregion zwei Kassenstellen von Allgemeinmediziner*innen oder Kinderärzt*innen unbesetzt, haben Ärztekammer und Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) künftig sechs Monate Zeit, neue Ärzt*innen zu finden. Danach können die Landesregierung und ÖGK gemeinsam zur Bewerbung für eine Primärversorgungseinheit einladen.
Was hat in der Vergangenheit nicht so funktioniert wie erhofft?
Primärversorgungseinheiten sind eine relativ neue Versorgungsform in Österreich. Wir haben gesehen: Die Einrichtung eines neuen Primärversorgungszentrums hat einfach zu lange gedauert, auch weil es bei vielen Projekten Einwände aus der Ärzteschaft gegeben hat. Jetzt senken wir die Hürden und wir geben auch Kinderärzt*innen die Möglichkeit, eine solche Einrichtung zu gründen.
Sie haben Kritik an der Ärztekammer geäußert. Diese bremse Reformen im Gesundheitswesen. Welche Kritikpunkte gibt es hier konkret – insbesondere in Bezug auf Primärversorgungszentren sowie flächendeckende Versorgung?
Die Ärztekammer ist eine gewichtige Vertreterin der Interessen der Ärztinnen und Ärzte. Von Primärversorgungseinrichtungen profitieren auch viele Ärztinnen und Ärzte, die sich ein Arbeiten im Team mit einer vernünftigen Work-Life Balance wünschen. Ich verstehe den Widerstand nicht.
"Ich verstehe den Widerstand der Ärztekammer nicht."
Wo liegen künftig die Hauptprobleme hinsichtlich einer Umsetzung der flächendeckenden ärztlichen Versorgung?
Wir müssen alle gemeinsam dafür sorgen, dass in Österreich alle Menschen – unabhängig ihres Status, unabhängig ihres Einkommens, unabhängig ihres Geschlechts oder der sexuellen Orientierung – eine gute medizinische Versorgung erhalten. Wir haben viele engagierte Ärzt*innen und Personen in unterschiedlichen Gesundheitsberufen. Leider arbeiten zu wenige im Kassenbereich. Auch in bestimmten Fächern - etwa der Kinder- und Jugendpsychiatrie - haben wir einen Mangel an Ärztinnen und Ärzten. Wir müssen massiv auch in die Vorsorge investieren. Das erspart vielen Menschen Krankheit und Leid und dem Gesundheitssystem enorme Kosten.
Worin liegen die konkreten Unterschiede zwischen der medizinischen Versorgung in Städten und jener im ländlichen Bereich?
Wir haben in vielen ländlichen Regionen einen Mangel an Kassenärztinnen und -ärzten. Wer sich keinen Wahlarzt leisten kann, hat einen Nachteil bei der medizinischen Versorgung. Das ist ein echtes Problem. Jetzt legen wir den Turbo bei der Primärversorgung ein. Nach jahrelanger Diskussion beschleunigen wir die Gründung deutlich und stellen damit sicher, dass jede Bürgerin und jeder Bürger künftig Zugang zu Gesundheitsversorgung in Wohnortnähe hat.
"Wer zur Ärztin oder zum Arzt geht, muss die E-Card mitnehmen, nicht die Kreditkarte."
Wie kann die Politik hier gleiche Grundlagen schaffen?
Wer zur Ärztin oder Arzt geht, muss die E-Card mitnehmen, nicht die Kreditkarte. Wir müssen das öffentliche, solidarisch finanzierte Gesundheitssystem stärken, damit alle Menschen in Österreich eine gute, wohnortnahe Gesundheitsversorgung erhalten. Wir müssen uns wieder darauf besinnen, die Patient*innen in den Mittelpunkt zu stellen. Neue, flexible Arbeitszeit- und Anstellungsmodelle sowie ein Öffnungszeiten- und Wartezeitenmonitoring im niedergelassenen Bereich werden ebenfalls Verbesserungen bringen.
Inwieweit profitieren Spitäler von Primärversorgungszentren?
PVE sollen einen leichteren Zugang zur medizinischen Versorgung für die Bevölkerung ermöglichen – wohnortnahe und mit erweiterten Öffnungszeiten. Damit entlasten sie gleichzeitig auch Spitalsambulanzen. Wenn das Team meiner Hausärztin, meines Hausarztes vor der Tür ist, muss ich nicht unbedingt ins nächste Krankenhaus fahren und dort lange Wartezeiten in Kauf nehmen, um zum Beispiel aufgrund eines Infekts behandelt zu werden.
Welche Rolle spielen Spitäler in der Grundversorgung?
Der Hausarzt oder die Hausärztin ist als „primary care provider“ Gesundheitsmanager*in und primär vertrauensvolle Ansprechpartner*in in allen Gesundheitsfragen. Sie sind die Drehscheibe im Gesundheitssystem, damit haben sie im System die Schlüsselstelle. Als Erstversorger*innen erstellen sie die wichtigsten Befunde selbst, koordinieren und beraten in der Zusammenschau der Befunde die ihnen anvertrauten Patient*innen. Danach erfolgt, wo nötig, eine Überweisung zum Facharzt/ zur Fachärztin oder zur ambulanten oder stationären Behandlung im Spital. Unsere Spitäler brauchen wir für Operationen und viele wichtige Behandlungen von Patient*innen. Damit sie diese Aufgabe gut erfüllen können, müssen wir sie von Aufgaben entlasten, die dort nicht primär hingehören.
Welche weiteren Schritte zum Ausbau der Grundversorgung sind notwendig?
Österreich hat im internationalen Vergleich eine hohe Dichte an Ärztinnen und Ärzten. Einen Mangel gibt es nur in bestimmten Bereichen, etwa bei Kassenstellen oder in bestimmten Disziplinen wie der Allgemeinmedizin. Mit der Einführung des Facharztes beziehungsweise der Fachärztin für Allgemein- und Familienmedizin erhoffen wir uns eine klare Aufwertung der Allgemeinmedizin und damit eine erhöhte Attraktivität für Medizinstudent*innen. Auch in anderen Berufsfeldern - etwa der Pflege - müssen wir die Arbeitsbedingungen so attraktiv gestalten, dass Menschen diese Berufe mit Freude ergreifen. Nur so können wir langfristig für Entlastung sorgen und dem bestehenden Personal, das schon seit langer Zeit an der Belastungsgrenze arbeitet, zu besseren Arbeitsbedingungen verhelfen. Die Pflegereform bringt mit insgesamt 20 Maßnahmen bessere Arbeitsbedingungen. Das bedeutet mehr Geld, mehr Urlaub und bessere Konditionen bereits ab der Ausbildung. Wir erleben gerade europaweit einen Fachkräftemangel, der derzeit vor allem im Gesundheitswesen sichtbar wird. Es muss uns daher auch gelingen, mehr Menschen für einen Arbeitsplatz in der Pflege zu begeistern und gezielt Fachpersonal anzuwerben.
Was ist dazu noch geplant?
Einen Hebel für weitere Reformen im Gesundheitswesen bietet der heurige Finanzausgleich. Das ist die Aufteilung finanzieller Mittel zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Der Finanzausgleich wird nur alle vier bis sechs Jahre neu verhandelt, deshalb ist es umso wichtiger, dass wir diese Chance nutzen, um unser Gesundheitssystem zukunftsfit zu gestalten. Ich wäre froh, wenn es gelingt, Gesundheitsförderung, Prävention und Gesundheitskompetenz als zentrale Aspekte eines zeitgemäßen Gesundheitssystems zu begreifen und dementsprechend mitzuberücksichtigen. Auch die Digitalisierung ist ein wichtiger Faktor, der in der zukünftigen Planung mehr Augenmerk benötigt.
Interview: Michi Reichelt; Fotos: Johannes Rauch (© Peter Buchgraber, www.fotobuchgraber.at)/Porträt Johannes Rauch (© BMSGPK/Marcel Kulhanek)
Johannes Rauch,
Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz
Rauch wurde 1959 in Rankweil (Vorarlberg) geboren, wo er nach seinem Handelsschul-Abschluss als Bankkaufmann arbeitete. In den Jahren 1983-1987 absolvierte er die Akademie für Sozialarbeit in Bregenz (DSA); danach war er zehn Jahre als diplomierter Sozialarbeiter tätig. Seine politische Karriere umfasst unter anderem die Tätigkeit als Vorarlberger Landesrat (2014-2022), bevor er am 8. März 2022 das Amt des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz übernahm. Johannes Rauch ist verheiratet und Vater zweier Töchter.