„Trotz Notärzt*innen-Mangel gibt es viel zu viele nicht indizierte Einsätze“
Strukturell ist die prähospitale Notfallversorgung in Österreich aktuell sehr gut aufgestellt: Um die 130 bodengebundene Fahrzeuge und – je nach Jahreszeit – bis zu 38 Hubschrauber stehen zur Verfügung. Dies dürfe aber den Blick auf Defizite des heimischen Rettungswesens nicht verstellen, meint Helmut Trimmel, Vorstand der Abteilung für Anästhesie, Notfall- und Allgemeine Intensivmedizin des Landesklinikums Wiener Neustadt sowie Leiter der Sektion Notfallmedizin der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI). Die Probleme reichen von nicht indizierten Notärzt*innen-Einsätzen über zu kurze Ausbildungszeiten der Sanitäter*innen bis zu unklaren Zuständigkeiten und hemmenden föderalen Unterschieden. Im Gespräch mit INGO erklärt Trimmel, welche Lösungsansätze die ÖGARI vorschlägt.
Herr Professor Trimmel, mit welchen Problemen sieht sich die österreichische Notfallmedizin konfrontiert?
Helmut Trimmel: Es ist ein österreichweites Phänomen, dass wir eine steigende Anzahl von Notärzt*innen-Einsätzen haben und parallel dazu beobachten, dass die Indikationen für diese immer schwächer werden bis nicht vorhanden sind. Hier wird von bis zu 70 Prozent an Einsätzen berichtet, für die man eigentlich keine Notärzt*innen bräuchte. Gleichzeitig besteht ein Mangel an Notärzt*innen.
Wie ist es dazu gekommen?
Dahinter steckt eine ganze Reihe von Entwicklungen, die nun ungünstig ineinandergreifen: Zum einen ist in den 80er- und 90er-Jahren die notärztliche Präsenz stark ausgebaut worden, Notärzt*innen sind seitdem eine Selbstverständlichkeit. Zugleich begann man aber auch die Aufnahme der Medizinstudierenden an den Universitäten zu limitieren und die Arbeitszeitregelungen zu verschärfen. Früher mussten junge Ärzt*innen oft längere Zeit warten, bis sie einen Job bekamen. Inzwischen hat sich die Welt aber verändert und offensichtlich wurde verabsäumt, darauf zu reagieren: Heute haben wir halb so viele Studienanfänger*innen in der Medizin und die erlaubte Arbeitszeit für Mediziner*innen hat sich ebenfalls halbiert. Somit sind weniger Ärzt*innen verfügbar. Dass wir jetzt einen Generationenwechsel haben, weil die Babyboomer in Pension gehen, verschärft die Situation zusätzlich.
Wir erleben außerdem, dass sich immer weniger Mediziner*innen als Hausärzt*innen oder Landärzt*innen niederlassen wollen, eher geht der Trend zu Praxisgemeinschaften. Das Konzept der so genannten Primary Health Care Center mit verlängerten Öffnungszeiten und kooperierenden Gesundheitsberufen ist auch prinzipiell ein gutes, nur gibt es erst viel zu wenige davon. Ihr Ausbau verläuft zu langsam. Fatalerweise hat es sich eingebürgert, dass man Notärzt*innen nicht nur zu den komplexen Fällen schickt, wo sie hingehören. Sondern – etwas überspitzt ausgedrückt – nicht selten sind sie es, die bei Grippewellen auf Visite fahren, um die Defizite des hausärztlichen Bereichs auszubügeln. Aber das ist nicht der einzige Faktor, der zu Problemen im Rettungswesen beiträgt. Nur zu sagen, wir brauchen mehr Notärzt*innen, wäre zu kurz gegriffen. Im Grunde müsste die extramurale Versorgung völlig neu definiert werden.
Inwiefern?
Es gilt klar festzulegen, wie wir das Konzept der Primary Health Care Center voranbringen, wie wir eine flächendeckende allgemeinmedizinische Betreuung sicherstellen und wie wir diese wiederum in die akutmedizinische Versorgung integrieren können. Und nicht zuletzt: Welchen Beitrag kann der nichtärztliche Bereich hier liefern? Patient*innen, die gar nicht ins Spital gehören, sollten nicht hospitalisiert werden, nur weil ihnen gerade keine Allgemeinmediziner*innen zur Visite oder keine mobile Hauskrankenpflege zur Verfügung stehen. Und es sollten auch keine Notärzt*innen vorfahren müssen, um etwa einen Blasenkatheter zu wechseln. Derlei Schieflagen zeigen sich auf vielen Ebenen, daher ist das eine Sache, der man sich detailliert und umfassend nähern muss, um Lösungen zu finden. Unter anderem müssen wir definieren, an wen wir Aufgaben, die heute die Notärzt*innen erledigen, ohne Risiken oder Qualitätsverluste delegieren können. Ich denke hier etwa an entsprechend qualifizierte Notfallsanitäter*innen oder auch an so genannte Acute Community Nurses.
"Es sollten keine Notärzt*innen vorfahren müssen, um etwa einen Blasenkatheter zu wechseln."
Muss sich die Ausbildung des nichtärztlichen Bereichs verbessern?
Im Rahmen der momentanen Ausbildungen fehlt es an klinischer Praxis. Mehr klinische Erfahrung ist aber notwendig, um den Zustand von Akutpatient*innen richtig beurteilen zu können und die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu stärken. Damit tun sich Sanitäter*innen im Alltag oft schwer. Auszubildende sollten daher viel mehr in den innerklinischen Bereich eingebunden werden, etwa in Notaufnahmen oder Ambulanzen. In Zeiten zunehmender sozialer Notfälle durch krisenhafte Lebenssituationen ist außerdem der Erwerb sozialer Skills gefragt.
Das Sanitätergesetz des Bundes, das die Ausbildung und die Rahmenbedingungen für Sanitäter*innen und Notfallsanitäter*innen festlegt, ist mittlerweile 20 Jahre alt. Es war damals ein guter Schritt, aber seitdem hat sich die Welt weitergedreht. Aus unserer Sicht sollte man zunächst versuchen, die Möglichkeiten des bestehenden Gesetzes in Hinsicht auf Verbesserungen auszuloten. Etwa dadurch, dass man die darin geforderten Praxisstunden innerhalb der Ausbildung nicht wie derzeit üblich als Anwesenheit am Stützpunkt interpretiert, sondern nur die tatsächliche Zeit im Einsatz wertet. Wo nötig, muss das Gesetz aber auch grundlegend reformiert werden.
Dabei ist die Ausbildungszeit generell ein wesentlicher Punkt. Österreich ist bei der Ausbildung das Schlusslicht in Europa. Zum Vergleich: In Deutschland wurde die Ausbildungszeit auf drei Jahre angehoben, bei uns müssen Rettungssanitäter*innen 260 Stunden und Notfallsanitäter*innen maximal 1.640 Stunden Schulung nachweisen, das ist ein wesentlich kürzerer Zeitraum. In Osteuropa gibt es Nichtmediziner*innen im Rettungsdienst, die auf akademischem Niveau unterwegs sind. In der Schweiz sind Sanitäter*innen in ihrer Grundprofession vielfach Anästhesie- und Intensivpfleger*innen. Dementsprechend schlagen wir für Notfallsanitäter*innen eine dreijährige duale Ausbildung mit der Möglichkeit einer akademischen Anbindung vor. Eine bessere Ausbildung erweitert übrigens nicht nur die Kompetenzen, sondern attraktiviert auch das Berufsbild.
Würden wir Rettungs- und Notfallsanitäter*innen in Österreich höher qualifizieren, bekämen wir ein System, in dem – dann ebenfalls besser geschulte – Leitstellendisponent*innen die Einsätze adäquater priorisieren können: Wo brauchen wir Notärzt*innen, welche Fälle können hochqualifizierte nichtärztliche Mitarbeiter*innen übernehmen? Es geht nicht darum, Notärzt*innen zu ersetzen, sondern um die Vermeidung von nichtindizierten Einsätzen. Das wäre nicht nur ein umsichtiger Umgang mit begrenzten Ressourcen, sondern ermöglicht auch eine schnellere Versorgung der Patient*innen. Es erhöht letztendlich die Qualität.
Welche Rolle spielen ehrenamtliche Mitarbeiter*innen im Rettungswesen?
Eine große, rein hauptberuflich wäre die prähospitale Akutversorgung kaum zu bewältigen. Das österreichische Rettungswesen beruht derzeit zu 80 Prozent oder mehr auf Ehrenamtlichkeit. Wichtig wäre es, die Fahrzeuge so zu besetzen, dass immer auch ein hauptberuflicher Sanitäter oder eine hauptberufliche Sanitäterin mit an Bord ist. Es kommt auf eine ausgewogene Mischung an Kompetenzen, die richtige Zusammensetzung der Teams und die Priorisierung der Einsätze an. Und natürlich muss man auch die Ausbildung der Ehrenamtlichen optimieren.
Die ÖGARI hat die Problemlage in einem Positionspapier zusammengefasst. Was sind die wichtigsten Forderungen, die sich daraus ergeben?
Wir von der ÖGARI haben uns zunächst mit den Rettungsdiensten, den Leitstellen sowie Kolleg*innen aus der Medizinethik und anderen für das Rettungswesen maßgeblichen Bereichen in einem Konsensus-Meeting zusammengesetzt und alle Facetten der Situation durchleuchtet. In der Folge entstand unser Positionspapier mit als Conclusio einem Zehn-Punkte-Forderungskatalog. Zu den wichtigsten Forderungen zählt etwa die Implementierung einer abgestuften und qualifizierten prähospitalen Versorgungsstruktur durch mobile Dienste, Rettungsdienste, Notärzt*innen und ärztliche Bereitschaftsdienste, und zwar nach bundeseinheitlicher Vorgabe und in Zusammenarbeit aller Stakeholder*innen des Gesundheitswesens. Ein weiteres Kernelement ist die Schaffung der gesetzlichen Grundlagen für eine quantitativ und qualitativ bessere Ausbildung der Rettungs- und Notfallsanitäter*innen sowie des Leitstellenpersonals und natürlich auch die Finanzierung dafür. Darüber hinaus brauchen wir dringend einen verbindlichen bundeseinheitlichen Indikationskatalog für den Notärzt*innen-Einsatz.
Warum ist der Indikationskatalog so wichtig?
Die Steuerung der prähospitalen Notfallmedizin muss unbedingt effektiver und effizienter werden, damit der Bedarf bei einem – im Idealfall – gleichbleibenden Angebot an Notärzt*innen auch langfristig abgedeckt werden kann. Somit müssen Notfallabfragesysteme in der Lage sein, nicht dringliche Notfälle von dringlichen zu unterscheiden und entsprechend qualifiziertem und rettungsdienstlich erfahrenem Leitstellenpersonal eine Grundlage bieten, die geeignete Versorgungsstufe besser zu erkennen. Die Etablierung eines bundesweit einheitlichen und verbindlichen indikationskatalogs kann Klarheit hinsichtlich der Kompetenzverteilung schaffen.
"Die Steuerung der prähospitalen Notfallmedizin muss unbedingt effektiver und effizienter werden."
Die ÖGARI schlägt auch einen Ausbau so genannter First Responder vor. Was ist das genau, was können diese tun? Und welche Vorteile könnten Acute Community Nurses für das Rettungswesen bringen?
First Responder sind Mitarbeiter*innen des Rettungsdienstes oder anderer Bereiche des Gesundheitswesens, die in ihrer Freizeit parallel zum Rettungsdienst per Smartphone-App alarmiert werden können, wenn in ihrem näheren Umkreis ein Notfall passiert. Damit kann die Zeit bis zum Eintreffen der Rettungskräfte oder des Notärzt*innen-Teams überbrückt werden, denn First Responder sind schnell am Ort des Geschehens. Und Acute Community Nurses (ACN) verfügen einerseits über eine zweifache Ausbildung – als DGKP und als Notfallsanitäter*in – und müssen mindestens drei Jahre klinische Erfahrung sowie Rettungsdienst-Praxis nachweisen. Sie können die Betreuung bei akuten gesundheitlichen Problemen vor Ort übernehmen, wie etwa den angesprochenen Blasenkatheter, Kanülenwechsel oder andere pflegefachliche Aufgaben. Das ist ein klarer Vorteil, denn so lassen sich oft allgemeinmedizinische Visiten oder Transporte in Kliniken vermeiden. In Bruck an der Leitha gab es ein ACN-Pilotprojekt und was darüber berichtet wird, klingt vielversprechend. Dieses System wird jetzt in Niederösterreich weiter ausgebaut. Aktuell findet aber abgesehen von Pilotversuchen noch keine umfassende Akutversorgung durch rettungsdienstlich ausgebildete Pflegekräfte statt.
Muss auch der Dokumentationspflicht im Rettungswesen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden?
Auf jeden Fall. Wir brauchen eine vernünftige Datenbasis zum Systemmonitoring. Es wird zwar dokumentiert, aber jede Organisation kann das machen, wie sie möchte. Nirgends ist festgeschrieben, wie das genau zu erfolgen hat. Mit der Konsequenz, dass wir keinen österreichweiten Überblick haben. Es gibt kein zentrales Register, in dem man – ähnlich wie etwa in den Herzinfarkt- oder Schlaganfallregistern im klinischen Bereich – nachschauen könnte, wie viele Einsätze es gibt, was die Hauptkategorien sind und so weiter. Ein umfassendes ergebnisorientiertes Qualitätsmanagement lässt sich aber ohne bundesweite und elektronisch unterstützte Dokumentationsstandards nicht bewerkstelligen. Auch die Forschung könnte mehr zu Verbesserungsmaßnahmen beitragen, wenn sie einheitliche Datensätze zur Analyse und wissenschaftlichen Evaluierung heranziehen könnte. Hier hat die ÖGARI mit dem MIND-A (MIND steht für minimaler Notarzt-Datensatz, Anm.) ebenfalls einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet und auf ihrer Homepage zum Download bereitgestellt.
Die ÖGARI plädiert auch für die Einrichtung eines Lehrstuhls für präklinische Notfallmedizin …
Lehre und Forschung spielen für eine zeitgemäße Notfallmedizin eine große Rolle. Durch die Zentralisierung spitzenmedizinischer Leistungen haben wir heute ausgezeichnete Kompetenzcenter für beispielsweise Herzkatheter-, Schlaganfall- oder Traumaversorgung, was für die Patient*innen ein großer Fortschritt ist. Für das Rettungswesen bringt das jedoch neue Herausforderungen mit sich. Dem trägt auch die Novelle des Paragraphen 40 im Ärztegesetz aus dem Jahr 2018 Rechnung, mit der Ausbildung und Qualifikation der Notärzt*innen verbessert wurden. Vor allem die Erweiterung ihrer klinischen Kompetenzen ist absolut versorgungsrelevant und von entscheidender Bedeutung. Aber es fehlt in Österreich immer noch ein Lehrstuhl für präklinische Notfallmedizin. Auf diesem Gebiet muss genauso geforscht werden wie in allen anderen Bereichen der Medizin. Daher fordern wir von der Politik und den Universitäten, dieses Versäumnis schnellstmöglich nachzuholen. Zudem braucht es mehr finanzielle Förderung für notfallmedizinische Forschung, die ohnehin erschwert ist durch die Arbeit an sich. Rettungsteams haben meist kurze Einsätze unter hohem Zeitdruck und entsprechendem Stresslevel. Sie haben schlichtweg anderes zu tun, als Daten zu sammeln. Unter anderem müsste man Forschungsassistent*innen finanzieren, die mitfahren, um zum Beispiel neue Verfahren zu untersuchen.
"Es fehlt in Österreich immer noch ein Lehrstuhl für präklinische Notfallmedizin."
Das sind sehr viele Punkte, die parallel umgesetzt werden müssten. Was steht dem noch im Wege?
Ein Haupthindernis besteht in der föderalistischen Struktur des Rettungswesens. Es gilt sehr viele Player zusammenzubringen. Darum sehen wir das Ministerium in der Verpflichtung, alle an einen Tisch zu holen und konkrete Vorgaben zu machen. Lehrpläne etwa müssen bundesweit geregelt sein, aber auch beispielsweise ein Reanimationsregister. Darüber hinaus braucht es für eine Ausbildungsreform und mehr Forschung die entsprechenden finanziellen Mittel. An der Bereitschaft der Sanitäter*innen, sich weiterzuqualifizieren, scheitert es sicher nicht, ganz im Gegenteil. Aber es muss eben auch hier Geld in die Hand genommen werden.
Interview: Uschi Sorz; Fotos: ÖGARI, www.depositphotos.com

Helmut Trimmel, Primar Univ.-Prof. Dr., MSc
Vizepräsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI
Trimmel ist Intensivmediziner, Notarzt und Vorstand der Abteilung für Anästhesie, Notfall- und Allgemeine Intensivmedizin am Landesklinikum Wiener Neustadt. Er ist Vizepräsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) und dort der Leiter der Sektion Notfallmedizin. Darüber hinaus leitet er das Institut für medizinische Simulation, Patientensicherheit und Notfallmedizin der Karl Landsteiner Gesellschaft.