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Gesundheit
Österreich
25.11.2024

„Wir könnten eine Win-Win-Situation schaffen“

Brigadier DDr. Sylvia-Carolina Sperandio, MBA leitet die Direktion „Militärisches Gesundheitswesen“ des österreichischen Bundesheeres. Im INGO-Interview spricht sie über die Zusammenarbeit mit dem zivilen Gesundheitssystem, Lehren aus der Pandemie und die spezifischen Chancen der Digitalisierung in der Militärmedizin. Ein gut ausgestattetes militärisches Gesundheitswesen sei nicht nur zentral für den Krisenfall, sondern könnte in Friedenszeiten die zivile Versorgung effektiv entlasten, so die hochrangige Offizierin.

Frau Brigadier, das Militärische Gesundheitswesen ist für viele außerhalb des Heeres eine große Unbekannte. Was umfasst es eigentlich?

Sylvia Sperandio: Das Militärische Gesundheitswesen ist ein eigenständiges Gesundheitssystem mit ähnlichen Strukturen wie im zivilen Bereich. Zu meinem Verantwortungsbereich gehören der Sanitätsdienst, das Veterinärwesen, der pharmazeutische Dienst, die Sanitätslogistik und die Militärpsychologie, die eine wichtige Rolle spielt. Insgesamt arbeiten rund 1.200 Menschen in diesem Bereich – ohne die Miliz mitzurechnen. Zum Sanitätsdienst gehören unsere vier Militärkrankenanstalten, also das Heeresspital Wien und weitere Militärspitäler in Hörsching bei Linz, Graz und Innsbruck. Diese unterstehen dem Verteidigungsministerium, unterliegen aber den gleichen gesetzlichen Auflagen wie zivile Krankenhäuser. Zusätzlich haben wir in fast jeder Kaserne eine truppenärztliche Ambulanz, das entspricht etwa einer „hausärztlichen Ordination“ für unsere Rekruten.

Was sind die Aufgaben des Militärischen Gesundheitswesens?

Sylvia Sperandio: Der fundamentale Unterschied zum zivilen Gesundheitswesen liegt in unserem Auftrag. Gemäß der Bundesverfassung dient das Bundesheer der militärischen Landesverteidigung – das gilt somit auch für den Sanitätsdienst. Natürlich helfen wir bei Katastrophen wie einem Hochwasser oder, wie zuletzt im Zusammenhang mit der Vogelgrippe, bei der Bekämpfung von Tierseuchen. Aber unsere eigentliche Ausrichtung und Kernaufgabe ist die medizinische Unterstützung militärischer Einsätze. In der aktuellen sicherheitspolitischen Lage wird so deutlich, wie wichtig solche spezialisierten Ressourcen sind. In Kriegen und bewaffneten Konflikten wie wir sie aktuell in der Ukraine oder im Nahen Osten sehen, macht die Waffengewalt keinen Halt vor der Zivilbevölkerung. Im Ernstfall kann die Versorgung von Verletzten nur in enger Zusammenarbeit zwischen militärischem und zivilem Gesundheitswesen funktionieren. Wir sprechen hier in Österreich vom integrierten Sanitätsdienst.

Das heißt, wir müssen diese Kapazitäten auf- und ausbauen, obwohl sie in Friedenszeiten nur bedingt benötigt werden?

Sylvia Sperandio: Das ist richtig, aber leider nicht immer einfach zu vermitteln. Das Militärische Gesundheitswesen wurde in den letzten Jahrzehnten eher zurückgefahren als gestärkt. Ein Rechnungshofbericht hat etwa die geringe Auslastung der Betten in den Heeresspitälern kritisiert. Aber es ist gerade Sinn der Sache, Kapazitäten für Krisenfälle vorzuhalten, von denen wir alle hoffen, sie mögen nicht eintreten – Pandemie, Blackout, hybride oder konventionelle Angriffe. Im Fall eines bewaffneten Konflikts wäre das zivile Gesundheitssystem auf keinen Fall in der Lage, derartige Zusatzaufgaben zu übernehmen. Schon weil diese ganz spezielle Qualifikationen brauchen, die in der zivilen Medizin kaum vorhanden sind. Aber auch quantitativ: Wenn schon ein Zug- oder Busunfall die verfügbaren Intensivstationen an ihre Grenzen bringt, wie sollen wir dann im Ernstfall hunderte Verletzte am Tag versorgt werden? Wir müssen die Öffentlichkeit und die Politik für solche Szenarien sensibilisieren.

Könnten Kapazitäten des Militärischen Gesundheitswesens, die in Friedenszeiten nicht ausgelastet sind, nicht die zivile Versorgung unterstützen?

Sylvia Sperandio: Da gäbe es grundsätzlich ein großes Potential. Wir haben schon jetzt Kooperationen mit Krankenhausträgern, damit unser Personal zum sogenannten Fähigkeitserhalt in zivilen Gesundheitseinrichtungen arbeiten kann. In Innsbruck hatten wir vor Jahrzehnten auch einmal eine Vereinbarung mit der TILAK, im Rahmen derer wir Operationen von zivilen Patientinnen und Patienten im Militärspital übernommen haben. Das wäre ein echte Win-Win-Konstellation. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sichern sich viel Behandlungspraxis, und die zivilen Einrichtungen werden entlastet, etwa in chirurgischen Fächern oder in der Anästhesie. So könnte man zum Beispiel die viel zitierten OP-Wartezeiten verkürzen. Aktuell hakt der Ausbau solcher Modelle an juristischen Hürden wie Dienstrecht, Haftung und ähnlichem, und an der Frage, wie die finanziellen Abgeltung der Leistungen geregelt werden kann.

Sie haben wenige Monate vor Beginn der Corona-Pandemie in einem sicherheitspolitischen Aufsatz genau ein Szenario beschrieben, wie es dann eingetreten ist. Hat man in der Krise ausreichend auf die Expertise des Militärischen Gesundheitswesens zurückgegriffen?

Sylvia Sperandio: Die Pandemie hat sehr gut gezeigt, was wir können – und wo es aber auch fehlt. Wir haben in großem Ausmaß Test- und Impfstraßen betrieben und die Impfstofflogistik unterstützt. Als in einem Pflegeheim fast das gesamte Personal krankheitsbedingt ausgefallen ist, haben wir von heute auf morgen den Betrieb komplett übernommen. Wir haben auch Personal in Krankenhäuser abgestellt. Das können wir, weil unser Personal einerseits die entsprechenden zivilen Ausbildungen hat, und wir andererseits dank der militärischen Strukturen gewohnt sind, sehr rasch zu reagieren. Eine besondere Herausforderung war die Mobilmachung während der Pandemie. Wir mussten sicherstellen, dass die eigenen Kräfte gesund bleiben und keine Infektionen in die Truppe hereingebracht werden. Das ist in großem Ausmaß gelungen. Durch die früheren Kürzungen, die ich bereits angesprochen habe, waren unsere Möglichkeiten allerdings begrenzt. Wir konnten bei weitem nicht alle Unterstützungs-Anfragen erfüllen. In anderen Ländern spielen die Militärspitäler eine wichtige Rolle in der Krisenbewältigung und als Versorgungseinrichtungen der Regierung, bei uns wurden sie zurückgefahren. Die Verteidigungsministerin hat sehr klar gemacht, dass das Militärische Gesundheitswesen gestärkt werden muss. Ob das in andere Ressorts durchgedrungen ist, weiß ich nicht. Viele Eindrücke aus der Pandemie geraten schon wieder in Vergessenheit.

Wie steht Österreich im internationalen Vergleich da?

Sylvia Sperandio: Da müssen wir ehrlich sein – unser Militärisches Gesundheitswesen ist international gesehen sicher nicht im Spitzenfeld. Wir arbeiten eng mit der deutschen Bundeswehr zusammen, ebenso mit der Schweiz. Die gemeinsame Sprache ist dabei ein großer Vorteil, gerade in der Patientenbetreuung. Der deutschsprachige Raum hat auch eine ähnliche Sicht auf Versorgung und Ausbildung. Wir haben aber auch Ausbildungskooperationen mit den US-Streitkräften. Diese sind auch was meinen Verantwortungsbereich betrifft sicher weltweit führend. Dort sind die besten Kliniken Militärspitäler: Top ausgestattet, mit hervorragendem Personal und einer exzellenten Wissenschaft. Allerdings braucht es dafür auch entsprechende Forschungsgelder.

Wie sieht es mit der Ausbildung und dem Nachwuchs in den verschiedenen Gesundheitsberufen aus?

Sylvia Sperandio: Wir haben seit drei Jahren ein erfolgreiches Programm mit der MedUni Wien. Jährlich werden zehn Studienplätze für Kandidatinnen und Kandidaten reserviert, die sich für 20 Jahre beim Bundesheer verpflichten. Damit können wir mittelfristig unseren ärztlichen Nachwuchs sehr gut aufbauen und bevorstehenden Pensionierungen gut begegnen. Die Kandidatinnen und Kandidaten müssen aber trotzdem eine gewisse Mindestpunktezahl beim Aufnahmetest erreichen, und die meisten hätten auch ohne unsere Sonderregelung die Hürde geschafft. Eine besondere Herausforderung ist, dass alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neben der medizinischen auch eine militärische Ausbildung brauchen. Neben den Medizinerinnen und Medizinern bilden wir selbst Gesundheits- und Krankenpflegepersonal aus. Seit der Umstellung auf den Bachelor kooperieren wir mit Fachhochschulen, die Pflegefachassistenz bilden wir weiterhin selbst aus, ebenso wie Notfall- und Rettungssanitäter, wobei die Praktika bei zivilen Rettungsorganisationen stattfinden. Das militärische Gesundheitswesen bietet sehr interessante Karrieren, da gibt es einzigartige Entwicklungsmöglichkeiten. Ich selbst habe beim Militär Dinge gelernt, die ich nirgendwo sonst hätte sehen können. Aber die Arbeitszeiten können fordernd sein, man ist viel unterwegs. Das ist nicht für alle attraktiv. Auch die Gehaltsstruktur ist eine Herausforderung. Wenn die Bundesländer im Wettbewerb um medizinisches Personal die Gehälter erhöhen, können wir als Bundesdienststelle nicht einfach mitziehen. Da braucht es neue Lösungen.

Digitalisierung und KI im Gesundheitswesen sind allgegenwärtige Trend-Themen. Welche Potenziale sehen Sie hier speziell für das militärische Gesundheitswesen?

Sylvia Sperandio: Für uns liegt sicher ein besonderer Fokus auf der Telemedizin. Die unterstützt uns bei dem Ziel, hochqualifiziertes Sanitätspersonal möglichst aus dem Gefechtsraum herauszuhalten, und trotzdem Behandlungen optimal durchführen zu können – auch mit Unterstützung durch Robotik. Auch eine Verzahnung der Gesundheitsdaten zwischen zivilem und militärischem Bereich hätte viel Potenzial. Die Vision wäre, dass ein verletzter Soldat oder eine verletzte Soldatin gescannt wird und sofort erscheinen alle relevanten Informationen wie Blutgruppe oder Allergien auf einem Tablet. Aber von diesem Idealzustand sind wir noch weit entfernt. Neue Technologien wie Patiententransporte per Drohne oder Bergeroboter für Verletzte werden international intensiv erforscht. Das sind faszinierende Entwicklungen, die wir sehr aufmerksam verfolgen. Allerdings fehlen uns die Ressourcen, um selbst in dieser Forschung aktiv zu sein, oder generell in der militärmedizinischen Wissenschaft – was ich sehr bedauere.

Wo sehen Sie das militärische Gesundheitswesen in zehn Jahren – im Idealfall?

Sylvia Sperandio: Als attraktiver Partner auf Augenhöhe, sowohl national als auch international. Aber dafür braucht es noch viel Anschub – und nicht alles ist mit Geld zu lösen. Ich bin mit großem Engagement in dieser Position tätig, weil ich überzeugt bin, dass wir das System weiter ausbauen und optimieren müssen. Wenn wir das Militärische Gesundheitswesen zehn Jahre in einem Kriseneinsatz nicht brauchen – umso besser. Aber wenn wir es doch brauchen und nicht haben, wird es kritisch. Wir könnten in „Friedenszeiten“ so viel Unterstützung für das zivile System im Sinne einer Einsatzvorbereitung leisten. Ein starkes militärisches Gesundheitswesen ist letztlich eine Investition in die Gesundheitssicherheit des ganzen Landes.

Interview: Birgit Kofler

Foto: Atelier Nicholas Bettschart

Sylvia-Carolina Sperandio, Brigadier DDr., MBA

Leiterin Militärisches Gesundheitswesen, Bundesministerium für Landesverteidigung

Heeressanitätschefin Brigadier DDr. Sylvia-Carolina Sperandio, MBA wurde 1966 in Vöcklabruck (Oberösterreich) geboren. 1993 promovierte sie an der Universität Wien zur Doktorin der gesamten Heilkunde. Sie verfügt über Zusatzausbildungen in Tropenmedizin, militärischer Luftfahrtmedizin , Notarzt-, Alpin- und Höhenmedizin und hat eine umfangreiche TCM-Ausbildung absolviert. An der Sigmund Freud Privatuniversität Wien erwarb sie ein Doktorat für Psychotherapiewissenschaft und an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt einen MBA-Abschluss im Fach Health Care Management. Sperandio begleitete zahlreiche Katastropheneinsätze und nahm an vielen Auslandseinsätzen des Bundesheeres teil. Sie leitete unter anderem die Fachambulanzen im Militärspital 2 in Innsbruck und war Kommandantin und Ärztliche Leiterin der Sanitätsanstalt OÖ, Sonderkrankenanstalt für Heeresangehörige, bevor sie ins Bundesministerium für Landesverteidigung wechselte. Dort war sie zunächst als Referentin für Militärische Luftfahrtmedizin und ABC-Abwehrmedizin tätig, seit 2017 als Leiterin des Militärischen Gesundheitswesens im Generalsrang Brigadier.

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