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Gesundheit
Österreich
23.01.2024

„Das Gesundheitswesen hat bei häuslicher Gewalt eine wichtige Schlüsselrolle“

Häusliche Gewalt stellt neben dem sozialen Aspekt auch ein erhebliches gesundheitliches Problem dar. Der Österreichische Dachverband für Opferschutzgruppen im Gesundheits- und Sozialbereich hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Früherkennung zu fördern und Behandelnde für die Thematik stärker zu sensibilisieren. INGO sprach mit Obmann Priv.-Doz. Dr. Thomas Beck über neue Wege in der gesundheitlichen Versorgung von Gewaltopfern.

Laut einer Prävalenzstudie zu Gewalt an Frauen, suchen rund 20 Prozent der Betroffenen Hilfe im Gesundheitswesen oder einer Beratungseinrichtung statt beispielsweise bei der Polizei oder bei der Frauen-Helpline und anderen Unterstützungseinrichtungen gegen Gewalt. Worauf führen Sie dies zurück?

Thomas Beck: Wenn Betroffene schon über Jahre hinweg in Beziehungen mit häuslicher Gewalt stecken, ist es für sie meist sehr schwierig, diese zu beenden. Viele scheuen sich davor, die Vorfälle bei der Polizei oder einer Gewaltschutzeinrichtung zu melden, da sie Angst vor tiefgreifenden Konsequenzen haben. Für Gewaltopfer ist das Gesundheitswesen daher eine deutlich unterschwellige Möglichkeit, sich Unterstützung und Hilfe zu holen, vor allem wenn körperliche Beschwerden vorliegen. Dabei geht es nicht nur um die akuten physischen Verletzungen, sondern auch um die ganze gesundheitliche Bandbreite, die damit einhergeht. 

Welche gesundheitlichen Auswirkungen können die Gewalttaten haben?

Viele Studien zeigen, dass Gewalterfahrungen zentrale Auswirkungen auf die gesamte Gesundheit haben. Erlebnisse dieser Art können zur Chronifizierung von Erkrankungen und zu verzögerten Heilungsprozessen beitragen. Auf der körperlichen Ebene gibt es Zusammenhänge zwischen Gewalterlebnissen und Krankheiten wie Diabetes, Magen-Darmerkrankungen, Knochenerkrankungen oder Atemwegserkrankungen. Auch Herz-Kreislauf-Beschwerden, die von der permanenten Stresssituation herrühren, sind häufig Korrelaten. Im Bereich der gynäkologischen Erkrankungen kann Gewalt die Ursache für Früh- oder Fehlgeburten sein, ein geringes Gewicht von Neugeborenen zufolge haben oder sogar Gebärmutterhalskrebs auslösen. Auf der psychischen Ebene lösen Gewalterfahrungen Schlafstörungen, Ängste, vermindertes Selbstwertgefühl, Essstörungen, Selbstverletzungen, Depression und auch Suizidgedanken aus. 

"Eine unverhältnismäßig lange Zeitspanne zwischen dem Auftreten der Verletzung und der Behandlung kann ein Hinweis auf ein Gewalterlebnis sein. Es gibt hier viele Indikatoren."

Wie lässt sich häusliche Gewalt frühzeitig erkennen?

Neben evidenten körperlichen Verletzungen ist es von höchster Relevanz zu ermitteln, welche gesundheitlichen Probleme spezifisch mit dem Erleben von Gewalt assoziiert werden können, um rasch Hilfe zu leisten. So kann beispielsweise eine unverhältnismäßig lange Zeitspanne zwischen dem Auftreten der Verletzung und der Behandlung ein Hinweis auf Gewalterlebnisse sein oder auch eine zögerliche Reaktion auf die Frage nach der Krankengeschichte darauf hinweisen. Es gibt hier viele Indikatoren. Daher ist es wichtig, die Früherkennung zu fördern und das medizinische Personal für den Umgang mit Betroffenen zu sensibilisieren.

Ein Ziel, das Sie mit der Gründung des Österreichischen Dachverbands für Opferschutzgruppen im Gesundheits- und Sozialbereich verfolgen.

Richtig. Uns geht es um die Vernetzung mit bestehenden Opferschutzgruppen für den Austausch von Erfahrungen in einem gemeinsamen Forum. Darüber hinaus bieten wir Aus- und Fortbildungsseminare und Schulungsprogramme zu der Thematik an, unterstützen Einrichtungen bei der Neugründung von Opferschutzgruppen und erstellen Standards für deren Arbeit.

Opferschutzgruppen sind in Krankenhäusern gesetzlich vorgeschrieben. 

Ja, so ist es. Schließlich hat das Gesundheitswesen bei häuslicher Gewalt eine wichtige Schlüsselrolle. Wie gesagt, möchten wir deshalb die Vernetzung bestehender Opferschutzgruppen fördern. Eines unserer großen Anliegen ist aber auch, dass es hierfür in den Krankenhäusern ausreichende Ressourcen gibt. Diese Thematik lässt sich nicht nebenbei unterbringen. Es braucht dafür klar gewidmete Ressourcen, damit Gewaltschutz auch effektiv durchgeführt werden kann. 

Wie funktioniert Gewaltschutz im Bereich der niedergelassenen Ärzt*innen? 

Hier wäre eine Vernetzung und Zusammenarbeit mit den Opferschutzgruppen in den nächsten Krankenhäusern der ideale Weg. Voraussetzung ist aber auch in diesem Bereich eine hohe Sensibilisierung für das Thema. Hierzu haben wir für das Anamnesegespräch eine standardisierte Routinebefragung zur Früherkennung von Gewalterfahrungen erstellt. Zudem hat auch das Gesundheitsministerium Ende 2023 über die Gesundheit Österreich ein Gewaltschutzkonzept für niedergelassene Ärzt*innen ausgearbeitet, um sie bei den Ansprechpartner*innen und bei der Dokumentation zu unterstützen. 

"Auch Männer werden häufig Opfer von häuslicher Gewalt und es sind gar nicht so wenige."

Sind neben Frauen und Kindern auch Männer häufig Opfer von häuslicher Gewalt?

Tatsächlich sind es gar nicht so wenige. Bei unserer letzten Erhebung an der Klinik Innsbruck haben wir 29,6 Prozent betroffene Männer gezählt. Letztlich ist es wichtig, das ganze Familiensystem zu berücksichtigen. 

Inwiefern?

Wenn man beispielsweise eine Mutter mit Gewalterfahrungen betreut, vermuten wir, dass die Kinder höchstwahrscheinlich Zeugen dieser Gewalttaten gewesen sein könnten, was bei ihnen ebenfalls zu gesundheitlichen Beschwerden führen kann. Daher ist es wichtig zu erfahren, welche Familienmitglieder ebenfalls Unterstützung benötigen.

Wie ist die bisherige Resonanz auf Ihre Einrichtung?

Sie ist durchaus positiv. Die Mitgliedschaft für Opferschutzgruppen ist bei uns kostenlos. Daher sind wir in der Finanzierung auf die Unterstützung von Spender*innen angewiesen. Wir zählen viele neue Mitglieder und freuen uns auch über die zunehmende Sensibilisierung der Thematik in der Öffentlichkeit. 

Interview: Rosi Dorudi; Fotos: privat, www.de.depositphotos.com,

Thomas Beck, Priv.-Doz. Mag. Dr.

Obmann des Österreichischen Dachverbands für Opferschutzgruppen im Gesundheits- und Sozialbereich

Beck leitet seit 2017 die Opferschutzgruppe am Landeskrankenhaus – Universitätskliniken Innsbruck als Stabsstelle der Ärztlichen Direktion. Zudem ist Beck Obmann des Österreichischen Dachverbands der Opferschutzgruppen im Gesundheits- und Sozialbereich. Beck ist Klinischer und Gesundheitspsychologe, er absolvierte mehrere Zusatzausbildungen im Bereich Psychotraumatologie (z. B. strukturelle Dissoziation, Prolonged Exposure) und arbeitete bis 2023 an der Universitätsklinik für Psychiatrie II im Bereich Psychotraumatologie und Traumatherapie in der Behandlung komplex traumatisierter Patientinnen und Patienten. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen einerseits im Bereich Emotionsregulation und andererseits im Bereich Folgen von häuslicher Gewalt.

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