„Games sind Empathie-Maschinen“
Computerspiele helfen bei der Lösung komplexer wissenschaftlicher Aufgaben und schulen differenziertes Denken. Die mehrfach preisgekrönte Forscherin Johanna Pirker erklärt im Interview mit INGO, welches Potenzial Gaming und Virtual Reality für die Entwicklung der Gesellschaft haben.
Das Forbes Magazin listete sie als eine der 30 interessantesten Persönlichkeiten Europas unter 30 Jahren. Neben zahlreichen anderen Awards wurde sie jetzt mit dem Hedy Lamarr Preis ausgezeichnet, der für innovative Leistungen im Bereich der Informationstechnologie vergeben wird. Vermutlich werden noch viele weitere folgen, denn Johanna Pirker hat noch viel vor.
Die mittlerweile 33-jährige Informatikerin forscht im Bereich Gaming, Virtual Reality und Data Science an der TU Graz. Ein großes Anliegen von Pirker ist es, das Computerspiel als anerkanntes Medium in der Gesellschaft zu etablieren. Denn das Potenzial, das interaktive, virtuelle Umgebungen für die Entwicklung unserer Gesellschaft haben, ist enorm – ob im pädagogischen oder im Healthcare-Bereich. Im Interview mit INGO nennt die junge Forscherin ein paar Beispiele, die das belegen.
Sie haben das virtuelle Physiklabor Maroon entwickelt, in dem User physikalische Experimente durchführen können. Was kann dieses Labor, das ein reales nicht kann?
Johanna Pirker: In diesem Physiklabor kann man Experimente durchführen, die sonst nicht sichtbar oder gar nicht möglich wären. Manche Experimente wären in der Wirklichkeit zu teuer oder zu gefährlich. Außerdem kann man die Versuche beliebig oft wiederholen, und das in einem sicheren Setting. Die Vorteile von virtuellem Lernen sehen wir gerade jetzt in der Krise. Abgesehen davon hat nicht jedes Land und jede Schule Zugang zu solchen Labors. Damit könnte man für alle ein niederschwelliges Angebot schaffen.
Hat Virtual Reality das Potenzial, den theoretischen Frontalunterricht an den Schulen qualitativ aufzuwerten?
Wir wissen, dass der Frontalunterricht etwas Wichtiges ist, aber er sollte durch Hands-on-Erfahrungen ergänzt werden. Im Physikunterricht etwa wird zuerst das theoretische Konzept erstellt, dann folgt das Experiment. Genauso kann es im Geschichteunterricht funktionieren. Da könnten im virtuellen Raum die Maya-Stätten besucht werden – oder der Mond.
Sie nennen „Immersion" als wichtiges Argument für das virtuelle Lernen. Was verstehen Sie darunter?´
Wir sind im Alltag ständig abgelenkt, sei es durch Facebook oder TikTok, dauernd poppt irgendeine Nachricht auf. In der virtuellen Realität dagegen ist das alles ausgeblendet, es findet eine Immersion statt, also ein Eintauchen in eine Erfahrungswelt. Die Ironie dabei ist, dass uns ausgerechnet so ein extremes virtuelles Medium totale Fokussiertheit ermöglicht.
"Die Ironie dabei ist, dass uns ausgerechnet so ein extremes virtuelles Medium totale Fokussiertheit ermöglicht."
Die Coronakrise hat gezeigt, dass sich ein recht großer Teil der jungen Bevölkerung nicht durch klassische Informationskampagnen erreichen lässt. Hätten Games hier eine bessere Chance, Aufklärung zu bieten?
Auf jeden Fall. Wir müssen immer überlegen, mit welchen Medien wir die Menschen am besten ansprechen können. Es gibt beispielsweise News Games oder Political Games, durch die man Jugendliche anders erreichen könnte. Das Thema Corona ist sehr komplex, und das Problem ist, dass oft sehr schwarz-weiß kommuniziert wird. Durch Videospiele kann man die Dinge differenzierter zeigen.
Inwiefern?
Bei einem Buch oder einem Film ist bereits alles vorgegeben, da bleibe ich mehr in der passiven Rolle. Im Spiel hingegen muss ich selbst Entscheidungen treffen, und ich sehe, welche Auswirkungen sie haben. Dieses Interagieren bringt mich zum Denken. Es macht die Vor- und Nachteile eines komplexen Zusammenhangs erlebbar. Dazu braucht es Games, die zielgruppengerecht sind – in ihrer Sprache und im Design.
Was kann man diesbezüglich falsch machen?
Education Games hatten oft das Problem, dass sie keinen Spaß gemacht haben, was an der Zielgruppe vorbeigeht. Ein Physiker würde ein Spiel inhaltlich zwar sehr lehrreich gestalten, aber es würde wenig Spaß machen, weil das Game-Design fehlt. Umgekehrt fehlt einem Game-Designer die fachliche Kompetenz. Hier braucht es eine interdisziplinäre Zusammenarbeit.
Gibt es ein Beispiel für ein Education Game, das gut funktioniert?
Eine Amerikanerin hat ein Spiel für jugendliche Krebspatienten entwickelt. Hier gab es das Problem, dass viele dieser Altersgruppe gestorben sind, weil sie keine Therapie gemacht haben. Sie haben den Vorteil davon nicht gesehen. Das Spiel klärt auf, warum es bei einer Chemo- oder Strahlentherapie kurzzeitig schlechter wird, und warum es wichtig ist, dass man dran bleibt.
Abgesehen von der Aufklärung, gibt es noch andere Bereiche, in denen Games künftig die Medizin beeinflussen werden?
Es gibt schon einige Beispiele für Games, die zu Therapiezwecken eingesetzt werden. In der Physiotherapie können Patienten mobilisiert und angeleitet werden, Bewegungen richtig auszuführen. Auch im medizinischen Training kommen virtuelle Umgebungen zum Einsatz. Dabei können Operationen wieder und wieder geübt werden. In der Forschung gibt es sogenannte Citizen Science Games, bei denen Spieler helfen, komplexe Aufgaben zu lösen.
Gibt es dafür ein Beispiel?
Das Spiel Foldit wurde von Wissenschaftlern entwickelt und sollte dabei helfen, Proteine möglichst gut zu falten. Die Aufgabe ist so komplex, dass die Möglichkeiten mit Künstlicher Intelligenz hier beschränkt sind. Wenn aber 100.000 Menschen mithelfen, kann sehr viel erreicht werden. Tatsächlich konnte man durch dieses Spiel die Struktur jenes Proteins entschlüsseln, das bei Rhesusaffen AIDS auslöst.
2016 brachten die Eltern eines krebskranken Kindes „That Dragon, Cancer“ heraus. Was bringen autobiografische Spiele wie diese?
Wir sind alle in unserer Welt eingeschränkt, daher ist es wichtig, die Welt mit anderen Augen betrachten zu können. Auch in Büchern oder Filmen bekommt man die Welt anderer zu sehen, aber kein anderes Medium ist so mächtig wie ein Game. Hier kann man direkt dabei sein und das Elternpaar begleiten. Durch die Interaktionen berührt es einen noch tiefer, man ist mitten drin. Solche Erfahrungen sind so wichtig, sie schulen die Empathie. Games sind Empathie-Maschinen. Durch sie können wir viele Dinge besser vermitteln.
Warum ist das Gaming in der öffentlichen Wahrnehmung so negativ besetzt?
Es ist mir ein großes Anliegen, dass Games eine öffentliche Aufwertung erfahren. In der Geschichte hatte jedes Medium eine Zeit der Verteufelung. Sogar Bücher wurden anfangs verteufelt, weil sie angeblich lesesüchtig machen. Der Mensch wiederholt sich in seinen Vorurteilen, er tappt immer wieder in die gleiche Falle. Wir könnten schon viel mehr mit Videospielen machen, wenn die Gesellschaft aufgeschlossener wäre.
"In der Geschichte hatte jedes Medium eine Zeit der Verteufelung."
2020 hat die FDA die erste Video-Game-Therapie namens EndeavorRx für Kinder mit ADHD zugelassen. Welche Krankheiten könnten in Zukunft noch durch Games und VR behandelt werden?
Es gibt viele Krankheiten, die das Potenzial dazu haben. Games können etwa zum Gedächtnistraining, in der Alzheimer-Therapie und bei Kindern mit Leseschwäche eingesetzt werden. Soziale Spiele sind sehr gut für die mentale Gesundheit. Es gibt verschiedene Arten von Meditations-Apps, die etwa bei posttraumatischen Belastungsstörungen eingesetzt werden. Virtual Reality wird schon jetzt in der Schmerztherapie eingesetzt oder bei Angststörungen. Die Patientinnen und Patienten sind während der Behandlung in einer anderen Welt und können alles um sie herum vergessen.
Der amerikanische Psychologe Stanley Hall sagte 1904: „Menschen werden alt, weil sie aufhören zu spielen, und nicht umgekehrt.“ Kann das Gaming auch ein probates Mittel gegen das Altern sein?
Das Spielen ist auf jeden Fall ein gutes Mittel gegen das Altern. Man weiß, dass soziale Interaktionen im Alter enorm wichtig sind. Es gibt viele Spiele, die einen besonderen Fokus darauf legen. Außerdem gibt es Games, die Konzentration und Ausdauer fördern. Dadurch hört man nicht auf zu lernen.
VR, KI und Gaming in der Medizin – sind das alles ferne Zukunftsprognosen oder wird die Implementierung hier sehr schnell voranschreiten?
Ich hoffe, dass es schnell entwickelt wird. Gerade in Österreich überwiegen Angst und Misstrauen, wenn es um neue Technologien geht. Im asiatischen Raum dagegen ist der Roboter Companion bereits weit verbreitet und akzeptiert. Für mich ist es oft absurd, dass ich, bevor ich über meine Forschung reden kann, erst erklären muss, was Spiele überhaupt sind.
Was sagen Sie Eltern, die sich um die digitalen Spielgewohnheiten ihrer Kinder sorgen?
Ich hatte als Kind sehr früh Zugang zu Videospielen und bin dadurch zur Informatik gekommen. Wenn ich sehe, dass viele Eltern mit Verboten reagieren, finde ich das den falschen Zugang. Im Grunde ist Minecraft das Lego des digitalen Zeitalters. Anstatt es zu verbieten sollte man sich mal eine Stunde selbst damit beschäftigen.
Sie wurden von Forbes zu den „30 under 30"-Wissenschaftler*innen gewählt und haben bereits unzählige Awards gewonnen. Welche Ziele haben Sie für die Zukunft?
Die Spieleforschung, die wir hier an der TU Graz betreiben, ist mir extrem wichtig. Mein Ziel ist es, dass das Gaming als gleichberechtigtes Medium in der Gesellschaft und bei den Menschen ankommt.
Interview: Gertraud Gerst; Fotos: Matthias Rauch, Foto Furgler
Johanna Pirker, Ass. Prof. Dr. tech. Dipl.Ing. BSc
Forscherin und Autorin
Johanna Pirker unterrichtet und forscht an der Technischen Universität Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Computerspiele, Virtual Reality und Data Science. Sie ist Initiatorin und Direktorin der Game Dev Days Graz, Österreichs größter Konferenz für Spieleentwickler. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen und war Gast-Vortragende an renommierten Universitäten wie Harvard und die Humboldt-Universität in Berlin.