Automatisierte Dokumentation: Revolution im Gesundheitswesen?
Überlastete Fachkräfte, lange Wartezeiten, verunsicherte Patientinnen und Patienten. Das Gesundheitssystem leidet nicht nur hierzulande unter Ressourcenknappheit auf vielen Ebenen. Sprachgesteuerte Computerprogramme könnten hier für entscheidende Entlastung sorgen – die großen Tech- und IT-Unternehmen investieren bereits intensiv in die künstlich-intelligenten Assistenzen.
Medizinische Dokumentation ist essenziell für ein funktionierendes Gesundheitssystem. Insbesondere in Zeiten wie diesen, in denen dieses System unter anderem aufgrund des Fachkräftemangels im ärztlichen und im Pflegebereich an seine Grenzen stößt, sorgen jedoch gerade Erstellung und Dokumentation von Information für teils große Herausforderungen: Laut einer US-Studie werden für jede Stunde, die Ärztinnen und Ärzte ihren Patienten persönlich zur Verfügung stehen, knapp zwei Stunden für Schreibtischarbeit aufgewendet. Wenn sich also Ärzt:innen lediglich zu einem Drittel ihrer Zeit tatsächlich mit der Behandlung von Menschen beschäftigen (können), liegt die Problematik auf der Hand. Und die Notwendigkeit, diese Ineffizienz zu beenden.
Ein Ansatz zur Problemlösung, dem Technologieunternehmen aktuell vermehrt ihre Aufmerksamkeit widmen, liegt in automatisierter, digitaler Dokumentation. Also in Computer-Programmen, die mittels Spracherkennung sämtliche relevante Daten schon während des Gesprächs von Ärzt:innen und Patient:innen direkt erfassen und damit selbständig alle notwendigen Informationen digital erstellen (siehe dazu: https://www.ingo-news.at/forschung/ki-in-der-medizin.html). Vereinfacht ausgedrückt: Künstliche Intelligenzen (KI) hören und schreiben mit.
Das Beste aus allen Welten
Die Key-Player im IT- und Technologiesektor haben das Potenzial ebendieser Lösung bereits erkannt. Im April 2023 kündigten beispielsweise die beiden US-Unternehmen Amazon und 3M ihre Kooperation an, um sich gemeinsam dieses Themas anzunehmen.
3M (Minnesota Mining and Manufacturing Company) war bereits in der Vergangenheit auf dem Gebiet der sprachgesteuerten klinischen Dokumentation aktiv. Diese will das auf Analysen im Gesundheitswesen spezialisierte Subunternehmen 3M Health Information Systems (HIS) laut eigenen Angaben mit seinen, auf Künstlicher Intelligenz basierenden, Softwarelösungen zu einem „Nebenaspekt des Patientenbesuchs“ machen.
Amazon Web Services (AWS) wiederum soll seine Erfahrung mit den Plattformen Amazon Bedrock, Amazon Transcribe Medical und Amazon Comprehend Medical in die Zusammenarbeit einbringen:
Comprehend Medical extrahiert als Sprachverarbeitungs-Service (Natural Language Processing, NLP) medizinische Information aus Texten wie Diagnosen.
Transcribe Medical kann zudem als automatischer Spracherkennungsservice (Automatic Speech Recognition, ASR) Fach-Termini wie Medikamentennamen oder Krankheiten transkribieren.
Bedrock schließlich ist sozusagen Amazons Antwort auf den Open-Source-Chatbot ChatGPT: Ein Cloud-Dienst, der Zugriff auf eine ganze Reihe von – in Haus und von externen Anbietern kreierte – KI ermöglicht. Da Amazon aufgrund der globalen Reichweite seiner Produkte mit seinen Plattformen auf gewaltige Datenmengen zugreifen kann, ergibt sich dadurch ein enormes Lernpotenzial für seine KI.
Das kombinierte Know-How der beiden Unternehmen soll nun in einer Plattform resultieren, „die klinische Dokumentations- und virtuelle Assistenzlösungen übernimmt, sich direkt in Arbeitsabläufe integriert und gleichzeitig sicherstellt, dass Ärztinnen und Ärzte die Kontrolle über jene Informationen, die in der Patienten-Akte dokumentiert werden, behalten." Die Kombination der aktuellen Dienste könnte den heutigen Dokumentationsprozess revolutionieren, heißt es seitens der beiden Unternehmen in einer gemeinsamen Presseaussendung.
"Ärzte müssen die Kontrolle über Informationen in der Patienten-Akte behalten", erklären die beiden Tech-Unternehmen 3M HIS und AWS.
Fehler vs. bessere Diagnostik
Auch andere Unternehmen sind bei Sprachsteuerung im Medizinbereich nicht untätig. Bereits einen Montag vor Bekanntgabe der Kooperation von 3M und AWS präsentierte Microsoft seine Pläne für eine automatisierte klinische Dokumentation. Gemeinsam mit Partner OpenAI, bekannt als ChatGPT-Entwickler, arbeitet man an einem Tool namens Dragon Ambient eXperience (kurz: DAX) Express, das die cloudbasierte Spracherkennung Dragon Medical One verwendet. Dieses ist laut Hersteller Nuance Communications bereits bei mehr als 550.000 Ärzt:innen im Einsatz.
DAX Express soll nun künftig deren Gespräche mit Patient:innen mithören und sie in medizinische Befunde umwandeln. Microsoft betont dabei die Bedeutung des Überprüfungsprozess durch den Menschen: Das behandelnde Fachpersonal fungiert zwingend als Kontrollinstanz und muss sicherzustellen, dass alle Daten korrekt dokumentiert sind, bevor diese gespeichert werden.
Die mögliche Fehlerquote ist es nämlich, die oftmals für Skepsis vor KI-basierter Assistenz sorgt. Neben den medizinischen Folgen einer falschen Dokumentation stellt sich beispielsweise auch die Frage der Haftung: Wer ist bei unzureichender Datenlage, bei fehlerhaften Befunden, bei daraus resultierender falscher Behandlung juristisch verantwortlich?
In der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz liegen nicht nur Chancen, sondern auch Risiken, bestätigte im Herbst 2022 auch Prof. Dr. Daniel Rückert, Lehrstuhlinhaber für KI in der Medizin an der Technischen Universität München und Professor für Visual Information Processing am Imperial College London. KI werde Fehler machen, so der Experte, weshalb man charakterisieren müsse, unter welchen Umständen diese Fehler passieren. Nur so sei eine Risikoabschätzung möglich. Rückerts Fazit: „Wir erhalten eine bessere Diagnostik, wenn Mensch und Maschine zusammenarbeiten“.
Werden also die entsprechenden Technologien mit der entsprechenden Sorgfalt entwickelt, steht uns vielleicht wirklich schon bald die angekündigte Revolution in der medizinischen Arbeit ins Haus.
Text: Michi Reichelt; Foto: Dokumentation (© National Cancer Institute, Unsplash)