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09.07.2021

"Der größte Wachstumsmarkt der Zukunft sind nicht Digitaljobs, sondern Empathieberufe!"

Einkommen ohne Arbeit für alle, ein verpflichtendes Sozialjahr für Senioren und Bildung wie bei Harry Potter: Philosoph Richard David Precht skizzierte bei einer Veranstaltung des Think Tanks Academia Superior Antworten auf die Fragen der Zukunft.

Durch die richtigen Fragen gestalterisch in die Zukunft wirken: Mit dieser Absicht hat die Academia Superior einen breit angelegten Prozess unter dem Titel „Fragen an die Zukunft“ initiiert. Zum publikumsträchtigen Auftakt führte der wissenschaftliche Leiter des oberösterreichischen Think Tanks, Markus Hengstschläger, im Linzer Schloss einen pointierten Dialog mit dem Philosophen und Bestsellerautor Richard David Precht.

Eine zentrale Zukunftsfrage ist Bildung. Doch das Bildungssystem sei noch immer nach dem Vorbild des Militärs so aufgestellt, wie es im 19. Jahrhundert sinnvoll gewesen sein mochte, sagt Precht. Seither wurde immer mehr an dieses System angeflickt, ohne dass jemals eine Revolution im Sinne von Umwälzung erfolgt ist. Das hat zur Folge, dass heute bestenfalls fünf Prozent des erlernten Schulstoffs im späteren Leben noch abrufbar sind. Fähigkeiten wie Eigeninitiative und Selbstorganisation werden jedoch nicht vermittelt.

"Die Schulbürokratie muss die Leine verlängern und Schulen mehr Freiheiten geben", meint Philosoph Richard David Precht.

„Die Schulbürokratie muss die Leine verlängern und Schulen mehr Freiheiten geben“, fordert der deutsche Publizist. Schulen könnten spannende Orte sein, wenn in der Lehrerausbildung mehr Wert darauf gelegt würde, bei den Kindern Leidenschaft zu wecken. Das könnte durchaus auch über spielerische Konkurrenz in Teams erfolgen, in „Lernhäusern“ wie Slytherin und Gryffindor in Harry Potters Zauberschule. Reine Wissensvermittlung könne schon heute ein Bildungsroboter besser erledigen als jede Kindergärtnerin. Doch für die soziale Entwicklung sei die humane Dimension unverzichtbar.

Digitale Kompetenz ist keine Bildungsfrage

Der Megatrend Digitalisierung ist für Precht nicht unbedingt ein Bildungsthema, denn digitale Kompetenz sei keine Bildungsfrage. Zudem würden die allermeisten digitalen Prozesse und Routinearbeiten in Zukunft sehr einfach gehalten und Programmierer daher nur im High-End-Segment gebraucht. Als größten Wachstumsmarkt der Zukunft sieht er keineswegs digitale Berufe, sondern Empathieberufe, etwa in der Pflege.  

Müssen wir uns vor Künstlicher Intelligenz, die sich verselbständigt, fürchten? Dass KI jemals einen bösen Willen entwickeln könnte, hält der Philosoph für „ausgesprochen unwahrscheinlich“. Denkbar sei vielmehr ein Kontrollverlust, wo KI-Entscheidungen dann üble Folgen nach sich ziehen könnten, etwa im Hochfrequenzhandel an den Börsen. Das betreffe aber stets KI „in engen Mauern“, die Folgen wären also begrenzt und keine Menschheitskatastrophe.

Keine KI bei schicksalhaften Entscheidungen

Jedenfalls sollten wir uns hüten, Künstliche Intelligenz bei Entscheidungen über Fragen einzusetzen, die für Menschen schicksalhaft sind: „Da betreten wir unsicheres Terrain“. Entsprechend kritisch sieht der Erfolgsautor die Entwicklung von selbstfahrenden Autos, wobei er bezweifelt, dass sie sich jemals durchsetzen werden: „Als regelbasierte Systeme werden sie im Straßenverkehr von Palermo nicht funktionieren.“ 

Gruppenfoto

Philosoph Richard David Precht mit Christine Haberlander, Obfrau von Academia Superior und Landeshauptmann Thomas Stelzer.

Kein Weg führt für Richard David Precht an einer höheren Besteuerung des Online-Handels vorbei, denn: „Amazon ist nicht am Markt, Amazon ist der Markt.“ Die Verdrängung des klassischen Einzelhandels in den Städten bedrohe die bürgerliche Kultur insgesamt. Schließlich habe auf dem Marktplatz, der Agora, schon seit dem antiken Griechenland der Puls der liberaldemokratischen Entwicklung geschlagen.

Arbeitsgesellschaft als historische Ausnahme

Auch in der Arbeitswelt der Zukunft erwartet der Intellektuelle massive Veränderungen. Unsere Gesellschaft sei erst seit 250 Jahren eine Arbeitsgesellschaft, und auch das ausschließlich in den Kulturen des Westens – „eine Ausnahme der Geschichte“, so Precht. Die Gottgefälligkeit von Arbeit nennt er eine christliche Erfindung, auf die später dann die industrielle Revolution aufbauen konnte.

Doch jetzt, wo Routinearbeiten immer weniger werden, gelange das System an seinen Endpunkt, mit der Folge, dass Sozialsysteme neu erfunden werden müssen. Precht plädiert für ein bedingungsloses Grundeinkommen, finanziert durch Steuern auf Finanztransaktionen: Würden diese in Deutschland mit nur 0,3 Prozent besteuert, stünden für jeden Bundesbürger, jede Bundesbürgerin 1500 Euro monatlich zur Verfügung.

Podium

Markus Hengstschläger, der wissenschaftliche Leiter von Academia Superior, führte im Linzer Schloss einen pointierten Dialog mit dem Philosophen und Bestsellerautor Richard David Precht.

„Wenn dann noch bis zu 1000 Euro steuerfrei dazuverdient werden dürfen, kommt eine Krankenschwester auf 2300 Euro netto im Monat – mit drei Tagen Arbeit pro Woche. Das würde die Arbeitsmotivation enorm steigern“, ist der Philosoph überzeugt. Es entspräche auch der „Multioptionsgesellschaft“ von heute, wo immer weniger Menschen ihren Beruf ein Leben lang ausüben wollen. Dass das Grundeinkommen kommen wird, steht für Richard David Precht außer Frage: „Wenn auch nicht auf geradem Weg und ohne dass wir zuvor erst mal gegen die Wand fahren.“

"Pflicht wird zu Unrecht geringgeschätzt!"

Auf der anderen Seite tritt er durchaus dafür ein, Menschen zu Tätigkeiten im Dienst der Allgemeinheit zu verpflichten: Er schlägt ein soziales „Gesellschaftsjahr“ nicht nur für Männer und Frauen nach Abschluss ihrer Ausbildung, sondern auch beim Eintritt in den Ruhestand vor. „Mit 63 sind die meisten noch ziemlich fit. Ein Drittel engagiert sich ohnehin schon jetzt sozial, ein weiteres Drittel wird dazu nicht in der Lage sein. Aber das verbleibende Drittel könnten wir dadurch bekommen“, so Prechts Rechnung. Er denkt dabei an 15 Stunden pro Woche. Das könnte Gemeinsamkeit in der Gesellschaft stiften. „Pflicht wird zu Unrecht geringgeschätzt“, sagt Precht. Weil der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern nichts mehr abverlange, würden sich viele als Kunden und nicht mehr als Staatsbürger fühlen.

Ein Schub für ernsthafte Klimapolitik

Gibt es für Richard David Precht auch Gutes, was sich aus der Corona-Pandemie in die Zukunft mitnehmen lässt? Sie habe die Digitalisierung beschleunigt, aber auch deren Grenzen gezeigt, etwa in den Schulen. Und sie habe den Menschen in ihren technologischen Welten ihre biologische Verletzbarkeit gezeigt und ihnen bewusst gemacht: Ein winziges Virus kann uns bedrohen. „Das sollte auch einen Schub in Richtung ernsthafte Klimapolitik bewirken, denn gegen den Klimawandel kann man nicht impfen“, warnt der Philosoph. 

Und die Solidarität, die sich am Anfang der Pandemie gezeigt hat – ist auch sie ein Zukunftsmodell? „Das hat als Notgemeinschaft funktioniert, weil viele Menschen Angst vor dem Gleichen hatten“, sagt Richard David Precht. Dauerhafte Solidarität in einem unüberschaubaren Rahmen lasse sich aber nicht erzwingen: „Wir Menschen sind nicht auf globale Solidarität ausgerichtet. Wir können jedoch das, was wir nicht fühlen, mit Verstand kompensieren.“

Interview: Josef Haslinger; Bilder: © Academia Superior/wakolbinger

Richard David Precht, Prof. Dr.

Philosoph, Publizist und Bestsellerautor

Zu seinen Büchern zählen „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“, „Liebe. Ein unordentliches Gefühl“, „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ und sein neuestes Werk „Von der Pflicht. Eine Betrachtung.“ In seinen Publikationen und Vorträgen beschäftigt sich Precht seit vielen Jahren mit Fragen der Ethik. Kerngebiete dabei sind unter anderem Künstliche Intelligenz, Digitale Revolution, die Zukunft der Arbeit und Moral und Verantwortung. Abseits verstaubter und abstrakter Debatten eröffnet er neue Blickwinkel auf die wichtigsten Themen, die unsere Wirtschaft, Politik und Gesellschaft derzeit bewegen.

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