„Behandlung ist mehr als in den Mund zu schauen“
Im Jahr 2015 wurde mit Medizin Mariahilf das erste Wiener Primärversorgungszentrum (PVZ) eröffnet. Nach neun Jahren zieht Wolfgang Mückstein, Ärztlicher Leiter des PVZ– und ehemaliger Gesundheitsminister –, im Gespräch mit INGO Bilanz. Sind PVZ tatsächlich eine einzige Erfolgsstory?
„Ich halte es für einen großen Schritt in Richtung Zukunft“. Mit diesen Worten zeigte sich Dr. Wolfgang Mückstein anlässlich der Eröffnung des ersten Wiener Primärversorgungszentrums im Jahr 2015 optimistisch. Der „Innovationsschub“ der Kassenmedizin würde zu einer „Win-win-Situation für Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten“ werden, so der Allgemeinmediziner damals. Mittlerweile besteht das von Mückstein und seinen Kolleg*innen Franz Mayrhofer und Fabienne Lamel gegründete PVZ Medizin Mariahilf im 6. Wiener Gemeindebezirk seit neun Jahren. Im Zuge der jüngsten Novelle des Primärversorgungsgesetzes sowie der daraus resultierenden Debatten ein guter Zeitpunkt, beim Pionier der ersten Stunde nachzufragen. Sieht Wolfgang Mückstein Primärversorgungszentren (oder -einheiten) rückblickend tatsächlich als einen „großen Schritt Richtung Zukunft“?
INGO: Wenn Sie auf neun Jahre Primärversorgungszentrum Medizin Mariahilf zurückblicken, hat sich dann alles so entwickelt, wie Sie sich vorgestellt haben?
Wolfgang Mückstein: Ja, Ich finde, es ist von Anfang an wirklich gut gelaufen. Franz Mayrhofer war als Allgemeinmediziner in Mariahilf ja schon lange etabliert, seine Einzelordination gab es seit 1984. Ich bin 2010 als Partner eingestiegen. Unsere Gruppenpraxis ist dann rasch gewachsen, sodass wir 2013 mit Fabienne Lamel die dritte Partnerin aufgenommen haben. Dann ist seitens der Politik die Idee gekommen, Primärversorgungszentren zu fördern. 2015 sind wir dann mit den bekannten Rahmenbedingungen, also 50 Stunden Öffnungszeit, keinen Schließzeiten, Bespielung der Tagesrandzeiten und dem erweiterten Leistungsspektrum, gestartet. Es hat dann doch noch einige Jahre gebraucht, bis sich das herumgesprochen und etabliert hatte. Und bis sich auch die Rahmenbedingungen verändert haben.
Was meinen Sie damit?
Die Novelle des Primärversorgungsgesetzes, sie hat schon noch deutliche Verbesserungen gebracht. Seit Juli 2023 besagen die neuen Regelungen, dass auch ohne Zustimmung der Ärztekammer Kassenplanstellen besetzt werden dürfen, wenn in einer Versorgungsregion über sechs Monate drei Stellen unbesetzt sind. Die Möglichkeit der Kammer, das zu beeinspruchen, war derartigen Projekten natürlich abträglich. Dass auf Landesebene jetzt die Landesgesundheitsreferenten gemeinsam mit der Sozialversicherung bestimmen können, wo Bedarf an Primärversorgungszentren besteht und wo diese eingerichtet werden können, hat dazu geführt, dass das Interesse deutlich gewachsen ist.
Warum gab es überhaupt Einsprüche der Ärztekammer?
Primärversorgungszentren wurden als Konkurrenz wahrgenommen. Und es wurde als unfair gesehen, dass größere Einheiten mehr Geld bekommen. Dabei handelt es sich um einen ganz anderen Kassenvertrag. Es gibt für PVZ nicht einfach gleiche Verträge mit mehr Geld, sondern mehr Verpflichtungen. Strengere Verpflichtungen. Wir dürfen eben keinen Schließtag und müssen täglich bis 19 Uhr offen haben. Wir haben die Verpflichtung, diplomiertes Pflegepersonal, Diätologinnen, Psychotherapeutinnen und andere Leistungen anzubieten. Das alles haben Einzelordinationen nicht. Wie gesagt, es ist einfach ein anderer Vertrag.
Was waren die größten Hürden für die Einrichtung eines Primärversorgungszentrums?
Wie generell in der Kassenmedizin ist die Honorierung eine Herausforderung. Da geht es immer um eine Mischung aus Pauschalzahlungen und Einzelleistungen. Hier muss man beurteilen, wie viele Mehrkosten durch eine größere Einheit entstehen. Wie man das betriebswirtschaftlich durchrechnet, war am Anfang als Pilotprojekt natürlich schwierig. Und dann braucht es ein stabiles Team. Das heißt, du musst Arbeitsbedingungen schaffen, wo nicht nur das ärztliche Personal, sondern auch die anderen Gesundheits- und Sozialberufe so gute Arbeitsbedingungen vorfinden, dass sie gerne bleiben. Denn das Schlimmste für eine Ordination ist eine große Fluktuation.
Warum braucht es eigentlich Primärversorgungszentren? Wer profitiert dabei wovon?
Einerseits ist der niederschwellige Zugang ein Vorteil für Patient*innen. Sie profitieren von den langen Öffnungszeiten, auch an Tagesrandzeiten – und mindestens 50 Wochenstunden. Und sie profitieren vom erweiterten Leistungsangebot. Patient*innen werden zum Beispiel zu einer Blutabnahme nicht mehr woanders hin überwiesen. Aber auch für Ärztinnen und Ärzten sowie die anderen Gesundheits- und Sozialberufe gibt es Vorteile: Die neuen, gewünschten Arbeitsrealitäten, gerade von jüngeren Kolleginnen und Kollegen, werden in einer Primärversorgungseinheit viel besser abgebildet. Beispielsweise hatte unsere dritte Partnerin, als sie eingestiegen ist, zwei kleine Kinder. Eine Einzel-Ordination wäre für sie zu dem Zeitpunkt nicht möglich gewesen. In einem PVZ konnte aber der Dienstplan flexibel gestaltet und ein bestimmtes Arbeitszeitmodell individuell ermöglicht werden.
Wie sieht es mit der Rolle der PVZ bei der Entlastung für Spitäler aus?
Wir sind eigentlich Hausärzt*innen mit einem erweiterten Leistungsspektrum. Es ist nicht erste Aufgabe einer Primärversorgungseinheit, Spitalsambulanzen unmittelbar zu entlasten. In Wien sind beispielsweise die Erstversorgungsambulanzen, früher als Allgemeinmedizinische Akutordinationen bekannt, sozusagen ein Filter vor dem Spital. Die Menschen werden zuerst von Allgemeinmediziner*innen angeschaut, 80 oder 90 Prozent davon werden abschließend behandelt und die restlichen zehn Prozent kommen tatsächlich ins Spital oder müssen einen Facharzt sehen. Hier findet keine kontinuierliche Betreuung statt! Die Idee einer starken Primärversorgungsebene ist wichtig, man darf es aber nicht mit einer Notfall-Triage-Ambulanz verwechseln.
"Es ist nicht erste Aufgabe einer Primärversorgungseinheit, Spitalsambulanzen zu entlasten."
Wieso haben Sie sich damals trotz aller Unsicherheiten für diesen Pilotversuch entschieden?
Ein wichtiger Punkt war, dass Leistungen, die aufgrund ihrer Ausbildung auch von anderen Gesundheits- und Sozialberufen durchzuführen sind, über unseren Vertrag abgerechnet werden können. Beispielsweise EKG, Blutabnahmen, Pflege, aber auch Pflege-Hausbesuche. Ärztinnen und Ärzten bleibt so mehr Zeit für die eigentliche Behandlung der Patien*innen. Zweitens kann man sich in einem Team auch einmal kurzfristig vertreten lassen – in einer kleinen Gruppenpraxis oder in der Einzelordination ist das nicht möglich. Da steht alles, wenn die Ärztin, der Arzt nicht da ist. Oder sogar, wenn jemand an der Rezeption ausfällt.
Werden Ordinationsbesuche dadurch nicht unpersönlicher?
Nicht unbedingt. Der Patient, die Patientin kann in Erfahrung bringen, ob „ihr“ Arzt oder „ihre“ Ärztin da ist. Bei Medizin Mariahilf haben wir so gut wie immer die gleichen Arbeitszeiten. Es gibt auch Patient*innen, die am nächsten Tag oder in der darauffolgenden Woche wiederkommen, wenn einmal eine bestimmte Ärztin nicht da ist. Andere wiederum unterscheiden, ob sie für das aktuelle Anliegen den persönlichen Kontakt brauchen, oder es ihnen zum Beispiel für eine Krankmeldung egal ist, zu wem sie kommen.
Gibt es da einen Unterschied zwischen Jung und Alt?
Ja, den sehe ich schon. Ältere Menschen forcieren den persönlichen Kontakt eher; sie sind auch vermehrt zu den Zeiten da, wo ihre Vertrauensperson Dienst hat. Jüngeren sind oft einfach kurze Wartezeiten wichtig.
Das heißt, der Trend geht Richtung E-Health und weniger persönlichem Kontakt?
Corona hat, was die Versorgung betrifft, natürlich einiges geändert, weil Patientinnen und Patienten gerade am Anfang angehalten wurden, nur bei Notfällen persönlich zu kommen und stattdessen anzurufen oder ein E-Mail zu schreiben. Davon ist viel hängen geblieben, weil oft ein persönlicher Kontakt nicht unbedingt notwendig ist. Stichwort Telemedizin. Die reicht oft und verhindert lange Wartezeiten. Das ist mit Sicherheit ein wichtiger Teil in der Versorgungsstruktur in Zukunft.
Wie sehen Sie generell die Automatisierung im Gesundheitswesen, Stichwort Künstliche Intelligenz (KI)?
Das wird auf allen Ebenen der Gesellschaft eine große Herausforderung werden, natürlich auch in der Medizin. Es wird darauf ankommen, wie es gemacht ist. KI kann sehr wohl unterstützen kann, aber es wird aber am Ende auf jeden Fall den persönlichen Kontakt brauchen, denn den kann keine Maschine ersetzen. Die Behandlung eines Menschen ist eben mehr als in den Mund zu schauen oder das Herz abzuhören. Sie kann nicht nur auf Technik reduziert werden. Aber ich sehe da auch große Chancen.
Bleiben wir bei der Zukunft: Was wünschen Sie sich da bezüglich des Gesundheitswesens – insbesondere politisch?
Wir brauchen eine Honorierung, die mehr auf die tatsächliche Leistung an den Patient*innen abzielt und nicht auf pauschale Leistungen. Und wir brauchen einen Honorarkatalog für die anderen Gesundheits- und Sozialberufe. Aktuell wird deren Leistung pauschaliert abgegolten und damit wachsen die Leistungen der Pflege, der Psychotherapeutin, der Diätologin nicht mit den Patientenzahlen mit. Das heißt, die brauchen einen eigenen Vertrag inklusive Honorarkatalog sowie die Möglichkeit, mit dieser Ausbildung Partner*in im PVZ zu werden. Die Verantwortlichen für Gesundheitspolitik müssen sich außerdem anschauen, wo welche Behandlung im Idealfall stattfindet. Wenn die Menschen keine offenen Ordinationen vorfinden, gehen sie direkt zum Facharzt oder ins Spital. Das kostet einfach sehr viel Geld, daher muss man anfangen, dort zu stärken, wo Patient*innen zuerst hingehen sollen. Und das sind nun einmal die Hausärztinnen und Hausärzte – und da wird man daraufkommen, dass die Basisversorgung mit Primärversorgungs-Einheiten ganz wichtig ist, weil sie niederschwellig ist, weil man keine Termine braucht. Hier muss man aber die Strukturen aufbauen. Das ist eine große Herausforderung, wird aber wichtig sein, um unser solidarische Gesundheitssystem zu erhalten.
Interview: Michi Reichelt, Fotos: Medizin Mariahilf – Dr. Wolfgang Weinhappel, Dr. Fabienne Lamel, Dr. Wolfgang Mückstein (v.l.)
Wolfgang Mückstein, Dr.
Ärztlicher Leiter Primärversorgungszentrum Medizin Mariahilf
Der Arzt für Allgemeinmedizin (Jahrgang 1974) promovierte 2002 an der MedUni Wien und schloss ein ergänzendes Studium als Bachelor of Acupuncture ab. Mückstein arbeitete im Verein Neunerhaus sowie der Suchthilfe-Einrichtung „Ganslwirt“, bevor er gemeinsam mit Franz Mayrhofer und Fabienne Lamel die Gruppenpraxis und spätere Primärversorgungseinheit Medizin Mariahilf auf der Mariahilfer Straße im sechsten Wiener Bezirk gründete, in der mittlerweile Franz Mayrhofer von Wolfgang Weinhappel als Partner abgelöst wurde (siehe Foto). Neben seiner Tätigkeit als Mediziner war Mückstein 12 Jahre Funktionär in der Wiener Ärztekammer, von April 2021 bis März 2022 übte er das Amt des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz aus. Der gebürtige Wiener ist Vater zweier Töchter.