"Wir brauchen Innovation, damit das System stabil bleibt!"
Was Innovation betrifft, ist das Gesundheitswesen ein extrem fragmentiertes System, in dem häufig noch zu linear gedacht wird, meint Innovations-Experte Stefan Philipp. „Health Innovation Hubs“ könnten den Blick verstärkt auf die Zusammenschau lenken.
Sie beschäftigen sich mit der gesellschaftlichen Wirkung von Innovationen. Welchen Stellenwert hat Innovation im Gesundheitswesen?
Stefan Philipp: Was Österreich betrifft, fehlen mir dazu die tiefen Einblicke, weil meine Forschungsarbeit auf diesem Sektor zuletzt internationale Projekte umfasst hat. Tatsache ist aber, dass alle Gesundheitssysteme in Europa vor ähnlichen Herausforderungen stehen: eine alternde Gesellschaft, dadurch eine Zunahme von chronischen Erkrankungen und Komorbidität, steigende Kosten, gleichzeitig ein Mangel an gut ausgebildeten Leuten, die unter den derzeitigen Rahmenbedingungen arbeiten wollen. Wir werden neue Zugänge brauchen, und zwar relativ bald. Daher brauchen wir Innovation im Gesundheitssystem.
Wie innovativ ist das Gesundheitssystem im Vergleich zu anderen Sektoren?
Es hat mich überrascht, dass Innovation in diesem Umfeld deutlich anders diskutiert wird. Das System ist extrem komplex, extrem fragmentiert und großteils noch von einem linearen Denken getrieben. Zugleich ist die medizinische Forschung enorm schnelllebig, viele Akteure sind hochspezialisiert. Viele Innovationen beziehen sich auf bestimmte Krankheitsbilder oder klinische Settings. Es fehlt aber oft eine generelle, systemische Perspektive. Das führt nicht selten dazu, dass gute Ansätze liegen bleiben oder bloß in einem bestimmten Bereich angewendet werden. Manche Innovationen werden nur in einem einzigen Krankenhaus umgesetzt und schaffen es aus unerfindlichen Gründen nie darüber hinaus. Eine Systemperspektive würde es erleichtern, Wissen zwischen den Akteuren zu teilen.
"Grundsätzlich führt die Komplexität des Gesundheitssystems dazu, dass manche Innovationen scheitern, auch wenn sie nachweislich gute Zugänge sind."
Haben es Innovationen im Gesundheitssystem also schwerer?
Grundsätzlich führt die Komplexität des Gesundheitssystems dazu, dass manche Innovationen scheitern, auch wenn sie nachweislich gute Zugänge sind. Man muss aber unterscheiden. Moderne medizinische Geräte oder neue Medikamente sind oft relativ einfach zu integrieren. Das Covid-19-Vakzin auf mRNA-Basis etwa war ein radikal neuer Zugang zum Thema Impfung, aber die Verabreichung im Gesundheitssystem, die Praxis der gesundheitlichen Serviceeinrichtung hat sich nicht verändert. Im Gegensatz dazu würde zum Beispiel Telemedizin eine komplexe Neuorganisation von Arbeit und der Beziehung Arzt bzw. Ärztin und Patient*in im Alltag erfordern. Gerade Telemedizin ist ein Riesenfaktor in Sachen Innovation, der bei manchen Gruppen große Hoffnungen, bei anderen massive Vorbehalte auslöst. Daher geht es bei meiner Forschungsarbeit auch um die Frage: Was muss ein System leisten können, damit es diese Erwartungen erfüllt, ohne die Befürchtungen zu bestätigen.
"Innovationen setzen sich meistens am Markt durch."
Gibt es noch andere spezifische Herausforderungen bei Innovationen im Gesundheitssystem?
Innovationen setzen sich meistens am Markt durch. Der Markt ist aber im stark staatlich regulierten Gesundheitssystem nur teilweise vorhanden. Nur wenige Akteure haben sozusagen eine Marktmacht oder die alleinige Entscheidungsbefugnis, ihre Ansichten durchzusetzen, es passiert immer ein Aushandlungsprozess. Man muss all diese Interessen unter einen Hut bringen und auch die Zeitkomponente berücksichtigen. Es muss also eine Koordination stattfinden. Die Notwendigkeit, Dinge neu zu denken, ist vielen durchaus bewusst – aber jeder denkt die Dinge anders neu, nämlich aus seiner Sicht.
Wie lässt sich das lösen?
Indem man einen Schritt zurück macht und nicht fragt: Was ist die Lösung? Sondern: Was ist das Problem, wo drückt der Schuh? Es geht darum, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen und erst einmal die „innovation needs“ zu identifizieren, um dann in einem offenen Prozess gemeinsam bunte Lösungen zu entwickeln. Das war einer unserer Kernpunkte im Projekt CHERRIES (www.cherries2020.eu), bei dem wir in Schweden, Spanien und Zypern drei völlig unterschiedliche Fragestellungen aus dem Gesundheitssektor untersucht haben. Es hat sich dabei auch gezeigt, dass der räumliche Kontext sehr wichtig ist. Jedes Gesundheitssystem ist anders organisiert, hat seine speziellen Strukturen und historischen Entwicklungspfade. Das muss man berücksichtigen und auf dieser existierenden Situation weiterarbeiten, um nicht auf einem blanken Papier ein neues System zu skizzieren und dabei allen auf die Füße zu treten. Es ist uns gelungen, ein flexibles Innovationstool zu finden, das in allen drei Fällen funktioniert und gute Ideen generiert hat.
Sie empfehlen auch ein „Health Innovation Hub“-Modell – was steckt dahinter?
Beim Innovationsmanagement im Gesundheitsbereich geht es vorrangig um drei Aspekte: Problembewusstsein schaffen, eine Innovation entwickeln und das komplexe System rundherum so orchestrieren, dass die Implementierung tatsächlich stattfindet. Dafür braucht es eine Struktur. Es muss jemand geben, der die Innovationsprozesse betreut, die Leute zusammenbringt, das Aushandeln mitträgt und sich darum kümmert, dass daraus nachhaltige Veränderungen entstehen. Der Health Innovation Hub ist gedacht als eine Arena, um gemeinsam mit Stakeholdern Visionen zu schaffen, wie die gesundheitliche Praxis in Zukunft ausschauen sollte, und vom Status quo zu dieser Vision hinzuarbeiten. Wenn zentrale Akteure beteiligt sind, die im Gesundheitssystem gut verankert sind und Zugang zu den Entscheidungsträgern haben, wäre das ein guter Weg, um Innovationen ins System zu bringen. Wir müssen jedenfalls als Gesellschaft über neue, innovative Möglichkeiten nachdenken, damit das Gesundheitssystem stabil bleibt. Und wir sollten bei Innovation nicht nur an Technologie denken.
Interview: Josef Haslinger; Fotos: ZSI, www.depositphotos.com
Stefan Philipp, Dipl.-Ing.
Innovationsexperte
Philipp hat Raumplanung an der TU Wien studiert und ist Mitarbeiter am Zentrum für Soziale Innovation (ZSI), einem gemeinnützigen Institut für angewandte Sozialwissenschaften in Wien. Er befasst sich vorwiegend mit Fragen zu Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik und hat zuletzt u. a. das internationale Projekt CHERRIES (Constructing Healthcare Environments through Responsible Research Innovation and Entrepreneurship Strategies) geleitet. Daneben ist Philipp Doktorand am Laboratoire Interdisciplinaire Sciences Innovations Sociétés (LISIS) in Paris.