„Primärversorgungszentren sind gut, aber kein Allheilmittel!“
Mehr Geld allein wird nicht ausreichen, um Kassenstellen für Ärzt*innen attraktiver zu machen, sagt Peter Lehner. Der Obmann der SVS und Dachverbands-Vorsitzende der Sozialversicherungen plädiert dafür, die Gesundheitskompetenz der Menschen zu stärken und Patient*innenströme besser zu steuern. Wahlärzt*innen sind für ihn eindeutig Teil der Lösung, nicht Teil des Problems.
Es gibt immer weniger Kassenärzt*innen – stimmt dieser Befund?
Peter Lehner: Der Mangel an Fachkräften trifft derzeit alle Branchen und macht auch vor dem ärztlichen Bereich nicht halt. Österreichweit und über alle Fachgebiete sind aktuell knapp 350 Planstellen unbesetzt, das entspricht etwas mehr als 3 Prozent. Darunter sind 90 Kassenstellen für Allgemeinmedizin, 17 für Frauenheilkunde und 14 für Kinderheilkunde. Prozentuell die meisten unbesetzten Stellen gibt es allerdings in der Kieferorthopädie, da liegt der Besetzungsgrad lediglich bei 89 Prozent.
Sind Kassenstellen finanziell zu wenig attraktiv?
Das ist über weite Strecken ein Thema der Österreichischen Gesundheitskasse, wo ein österreichweiter Gesamtvertrag nach wie vor offen ist. Als SVS haben wir einen solchen Vertrag, das ist uns wichtig für die Versorgung unserer Versicherten. Grundsätzlich wird eine Kassenstelle aber nicht nur durch Geld attraktiv. Ein Schlüssel, um die Attraktivität zu erhöhen, ist die richtige Steuerung der Patientinnen und Patienten in der Basisversorgung, also zwischen Kassenordinationen, Primärversorgungseinheiten und dem stationären Bereich. Wenn die Menschen mit ihren Problemen bei den falschen Adressaten landen, ist das frustrierend für alle Beteiligten.
"Als SVS haben wir Erfahrung mit Selbstbehalten für Versicherte, und wir sehen, dass es funktioniert."
Könnten Ambulanzgebühren zu dieser Steuerung beitragen?
Als SVS haben wir Erfahrung mit Selbstbehalten für Versicherte, und wir sehen, dass es funktioniert. Nicht als Strafe oder Erziehungsmaßnahme, sondern als Lenkungsinstrument. Der Staat setzt ja in vielen Bereichen auf finanzielle Steuerung, der Mutter-Kind-Pass ist ein besonders erfreuliches Beispiel, auch wenn es da um Anreize geht. Ich wünsche mir, dass Vorschläge zu diesem Thema fair bewertet und nicht sofort mit Argumenten von gestern abgeschmettert werden. Nicht zuletzt, weil transparente Selbstbehalte den Versicherten zeigen, was eine Leistung kostet und damit auch, was sie wert ist. Das schafft Bewusstsein für die medizinische Versorgung und die Kapazität des solidarischen Systems.
Wie beurteilen Sie das jüngste Maßnahmenpaket der Bundesregierung, das unter anderem Prämien bis zu 100.000 Euro für die Errichtung einer Kassenpraxis vorsieht?
Ich sehe es als politisches Signal in die Richtung, Kassenmedizin attraktiv zu machen. Das halte ich für positiv. Die konkrete Ausgestaltung ist noch offen. Die Sozialversicherung ist selbstverwaltet – wenn die Politik etwas bestellt, braucht es dazu die entsprechenden Finanzströme, die wir gerade in großem Stil im Rahmen des Finanzausgleichs verhandeln. Wichtig ist, dass man nicht in die Taschen der Sozialversicherung greift, sondern uns den Spielraum lässt, den wir brauchen, um die Versorgung der Patientinnen und Patienten zu gewährleisten.
Könnten mehr ärztliche Hausapotheken Mediziner*innen zu einem Kassenvertrag bewegen?
Die Verteilung der Aufgaben zwischen Ärzten und Apotheken ist ein sehr sensibles Thema. Für uns als Sozialversicherung ist die Versorgung der Versicherten entscheidend. Wenn es den Wunsch gibt, dass die Öffnungszeiten der Basisversorgung ausgebaut werden, zum Beispiel in Primärversorgungszentren von 7 bis 19 Uhr, braucht es auch analoge Öffnungszeiten von öffentlichen Apotheken, ohne Nachtzuschläge. Sollte das nicht möglich sein, wäre es natürlich ein Turbo für die Forderung nach mehr Hausapotheken.
Stichwort Primärversorgungseinheiten – für Sie ein Zukunftsmodell?
Das Zukunftsmodell wird nicht ein einheitliches sein. Neue Lebensentwürfe, die Work-Life-Balance – das braucht neue Formen. Primärversorgungszentren sind ein gutes Instrument, das es umgekehrt ermöglicht, fächerübergreifend sogar längere Öffnungszeiten anzubieten. Ein Allheilmittel sind sie aber nicht. Individuelle Möglichkeiten sollen gegeben sein – selbständige Arztpraxen, Gruppenpraxen, PVE. Auch allgemeinmedizinische Ambulanzen, angeschlossen an Krankenhäuser oder in deren Umfeld, werden in Zukunft ein Thema sein.
Der Ausbau der Primärversorgungszentren hinkt den ursprünglichen Plänen hinterher – warum?
Auch hier zeigt sich, dass Geld nicht alles lösen kann. Es gibt tolle Förderungen, allerdings da und dort Abstimmungsthemen mit der Ärztekammer und Fragen hinsichtlich der geeigneten Liegenschaften, wobei sich viele Städte und Kommunen mit Initiativen einbringen. Aber man kann die Karotte noch so tief hängen: Wenn die entsprechenden Fachärztinnen und Fachärzte nicht vorhanden sind, kommt es vielleicht zu punktuellen Verlagerungen und Verschiebungen, die dann erst recht zu echten Versorgungsengpässen führen können. Was zählt, ist das Gesamtbild.
"Von Zwangsmaßnahmen wie einer Dienstverpflichtung für Jungärzte halte ich wenig."
Wenn es zu wenig Mediziner*innen gibt, müssten dann nicht mehr ausgebildet werden?
Aus meiner Sicht müssen wir auch in der Ausbildung etwas ändern. Sehr gut gefällt mir der Vorschlag von Landeshauptfrau Mikl-Leitner, dass für ausländische Studierende die Voraussetzungen im Herkunftsland auch in Österreich gelten sollten. Deutsche Studenten etwa müssten dann auch bei uns den Numerus clausus erfüllen. Dann könnten wir mit gleichen Ressourcen mehr Medizinerinnen und Mediziner ausbilden, die mit höherer Wahrscheinlichkeit in Österreich bleiben. Von Zwangsmaßnahmen wie einer Dienstverpflichtung für Jungärzte halte ich wenig. Es hat ja auch bereits ein Rechtsgutachten belegt, dass das nicht zulässig wäre.
Sollen akademisch ausgebildete Pflegekräfte mehr Aufgaben in der Primärversorgung übernehmen?
Es geht weniger um die Akademisierung an sich, sondern generell um die bestmögliche Nutzung der Kapazitäten. Wir haben in Österreich sehr gut ausgebildete Pflegekräfte, und international sehen wir, dass Pflegekräfte für unterstützende medizinische Dienste mit mehr Kompetenzen ausgestattet werden. Auch darüber sollte man durchaus nachdenken. Wichtig ist dabei, dass nicht ältere Fachkräfte gegenüber den jüngeren, akademisch ausgebildeten benachteiligt werden. Das System muss durchlässig bleiben, indem traditionell ausgebildete Pflegekräfte durch Zusatzqualifikationen die gleichen Möglichkeiten erhalten und nicht in einer Karrieresackgasse landen.
Sind Wahlärzt*innen Teil der Lösung oder Teil des Problems?
Ganz klar Teil der Lösung. Wahlärztinnen und Wahlärzte sind ja sehr oft auch noch in Spitälern oder anderen Bereichen tätig, die personellen Kapazitäten werden also besser genutzt. Ohne Wahlärzte wäre die aktuelle Versorgungslage gar nicht aufrechtzuerhalten. Anders als die Ärztekammer halte ich es aber für erforderlich, dass sie am E-Card-System teilnehmen. Die technischen Voraussetzungen unterstützen wir mit einer entsprechenden Software-Lösung.
Wo steht das österreichische Gesundheitswesen insgesamt in Sachen Digitalisierung?
Digitalisierung ist der Schlüssel zu einer modernen Medizin. Sie hilft, effizienter zu agieren und besser zu behandeln. Wir sind früh gestartet und in vielen Bereichen nach wie vor führend, etwa bei der E-Card, beim E-Impfpass, beim neuen Eltern-Kind-Pass und beim E-Rezept. Das sind Meilensteine, die zeigen, wie man Effizienz heben und gleichzeitig Nutzen für die Patienten stiften kann. Auch telemedizinische Anwendungen sind wichtige Instrumente zur Versorgung und Unterstützung, zum Beispiel prä- und postoperativ und in der Rehabilitation. Als Sozialversicherung unterstützen wir das. Neben der Digitalisierung wird für unser Gesundheitssystem aber auch entscheidend sein, dass wir von der gegenwärtigen Reparaturgesellschaft zu einer Vorsorgegesellschaft kommen. Wir müssen die persönliche Gesundheitskompetenz steigern. Erst kürzlich hat eine neue Studie wieder gezeigt, wie sehr der Lebensstil die Lebenserwartung beeinflusst und dass es auch mit 60, 70 nicht zu spät ist, seine Gewohnheiten zu ändern. Diese Transformation zu fördern, ist für uns als Sozialversicherung eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft.
Interview: Josef Haslinger; Foto: Dachverband der Sozialversicherungsträger/APA/Ludwig Schedl
Peter Lehner,
Obmann der SVS und Dachverbands-Vorsitzender der Sozialversicherungen
Lehner ist seit 2020 Obmann der Sozialversicherung der Selbständigen (SVS) und 1. Vorsitzender der Konferenz der Sozialversicherungsträger (in halbjährlichem Wechsel mit Ingrid Reischl / AUVA). Der gelernte Touristikkaufmann war zuvor unter anderem Wirtschaftsstadtrat und Vizebürgermeister seiner Heimatstadt Wels und Bundesvorsitzender der Jungen Wirtschaft. Unternehmerisch ist der 53-jährige als Prokurist im Familienbetrieb Impuls Büroservice tätig.