Neue Arzneimittel: Onkologie steht im Fokus der Innovation
Über 50 Medikamente mit neuem Wirkstoff wurden im Vorjahr in Österreich zugelassen, knapp ein Drittel mehr als im Jahr zuvor. Günter Waxenecker, Chef der AGES-Medizinmarktaufsicht, sieht Österreich als innovativen Forschungsstandort im Pharma-Bereich international gut aufgestellt. Auch seine Behörde spielt europaweit in der Oberliga.
54 Arzneimittel wurden 2022 neu zugelassen, deutlich mehr als im langjährigen Durchschnitt. Ist das eine Auswirkung von COVID-19?
Günter Waxenecker: Nein, COVID-19 hat für den Anstieg keine wesentliche Rolle gespielt, die Forschung an diesen Arzneimitteln war sozusagen eine Draufgabe. Tatsächlich ist die Onkologie die breiteste Indikation, auf sie entfallen rund 30 Prozent der neu zugelassenen Medikamente und Wirkstoffe. Dazu zählen sehr erfolgreiche Biotech-Produkte und monoklonale Antikörper, aber auch Gen- und Zelltherapien sowie autologe Therapien, etwa mit körpereigenen T-Zellen. Diese Innovationen befinden sich oft schon über zehn Jahre in der Entwicklung, jetzt kommen die entsprechenden Produkte auf den Markt. Die Innovationen betreffen aber auch viele andere Therapiegebiete. So gibt es nun beispielsweise erstmals eine Gentherapie zur Behandlung der schweren Hämophilie A, die die regelmäßige Injektion von Gerinnungsfaktoren ersetzen kann.
Medizin wird zunehmend personalisiert, damit werden Arzneimittel immer spezifischer. Was bedeutet das für die Zulassung?
Die Zeiten, in denen sich Pharmafirmen auf die großen Indikationen von Bluthochdruck bis Diabetes stürzen, sind zu einem guten Teil vorüber – die „low hanging fruits“ sind teilweise gepflückt. Man konzentriert sich nun auch vermehrt auf kleinere Zielgruppen, und mit den neuen Technologien wie etwa der Biotechnologie sind auch neue therapeutische Möglichkeiten entstanden, um Nischenindikationen zu erreichen. Dazu kommt, dass die Richtung von einer früher symptomgetriebenen Forschung und Zulassung hin zu einer ursachenbasierten Indikation geht. Wir erhalten damit zielgenauere Waffen, mit denen sich ein Tumor oder eine Infektion ursächlich behandeln lässt. Das ändert auch vieles im regulatorischen Bereich und bei klinischen Studien, etwa bei der Verifizierung durch bestätigende klinische Studien. Der Trend geht also bereits klar in diese Richtung, und das erste EU-Land hat soeben das Recht auf personalisierte Therapie gesetzlich festgeschrieben.
"Bei der wissenschaftlichen Beratung belegen wir regelmäßig EU-weit einen der ersten drei Plätze."
Was genau macht eigentlich die Medizinmarktaufsicht?
Unsere drei Institute mit mehr als 380 Mitarbeiter*innen bearbeiten eine Vielzahl von Aufgaben, etwa im Zusammenhang mit der Arzneimittelzulassung, der klinischen Prüfung sowie der Sicherheit von Arzneimitteln und Medizinprodukten, mit der Inspektion von Herstellung, Lagerung und auch labormäßigen Testung der Qualität von Arzneimitteln, um nur einige zu nennen. Mit dem Vollzug der hoheitlichen Aufgaben ist das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) befasst, eine nachgeordnete Behörde des Gesundheitsministeriums. Unsere Fachleute wirken aber auch federführend auf EU-Ebene mit, vor allem bei der Europäischen Arzneimittelagentur EMA, wo zum Beispiel zentrale Arzneimittelzulassungen für die gesamte EU erfolgen. Als Berichterstatter oder Co-Berichterstatter befinden sich AGES-Expert*innen im Rahmen der übernommenen Aufgaben seit vielen Jahren unter den Top 10 der Agenturen, ebenso bei den gegenseitigen Anerkennungsverfahren von nationalen Arzneimittelzulassungen. Bei der wissenschaftlichen Beratung belegen wir regelmäßig EU-weit einen der ersten drei Plätze. Und wir bemühen uns ständig, internationale Best Practices ins Land zu holen, etwa im Bereich Biosimilars. Für eine Behörde unserer Dimension ist das ein weit überdurchschnittliches Engagement, da messen wir uns mit Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, wo die EMA ja ihren Sitz hat.
Wie beurteilen Sie die Forschungstätigkeit an neuen Wirkstoffen in Österreich, wie viele klinische Studien werden durchgeführt?
Die Forschungsarbeit im medizinisch-pharmazeutischen Bereich ist intensiv, das zeigt auch die Innovationsbilanz. Jährlich werden zwischen 250 und 300 klinische Studien gestartet, im Vorjahr waren es 284. Rund 95 Prozent der Einreichungen werden genehmigt, wobei wir versuchen, den Einreichern von Anfang an beratend unter die Arme zu greifen und über die Formalien hinwegzuhelfen. Am häufigsten sind Phase-II- und Phase-III-Studien, auch in internationalen Settings, um die notwendigen Fallzahlen zu erreichen. Phase-I-Studien laufen aktuell nicht so viele, das sollte sich mit der Fertigstellung des klinischen Prüfzentrums ändern, an dem die MedUni Wien derzeit arbeitet. Solche Zentren gibt es derzeit nicht viele in Europa. Wir sind auch sehr daran interessiert, die Zusammenarbeit mit den MedUnis, mit denen wir bereits jetzt sehr gut kooperieren, noch weiter zu verbessern. Die akademische Forschung macht derzeit etwa 25 Prozent der klinischen Studien aus, 75 Prozent sind kommerzielle Studien.
"In der Arzneimittelentwicklung, die ja nur einmal erfolgt, ist der Verzicht auf Tierversuche nach wie vor ein extrem schwieriges Unterfangen."
In den USA sind Tierversuche seit heuer bei der Entwicklung von Pharmazeutika nicht mehr zwingend vorgeschrieben – eine richtige Entscheidung?
Grundsätzlich gibt es auch in der EU schon einen sehr hohen Anteil an Zulassungsverfahren, die ohne Tierversuche auskommen. Dabei handelt es sich um sogenannte „bezugnehmende“ Zulassungen für zum Beispiel Generika oder Biosimilars, wo eine Wiederholung der vom Originator durchgeführten Tierversuche keine neuen Erkenntnisse liefert. Das ist gesetzlich längst möglich. Da zunehmend auch an pharmakologischen Zielstrukturen gearbeitet wird, die ausschließlich im Menschen vorkommen, sind Tiermodelle für diese Gruppe ohnehin wenig aussagekräftig. Es gibt in diesem Bereich immer mehr neue Technologien, wie Organoide und humane Stammzellen, die hier sehr vielversprechend sind. Diese Tests bilden allerdings immer nur einen kleinen Teil, einen Ausschnitt der enormen Komplexität eines Lebewesens ab. Daher muss das präklinische Studienprogramm sehr genau und schrittweise überlegt werden. Das reine Abarbeiten von gesetzlich festgelegten Standardprotokollen ist dabei nicht zielführend und macht die Nutzen-Risiko-Bewertung von Humanarzneimitteln so speziell. Man muss sich immer bewusst sein: Was auf präklinischer Ebene, ob im Labor- oder Tierversuch, nicht geklärt werden kann, bleibt als Risiko in der klinischen Prüfung bestehen. Dennoch sind wir sehr bestrebt, mit möglichst wenig Tierversuchen auszukommen, und beraten die Entwickler auch in dieser Hinsicht. So haben wir gerade viel Zeit investiert, um die Chargenfreigabe der beiden FSME-Impfstoffe, die seit Jahren zugelassen sind, tierversuchsfrei zu machen. Seit Jahresanfang kommt stattdessen ein In-vitro-Testsystem zum Einsatz. Das erspart jährlich 6.000 bis 7.000 Mäusen den Tod. In der Arzneimittentwicklung, die ja nur einmal erfolgt, ist der Verzicht auf Tierversuche nach wie vor ein extrem schwieriges Unterfangen. Wenn danach aber nicht mehr jede einzelne Charge im Tierversuch geprüft werden muss, ist das ein wesentlich größerer Hebel. Wir hoffen, dass wir diesen Erfolg weiter ausrollen können.
Ein großes Thema sind aktuell Lieferengpässe bei bestimmten Arzneimitteln. Wie sehr beschäftigt Sie das?
Es beschäftigt uns immer mehr. Bisher hatten wir als Zulassungsbehörde mit Warenströmen nichts zu tun. Das ist eine Sache des Marktes, und es ist gut, dass es diese Demarkationslinie zwischen der Nutzen-Risiko-Bewertung und der Beschaffung gibt. Aber Lieferengpässe sind Realität, und daher wurde bereits 2018 im Haus eine Task Force gegründet, wo wir als neutraler Partner die Stakeholder zusammenbringen. Die Thematik lässt sich auf nationaler Ebene nicht lösen, doch wir wissen aus Untersuchungen, dass 80 Prozent der Lieferengpässe durch regionalen Austausch und Alternativtherapien auszugleichen sind. Da kommen wir ins Spiel. Wir können vieles nicht beeinflussen, aber bei uns laufen viele Informationen zusammen und wir können diese auch sehr schnell auf die europäische Ebene weiterleiten. Vieles spielt sich in dieser Frage auf internationalem Niveau ab und da ist es besser, europaweit mit einer Stimme zu sprechen. Es geht auch darum, vorhandenes Zahlenmaterial zu verknüpfen, um künftig auf Knopfdruck zu wissen, was gebraucht wird und was vorrätig ist. Wir müssen als qualifizierter, vertrauenswürdiger Datenpartner den Firmen klare und sichere Rahmenbedingungen geben, denn es geht schließlich auch um große Investitionen.
Wie attraktiv ist Österreich als Standort für die pharmazeutische Industrie?
Wir stehen in einem harten internationalen Wettbewerb, denn die Big Player können natürlich frei entscheiden, wo sie investieren. Dass große Pharma-Unternehmen immer wieder Österreich als Standort für Betriebsansiedlungen und Erweiterungen bevorzugen, lässt mich optimistisch in die Zukunft blicken. Und es stellt auch uns als Behörde, die für zuverlässige Rahmenbedingungen verantwortlich ist, ein gutes Zeugnis aus.
Interview: Josef Haslinger; Fotos: AGES / Felice Drott, www.depositphotos.com
Günter Waxenecker, DI Dr.
Leiter der AGES-Medizinmarktaufsicht
Waxenecker leitet seit heuer die Medizinmarktaufsicht, das größte Geschäftsfeld der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), und ist in dieser Funktion auch verfahrensleitendes Mitglied im Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG). Der studierte Lebensmittel- und Biotechnologe und Master of Drug Regulatory Affairs hat langjährige Erfahrung in Forschung, Entwicklung und regulatorischen Aspekten von Arzneimitteln. Als Fachexperte ist der 53-Jährige in europäischen und internationalen Fachgremien tätig, er lehrt an Fachhochschulen und an der Veterinärmedizinischen Universität Wien.