Der „Österreichische Patient:innenbeirat“ gestaltet die Gesundheitsforschung mit
Die Forschungsprojekte des 2019 gegründeten Ludwig Boltzmann Instituts Digital Health and Patient Safety (LBI DHPS) drehen sich um die vielfältigen Aspekte der Patient*innensicherheit sowie die Entwicklung digitaler Lösungen, die dieser zugutekommen. Seit Frühjahr 2022 ergänzt der „Österreichische Patient:innenbeirat“ die Arbeit der multidisziplinären Teams. Im Interview mit INGO erklärt Elisabeth Klager, Open Innovation in Science Managerin des LBI DHPS, warum die Einbindung interessierter Bürger*innen die Gesundheitsforschung entscheidend voranbringt.
Vor gut einem Jahr hat das LBI DHPS in Kooperation mit der „Plattform Patient:innensicherheit“ den „Österreichischen Patient:innenbeirat“ gegründet. Wie kam es dazu?
Elisabeth Klager: Es ist der Forschungsfokus unseres Instituts, die Sicherheit von Patient*innen durch Empowerment und Digitalisierung zu verbessern. Dazu ist es entscheidend zu wissen, was diese bewegt, welche Erfahrungen sie im Gesundheitswesen machen und welche Bedürfnisse sie haben. Wir können dann viel zielgenauer Tools und Lösungen entwickeln, um die Gesundheitskompetenz der Österreicher*innen zu verbessern, sie sicher durch das Gesundheitssystem zu führen und umgekehrt den dort Tätigen wichtige Hinweise zu geben, was alles in puncto Patient*innensicherheit optimiert werden kann. Aus diesem Anspruch heraus haben wir im Prinzip schon seit der Gründung unseres Instituts im Jahr 2019 immer wieder Patient*innen eingebunden, beispielsweise in Befragungen und Fokusgruppen. Quasi als logische Folge dieser punktuellen Kollaborationen ist dann die Idee gereift, eine langfristige Gruppe von Menschen zusammenzustellen, die uns aus ihrer Patient*innenperspektive heraus begleiten und mit denen wir regelmäßig gemeinsame Projekte starten können. Als die Ludwig Boltzmann Gesellschaft schließlich vor zwei Jahren einen Fördertopf für Initiativen aus dem Bereich „Patient Public Involvement“ bereitstellte, war dies das Zünglein an der Waage: Wir erarbeiteten ein erstes Konzept für den „Österreichischen Patient:innenbeirat“ und reichten es ein – mit Erfolg. Nach der Förderzusage haben wir Anfang 2022 einen Bewerbungsaufruf veröffentlicht, aus etwa 50 Zuschriften 17 Bewerber*innen ausgewählt und gemeinsam mit diesen dem „Österreichischen Patient:innenbeirat“ seine aktuelle Gestalt gegeben. Wesentlich dabei ist nicht zuletzt die Vision, dass er eine gewichtige Stimme für Entscheidungsträger*innen im Gesundheitswesen werden soll. Er besteht jetzt seit Mai 2022.
Wie setzt sich der Beirat zusammen? Was war bei der Auswahl der Beiratsmitglieder wichtig?
Um eine Vielzahl an Meinungen und Perspektiven abzudecken, haben wir bewusst auf Diversität geachtet, etwa hinsichtlich Alter, Geschlecht, Lebenssituation oder Krankengeschichte. Dementsprechend kommen die Beiratsmitglieder aus fast allen Bundesländern, die Jüngste ist 27, der Älteste 78, das Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen ist ausgewogen. In puncto Erfahrungen vereint der Beirat Personen mit akuten und chronischen Krankheiten, Long-Covid-Betroffene und Menschen mit überstandenen Krebserkrankungen, aber auch pflegende Angehörige. Die bunte Mischung ist ein großes Plus. Gemeinsam ist allen Beteiligten, dass sie intensive Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem gemacht haben und in ihrem Bewerbungsschreiben den Wunsch äußerten, durch ihren Input zu dessen positiver Veränderung beizutragen. Diese persönliche Motivation war ebenfalls ein wichtiges Auswahlkriterium. Vor Kurzem haben wir außerdem beschlossen, noch mehr Stimmen aus der jüngeren Generation und verstärkt Personen mit Migrationshintergrund einzubeziehen. In diesem Sinne stocken wir den Patient*innenbeirat gerade auf. Mittlerweile sind wir bei 24 Mitgliedern angelangt.
Welche Aufgaben hat der „Österreichische Patient:innenbeirat“? Wie oft kommt er zusammen und was müssen die Mitglieder konkret tun?
Verpflichtend sind vier Beiratssitzungen pro Jahr. Anfangs ging es dabei darum, miteinander Zielsetzungen und Visionen zu definieren, aber durchaus auch schon um Forschungsinhalte. So haben Wissenschaftler*innen des Ludwig Boltzmann Instituts bei diesen Sitzungen ihre Projekte vorgestellt und mit den Beiratsmitgliedern darüber debattiert. In Zukunft möchten wir diese Möglichkeit bekannter machen, sodass auch andere Institutionen und Organisationen davon profitieren können, zu ihren Fragestellungen das Feedback des „Österreichischen Patient:innenbeirats“ einzuholen. Innerhalb des LBI DHPS haben sich zudem bereits spontane Kollaborationen außerhalb der Beiratssitzungen ergeben. Zum Beispiel haben Kolleg*innen gefragt, ob es im Beirat Interessent*innen gebe, die sich zum Thema Mehrsprachigkeit im Krankenhaus einbringen möchten. Da haben sich gleich mehrere Freiwillige gefunden. Des weiteren haben wir kürzlich ein großes gemeinsames Projekt zum Thema Behandlungsfehler gestartet, wo Forscher*innen des LBI DHPS und Beiratsmitglieder von Beginn an jeden Schritt gemeinsam gehen. Hierbei macht etwa die Hälfte des Beirats mit. Es ist also eine Mischung aus fixem Rahmen und darüber hinausgehendem Austausch auf Anfrage beziehungsweise freiwilliger Basis. Ein weiterer Punkt sind einzelne Schulungsabende für die Beiratsmitglieder, um ihr Basiswissen über zentrale Themen im Gesundheitsbereich zu stärken. Dazu laden wir Expert*innen als Referent*innen ein. Bisher wurde in diesem Rahmen das österreichische Gesundheitssystem in seiner Komplexität besprochen, Ethik im Gesundheitswesen behandelt und Einblick in die Erarbeitung von Forschungsfragen gegeben.
"Die Atmosphäre in der Gruppe ist generell sehr wertschätzend und angenehm."
Was haben die Mitglieder des „Österreichischen Patient:innenbeirats“ davon, sich hier zu engagieren?
Wie erwähnt ist der Aspekt, dass sie etwas Wertvolles einbringen und andere von ihren Erfahrungen lernen können, von vornherein eine starke Triebfeder für sie. Wir bekamen inzwischen aber auch rückgemeldet, dass die Schulungsabende und Diskussionen sehr gut ankommen. So haben Beiratsmitglieder berichtet, dass sie immer mit dem Gefühl nach Hause gehen, etwas Neues erfahren zu haben. Auch dass man ihnen gut zuhört, wird als positiv erlebt. Die Atmosphäre in der Gruppe ist generell sehr wertschätzend und angenehm. Vermutlich würden einige sonst auch gar nicht die lange Anreise auf sich nehmen, wie beispielsweise zwei Mitglieder aus Tirol. Wir tagen vorwiegend in Wien, einmal sind wir in Salzburg zusammengekommen.
Was können Forscher*innen aus den Erfahrungsberichten und aus der Diskussion mit Patient*innen lernen?
Die Stimme der Bevölkerung bringt eine ganz andere Perspektive in die Forschung hinein. Dadurch können die Ergebnisse wirklich Eye-Opener sein. Health Care Professionals sind meist in ihre Abläufe verstrickt und wissen gar nicht, wie es sich anfühlt, Patient*in zu sein oder als Angehörige*r nach einer Operation zu warten. Damit geht ihnen aber ein wesentlicher Informationsgehalt verloren, der beispielsweise für Aufklärungsgespräche oder die Sicherung der Compliance sehr nützlich sein könnte. Wenn Patient*innen über ihre Erfahrungen berichten und darüber, was sie sich gewünscht hätten, aber nicht bekommen haben, führt das oft zu Aha-Erlebnissen. Wir hatten beispielsweise in der Aufbauphase des Beirats einen Workshopnachmittag, an dem Patient*innen, die lange mit Covid-19 auf einer Intensivstation gelegen sind, darüber erzählt haben. Die Intensivmediziner*innen, die das mitmoderiert haben, sagten hinterher, dass sie dabei unglaublich viel gelernt hätten. In der Folge wurde gleich ein Projekt zu Post-Covid- und Post-ICU-Betreuung ins Leben gerufen. Aber nicht nur für Forscher*innen, auch für Entscheidungsträger*innen ist die Stimme der Patient*innen wichtig. Nicht umsonst hat die WHO das Jahr 2023 unter das Motto „Elevate the voice of Patients“ gestellt. Wir sehen das als Bestätigung für unseren Ansatz.
Wie sieht Patient*innensicherheitsforschung konkret aus? Woran arbeiten die Forscher*innen am LBI DHPS?
Wir sind ein multidisziplinäres Institut mit aktuell etwa 30 Personen, von denen ungefähr 40 Prozent Mediziner*innen sind, der Rest kommt aus der Soziologie, Psychologie, Pflegewissenschaft, Kulturanthropologie, Molekularmedizin, Public Health, Informationstechnologie, Medizininformatik und Rechtswissenschaft. Unsere Forschung geht in zwei Richtungen. Die eine nennt sich Empowerment of Health Care Professionals. Hier geht es darum, welche digitalen Lösungen man Ärzt*innen an die Hand geben kann, um die Patient*innensicherheit zu verbessern. Zum Beispiel durch big-data-basierte Vorhersagemodelle darüber, welche Parameter auf Intensivstationen die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Vorfälle erhöhen oder reduzieren. Das große Feld von Data Science und Machine Learning fällt hier hinein. Andere Projekte wiederum beschäftigen sich mit Telemedizin. Wie kann man beispielsweise Expertise aus dem Krankenhaus zuschalten, wenn keine durchgehende ärztliche Versorgung gesichert ist? Etwa in einem Pflegeheim oder unter Umständen in einem Rettungswagen. Die zweite Forschungsrichtung befasst sich mit den entsprechenden Tools und Maßnahmen für die Bürger*innen. Patient*innensicherheit hat auch damit zu tun, wie gut sich Patient*innen informiert fühlen, das Wesentliche zu ihrer Erkrankung und Behandlung verstehen und ob sie sich im System zurechtfinden. Wie also kann man das verbessern? Gerade im Zuge solcher Forschungsprojekte kann der Patient*innenbeirat eine wichtige Rolle spielen.
Wie sieht es mit der Patient*innensicherheit in Österreich aus?
Das Thema ist eindeutig im Aufwind. Wir merken, dass das Interesse daran wächst und immer mehr Personen und Kliniken entsprechende Initiativen starten. Es wird zunehmend in Qualitäts- und Risikomanagement investiert. Auch die „Plattform Patient:innensicherheit“ ist stark gewachsen. Zudem zeichnet sich ein Paradigmenwechsel in puncto Fehlerkultur ab. Langsam kommt man weg von der Tabuisierung, beginnt über Second-Victim-Themen zu reden und möchte herausfinden, wie man am besten aus Fehlern lernen kann. Das ist allerdings ein sehr weites Feld. Vom OP- und Hygienebereich bis zu Videodolmetschmöglichkeiten und der Art und Weise der Kommunikation gibt es unzählige Aspekte, an denen es anzusetzen gilt. Und dann muss man all diese Puzzlestücke aneinanderfügen.
"Hundertprozentige Schadensfreiheit wird es nie geben, die Frage ist aber, wie man damit umgeht."
Das aktuelle beziehungsweise erste gemeinsame Projekt mit dem „Österreichischen Patient:innenbeirat“ dreht sich um das Thema Behandlungsfehler. Warum wurde gerade damit begonnen?
Das kommt daher, dass wir uns vor allem in der Gründungsphase unseres Instituts intensiv damit beschäftigt haben, Patient*innensicherheit zu definieren. Was sind hier die entscheidenden Parameter, die großen Themen, die Herausforderungen? Unter anderem hat sich dabei – etwa durch Literaturrecherchen, aber auch in Gesprächen mit der Patient*innenanwaltschaft – herausgestellt, dass das Gesundheitssystem die Tabuisierung von Behandlungsfehlern unbedingt hinter sich lassen muss, um zu nachhaltigen Verbesserungen zu kommen. Hundertprozentige Schadensfreiheit wird es nie geben, die Frage ist aber, wie man damit umgeht. Sowohl aus der Perspektive des Gesundheitspersonals als auch jener der Patient*innen ist es essenziell, aus Fehlern zu lernen. Diesen Lernwillen muss man bewusst entwickeln und unterstützen. Es ist außerdem ein ganzheitliches Thema, denn jede*r kann und soll aus seiner Rolle heraus einen Beitrag zur Patient*innensicherheit leisten. Auch die Patient*innen tragen eine Verantwortung, etwa in Bezug auf Compliance. Damit sind wir wieder bei den Stichworten Empowerment und Gesundheitskompetenz. Es gibt unzählige Schrauben, an denen man drehen könnte, die rein die Kommunikation betreffen. Das reicht bis hin zur Nachsorge nach Spitalsaufenthalten, die viel besser gelänge, wenn Patient*innen die Dinge so erklärt bekommen, dass sie diese auch verstehen und somit korrekt befolgen können. Bei all diesen Aspekten kann sich der „Österreichische Patient:innenbeirat“ natürlich wunderbar einbringen, somit stieß der Projektvorschlag bei ihm sogleich auf großes Interesse.
Was ist eigentlich ein Behandlungsfehler?
Unter anderem wird unser Projekt versuchen, das schärfer herauszuarbeiten. Denn ein Behandlungsfehler ist ja nicht immer das, was Patient*innen landläufig darunter verstehen. Wenn ein Schaden passiert, kommt es immer darauf an, was dahintersteckt. Fahrlässigkeit? Versäumnisse? Informationsdefizite? Eine Abweichung von wissenschaftlich anerkannten Verfahren? Oder kam es dazu, obwohl sich die Gesundheitsdienstleister*innen streng an die Guidelines gehalten und alles State of the Art gemacht haben? In letzterem Fall würden wir das eher als schicksalhaft einordnen, nicht als Behandlungsfehler. Es gibt in der Medizin auch bei validen und erfolgreichen Behandlungsmethoden eine sehr kleine Quote von Patient*innen, bei denen sie leider nicht funktionieren.
Was ist das Ziel des Projekts? Wie gehen der Beirat und die Forscher*innen des LBI DHPS vor?
Beginn 2023 hat die Projektgruppe rund 200 über einen Aufruf rekrutierte Personen online über von ihnen erlebte Behandlungsfehler befragt. Diese Berichte hat sie in der Folge analysiert und daraus drei Themen herausgefiltert, die sie Ende Juni an einem Aktionstag gemeinsam mit Expert*innen und Bürger*innen vertiefen wird. Konkret wird es an diesem Tag dort drei Workshops geben, in denen jeweils eines dieser Themen zentral steht. Workshop eins wird sich damit beschäftigen, wie man Patient*innen bestärken kann, ihre Fragen, Sorgen und Bedenken Ärzt*innen gegenüber zu äußern. Im zweiten Workshop geht es um die Möglichkeiten, das Lernen aus Fehlern als gelebte Kultur in den Gesundheitsinstitutionen zu etablieren und Patient*innen in Ärzt*innengesprächen auf Augenhöhe zu begegnen. Und in Workshop drei soll erarbeitet werden, wie man in der Nachsorge zusätzliche Sicherheit bieten kann, sodass sich die Patient*innen nicht allein gelassen fühlen. Dabei sollen erste Skizzen für Pilotprojekte entstehen, aus denen die Arbeitsgruppe aus Forscher*innen und Beirat dann idealerweise zwischen September und Jahresende konkrete Maßnahmen ableitet und diese auch gleich in Pilotprojekten testet. Parallel wird das Ganze wissenschaftlich evaluiert. Bei der Umsetzung von Pilotprojekten kommt uns zugute, dass unser Institut an der MedUni Wien angedockt ist und wir hier geeignete Kooperationspartner*innen finden können.
Wird der „Österreichische Patient:innenbeirat“ langfristig bestehen bleiben?
Das ist unsere große Hoffnung. Bis 2026 kann er noch vom Institut selber getragen werden, für danach müssen wir uns um Finanzierung bemühen. Wobei man sagen muss, dass der Beirat sicher keine Unsummen verschlingt. Es gibt eine Fahrtkostenvergütung und eine kleine Aufwandsentschädigung für die Mitglieder, die aber mehr ein Zeichen der Wertschätzung ist als eine nennenswerte Vergütung. In Gesprächen mit der Gesundheit Österreich GmbH und dem Gesundheitsministerium bekommen wir viel positives Feedback und wir stehen in wohlwollendem Austausch mit anderen Initiativen. Wir haben jedenfalls das Gefühl, dass es zunehmend verstanden wird, dass die Einbeziehung der Bürger*innen die Gesundheitsforschung tatsächlich voranbringt.
Interview: Uschi Sorz; Fotos: Dieter Steinbach Photography, LBI DHPS
Elisabeth Klager, MSc
Science Managerin und Administrative Director am Ludwig Boltzmann Institute Digital Health and Patient Safety (LBI DHPS)
Klager ist Open Innovation in Science Managerin und Administrative Director am Ludwig Boltzmann Institute Digital Health and Patient Safety (LBI DHPS) in Wien. Als Betriebswirtin hat sie früh den Schwerpunkt auf Innovationsmanagement im Gesundheitsbereich gelegt, zudem hat sie langjährige Erfahrung mit Telemedizin und digitalen Lösungen. Berufsbegleitend promoviert sie derzeit an der Medizinischen Universität Wien am Zentrum für Public Health.