Die Krankheit des Vergessens
Als besondere Form der Demenz ist die Alzheimer-Krankheit bis heute nicht heilbar und kann jeden treffen. Weltweit suchen Forscher*innen seit Jahrzehnten nach der Ursache mit dem Ziel, eine wirksame Therapie zu entwickeln. Zuletzt hat der neu getestete Amyloid-Antikörper Lecanemab in Fachkreisen für Aufmerksamkeit gesorgt. Ist das Medikament der lange erwartete Durchbruch im Kampf gegen Alzheimer? INGO sprach darüber mit Professor Wolf Müllbacher, Vorstand der Neurologie im Krankenhaus Göttlicher Heiland Wien.
Herr Professor Müllbacher, welche Anzeichen auf eine Alzheimer-Erkrankung gibt es?
Wolf Müllbacher: Im Vordergrund steht eine Gedächtnisstörung, die bei den Betroffenen zu Erinnerungslücken führt. Typische Anzeichen dafür sind ein ständiges Wiederholen der gleichen Fragen, das Vergessen von Terminen oder Erlebnissen der letzten Tage und sogar Wochen. Das Speichern von gegenwärtigen Informationen ist einfach nicht mehr möglich. Das erklärt auch, warum Betroffene ausschließlich von längst vergangenen Zeiten reden.
Wie ist der weitere Verlauf?
Die Krankheit verläuft schleichend. Mit der Zeit werden alltägliche Handlungen plötzlich zur großen Herausforderung. Bei Routineabläufen wie der Körperpflege, dem Anziehen oder dem Kochen wird die Reihenfolge durcheinandergebracht. Menschen mit Alzheimer lassen auch häufig Gegenstände liegen oder deponieren sie an ungewöhnlichen Stellen. Hinzu kommt, dass sie nicht nur vergessen, wo die Gegenstände sind, sondern auch, wozu sie gut sind. Vielen Erkrankten fällt es zudem schwer, einer Unterhaltung zu folgen oder aktiv an einem Gespräch teilzunehmen. Sie verlieren ständig den Faden oder haben Probleme mit der Wortfindung. Auch Orientierungsstörungen, Wahrnehmungsprobleme und ein eingeschränktes Urteilsvermögen sind Hinweise auf eine Alzheimer-Erkrankung.
Wann sollte man sich diesbezüglich untersuchen lassen?
Bemerkt man anhaltende Konzentrationsprobleme oder zunehmende Gedächtnislücken an sich oder an vertrauten Personen, sollte unbedingt ein/e Spezialist*in aufgesucht werden.
"Bemerkt man anhaltende Konzentrationsprobleme oder zunehmende Gedächtnislücken an sich oder an vertrauten Personen, sollte unbedingt ein/e Spezialist*in aufgesucht werden."
Wie unterscheidet sich die Alzheimer-Demenz von anderen Demenzarten?
Sie unterscheidet sich in ihrer Ursache. Bei betroffenen Senior*innen spricht man von einer senilen Demenz vom Alzheimer-Typ, die durch Eiweißablagerungen im Gehirn ausgelöst wird. Bei jüngeren Betroffenen erweisen sich die oben genannten Anzeichen meist als Alzheimer-Erkrankung, die auf den Verlust von Nervenzellen und Gehirngewebe zurückzuführen sind. Es gibt auch noch andere Demenzarten, die beispielsweis durch mehrere kleineren Schlaganfälle verursacht werden können. Die häufigsten Arten sind jedoch die bereits erwähnten Formen.
Welche Verfahren kommen in der Alzheimer-Früherkennung bei Ihnen zum Einsatz?
Wir beginnen mit einem ausführlichen persönlichen Anamnesegespräch mit dem/der Patient*in und den Angehörigen oder anderen vertrauten Begleitern. Dabei werden die subjektiven Schwierigkeiten erörtert. Darauf folgen die körperliche Untersuchung (Neurostatus) und bedarfsorientierte Zusatzuntersuchungen wie zum Beispiel eine MRT des Gehirns und ein EEG. In detaillierten neuropsychologischen Tests wird das Ausmaß der Gedächtnisstörung qualitativ und quantitativ erfasst. Gegebenenfalls kommen noch weitere Verfahren wie zum Beispiel die Lumbalpunktion mit Untersuchung der Gehirnflüssigkeit oder eine PET (Positronen-Emissions-Tomographie) zum Einsatz. Gelegentlich führen wir schon beim Erstbesuch den am häufigsten eingesetzten Demenztest, den sogenannten Mini-Mental-Status-Test (MMST) durch, der aufgrund verschiedener Fragen ein zuverlässiges Bild von der kognitiven Leistungsfähigkeit der zu untersuchenden Person gibt (den MMST finden Sie zum Beispiel hier https://www.demenzservicenoe.at/fileadmin/public/Downloads_und_Publikationen/Mini_Mental_Status.pdf.
Welche Therapien erhalten Ihre Patient*innen bei der Diagnose Alzheimer-Erkrankung?
Wir haben im Wesentlichen zwei der gängigen zugelassenen Therapien im Einsatz. Das sind zum einen die sogenannten Acetylcholinesterase-Hemmer bei leichter und mittelschwerer Demenz sowie Medikamente mit dem Wirkstoff Memantin bei schwerer Demenzerkrankung. Neben der medikamentösen Therapie bieten wir auch Tests und Übungsstrategien an, darunter effektives Gedächtnistraining.
Insgesamt ist das medikamentöse Therapieangebot bei einer Alzheimer-Erkrankung jedoch eher unbefriedigend. Welche Forschungsansätze und Hypothesen sind zurzeit von Bedeutung?
In der Alzheimer-Forschung gibt es im Wesentlichen zwei Aspekte: Die sogenannte Amyloid-Hypothese geht davon aus, dass die Ablagerung des Proteins beta-Amyloid in den Nervenzellen eine zentrale Rolle in der Krankheitsentstehung spielt. Beim zweiten Aspekt steht das kleine Protein Tau im Fokus. Dieses stabilisiert die röhrenförmigen Transportstrukturen in den Nervenzell-Fortsätzen, also außerhalb der Zellen. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich bei der Alzheimer-Krankheit das Protein Tau aus nicht ganz geklärten Gründen chemisch verändert und zu den bereits oben erwähnten Veränderungen im Gehirn führt.
"Leider ist der Effekt des Wirkstoffs Lecanemab noch sehr gering. Mit anderen Worten ausgedrückt, ist die Besserung für Alzheimer-Patient*innen durch das neue Medikament eher bescheiden."
Nun hat ein neu getesteter Amyloid-Antikörper namens Lecanemab vor kurzen sehr viel Aufmerksamkeit erregt. Wie sehen Sie die Ergebnisse der Studie? Ist das Medikament nun der lange erwartete Durchbruch im Kampf gegen Alzheimer?
Es gab in den letzten Jahren schon einige Studien zu unterschiedlichen Antikörpern, die den Abbau der erwähnten Eiweißstoffe forcieren sollten. Diese haben jedoch bisher zu keiner wesentlichen klinischen Verbesserung bei Alzheimer-Patient*innen geführt. Die jüngste Studie zur Amyloid-Hypothese mit dem Wirkstoff Lecanemab hat bei Proband*innen erstmals im Vergleich zu einem Placebo signifikant positiv abgeschnitten. Das ist natürlich ein Lichtblick in der Alzheimerforschung. Doch leider ist der Effekt mit 0,45 Punkten auf einer 18-Punkte-Skala noch sehr gering. Mit anderen Worten ausgedrückt, ist die Besserung für Alzheimer-Patient*innen durch das neue Medikament eher bescheiden.
Im Mittelpunkt vieler Diskussionen standen auch die Nebenwirkungen. Wie ist Ihr fachmännisches Urteil?
Die klinischen Studien haben gezeigt, dass Lecanemab zu Blutungen und Schwellungen im Gehirn führen kann. Tatsächlich merkten die Patient*innen aber wenig davon und klagten allenfalls über Schwindel. Allerdings gab es auch zwei Todesfälle. Zwar ist noch nicht klar, wie diese zu bewerten sind, dennoch zeichnet sich ab, dass der Forschungsweg hier weiterhin ein langer sein wird, um den Nutzen versus der Risiken abzuwägen.
Interview: Rosi Dorudi; Fotos: Göttlicher Heiland Krankenhaus; www.depositphotos.com
Wolf Müllbacher, Prim. Univ.-Prof. Dr.
Vorstand der Neurologie im Krankenhaus Göttlicher Heiland Wien
Müllbacher absolvierte sein Medizinstudium an der Universität Wien, wo er parallel als wissenschaftlicher Studienassistent am Institut für Klinische und Experimentelle Physiologie tätig war. Nach seiner Promotion im Jahre 1989 ließ er sich an der Universitätsklinik in Bern zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie ausbilden und war anschließend als Universitätsassistent am Institut für Neurologie der Universität Wien tätig. Zu den Stationen seines Werdegangs zählt ein Stipendium der Max-Kade Foundation New York an den National Institutes of Neurological Disorders and Stroke sowie dem National Institutes of Health (NIH), Bethesda, Maryland. Von 1996-2005 war Müllbacher Oberarzt am Neurologischen Krankenhaus Wien Rosenhügel mit den Schwerpunkten Klinische und Experimentelle Neurophysiologie, Neurorehabilitation. Seit 2006 ist Müllbacher Vorstand der Neurologie des Krankenhauses Göttlicher Heiland, Wien. Seit 2016 hält er eine Professur an der Medizinischen Universität Wien inne.