Tanzkurs auf Rezept
Ein beträchtlicher Anteil von Arztbesuchen hat keine medizinischen, sondern soziale Ursachen, so eine Studie. In einem neuen Projekt in Großbritannien werden jetzt statt Medikamente soziale Aktivitäten verschrieben.
Aasma fühlte sich einsam und verbrachte den ganz Tag zuhause, bis ihr Hausarzt sie zum Social Prescriber überwies. „So erfuhr ich vom Community Center, dem Lunch Club und den verschiedenen Veranstaltungen“, erzählt die Frau aus dem Südlondoner Stadtteil East Merton. „Jetzt komme ich aus dem Haus, treffe mich mit anderen und habe neue Freunde gefunden.“
In sozial benachteiligten Regionen werden praktische Ärzte oft aus nicht-medizinischen Gründen aufgesucht. Dies war der Ausgangspunkt einer neuen gesundheitlichen Initiative in Großbritannien. Eine Erhebung im Jahr 2015 ergab, dass bei rund 20 Prozent aller Arztbesuche ein soziales Problem vorliegt wie Einsamkeit, Verschuldung oder ein Mangel an Bewegung. Diese sozialen Faktoren haben einen wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen. Da die Patienten nicht wissen, wie sie Unterstützung bekommen können, ist die medizinische Primärversorgung oft ihre erste Anlaufstelle.
Soziale Angebote in der lokalen Community
Genau hier setzt das Projekt Social Prescribing des britischen Sozialversicherungsträgers NHS an. Praktische Ärzte und andere Vertreter der Erstversorgung können Patienten, bei denen kein direkter medizinischer Handlungsbedarf besteht, ein „soziales Rezept“ ausstellen. Damit verschaffen sie den Patienten Zugang zu einer Reihe von behördlichen, ehrenamtlichen und sozialunternehmerischen Angeboten in der lokalen Community.
Der erste Schritt besteht darin, Patienten an den zuständigen Social Prescriber oder Link Worker zu verweisen. Bei einem persönlichen Sondierungsgespräch mit dem Patienten wird anschließend herausgefunden, welche Services und Leistungen jeweils weiterhelfen können. In einem Fall kann es die Mitgliedschaft im örtlichen Turnverein sein, im anderen ein Samba-Kurs im Gemeindezentrum oder Unterstützung beim Beantragen von Beihilfen.
Keith hatte mit psychischen und finanziellen Problemen zu kämpfen und wurde über Social Prescribing an die richtigen Stellen verwiesen. „Ich bekam die Möglichkeit mit jemandem zu reden und erfuhr, welche Unterstützungen ich beantragen kann. Obwohl ich schon seit so langer Zeit hier wohne, wusste ich nicht einmal, dass es diese Services überhaupt gibt.“
Entlastung für praktische Ärzte
Für seinen behandelnden praktischen Arzt, Dr. Mohan Sekeram vom Wideway Medical Center, bedeutet Social Prescribing eine Entlastung in der täglichen Arbeit: „Viele Patienten kommen mit Beschwerden oder Problemen zu ihrem Hausarzt, die keine medizinischen Ursachen haben. Sie wissen einfach nicht, wo sie sonst hingehen können. Und wir als praktische Ärzte wissen nicht, was wir mit ihnen tun sollen, wir können sie nicht fachgemäß beraten. Dass wir jetzt Social Prescribing in der Praxis anbieten können, ist von großem Nutzen für die Patienten und hat wirklich dabei geholfen, ihre Gesundheit nachhaltig zu verbessern.“
Social Prescribing ist Teil eines langfristigen Gesundheitsprogrammes der britischen Regierung. Durch Prävention, Selbsthilfe und Personalisierung sollen Menschen ganzheitlich beraten und unterstützt werden. Dadurch können praktische Ärzte entlastet und Kosten im Gesundheitswesen gespart werden. Die Anzahl der Social Prescriber, also jener Vermittler, die soziale Aktivitäten verschreiben, soll laut Plänen des NHS künftig ausgebaut werden. Bis 2020/21 sollen mehr als 1.000 sogenannte Link Workers ausgebildet werden. Langfristig rechnet man damit, dass sie an die 900.000 Patiententermine pro Jahr wahrnehmen.
12,3 Prozent weniger Arztbesuche
In Tower Hamlets, einem traditionellen Arbeiterbezirk Londons, wurden zwischen Oktober 2016 und Februar 2019 mehr als 9.000 Überweisungen an über 400 Services erteilt. In den sechs Monaten nach einem Termin mit einem Social Prescriber wurde – verglichen mit den sechs Monaten davor – ein Rückgang an Arztbesuchen um 12,3 Prozent festgestellt.
Durch die Einführung von Social Prescribing, darin sind sich sowohl Mediziner als auch Patienten in Tower Hamlets einig, konnte eine große Lücke im lokalen Versorgungssystem geschlossen werden. Dabei sei das Ansprechen der bestimmenden sozialen Faktoren für die persönliche Gesundheit ebenso wichtig wie das gestiegene Bewusstsein für die Reihe an ehrenamtlichen Services im Sozialbereich.
Text: Gertraud Gerst; Bild: Pixabay