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Gesundheit
Österreich
29.08.2023

„Von KI, die selbst operiert, sind wir noch weit entfernt!“

Künstliche Intelligenz hat großes Potenzial für die operativen medizinischen Fächer, sagt Primar Reinhold Ortmaier. Der Linzer Orthopäde betont aber auch, dass den Operateur*innen immer ein Ermessensspielraum bleiben muss: „Wenn wir zum Spielball dieser Technologie werden, wird´s gefährlich.“

Gehört der Einsatz von Künstlicher Intelligenz bereits zu Ihrem beruflichen Alltag?

Reinhold Ortmaier: KI wird aktuell erst in der Bildgebung verwendet. So werden etwa Gelenksröntgenbilder automatisiert ausgewertet, um zum Beispiel bestimmte Winkel zu messen oder Arthrosegrade zu bestimmen. Das funktioniert schon gut, die Ergebnisse sind valide. Die Entwicklung ist noch am Beginn, aber die Dinge sind im Fluss, die Algorithmen werden immer besser. KI spielt zunehmend eine Rolle in der Zusammenführung von komplexen Sachverhalten, um Symptome zu interpretieren und daraus eine Arbeitsdiagnose zu erstellen. Ihre große Stärke ist es ja, große Datenmengen zu kanalisieren und zu analysieren.

Wie weit ist KI schon in der Therapie angekommen?

Wir arbeiten heute mit Robotik und Augmented-Reality-Brillen, aber für sich genommen sind das bloß digitale Implantationshilfen – das ist noch keine KI. Wenn ich der Robotik eine bestimmte OP-Planung, zum Beispiel Winkelangaben zum Einsetzen einer Prothese, einspeise, setzt sie diese Angaben präzise um, wie ein Industrieroboter. In eine AR-Brille lässt sich ein Navigationstool integrieren, wo man intraoperativ die projizierte Planung am Patienten sieht und die Schnitte entsprechend setzen kann. Wir können mit diesen Hilfen also eine standardisierte Planung gut realisieren. Koppeln wir sie aber mit KI-Algorithmen, so wird uns dies ermöglichen, die individuell aussichtsreichste Planung zu gestalten. Darin steckt viel Potenzial.

Was heißt das konkret?

Wir haben bereits eine Vielzahl von präoperativen und zunehmend auch postoperativen Daten, also zu Planung und Ausführung eines Eingriffs. Was noch weitgehend fehlt, sind die PROMs (Patient-reported outcome measures), die uns zeigen, wie es den Patient*innen später dann klinisch geht. Wenn wir dies erfassen, zum Beispiel mit Sensoren und Befragungen über eine App, und all diese Daten dann verschränken, kann die KI auf dieser breiten Grundlage einen individuellen Planungsvorschlag machen, unter welchen Voraussetzungen für den einzelnen Patienten, die einzelne Patientin mit höchster Wahrscheinlichkeit das jeweils bestmögliche Ergebnis zu erwarten ist. 

"Wir müssen uns einen Ermessensspielraum bewahren und jederzeit vom Vorschlag abweichen können."

Dann trifft die Therapieentscheidung also bald die KI?

Da kommen ethische und rechtliche Dimensionen ins Spiel: Muss ich mich als Chirurg auf die Analyse und das Urteil der KI verlassen? Was ist, wenn ich mich nicht daran halte und den Patient*innen damit womöglich etwas vorenthalte? Und was bedeutet es, wenn ich mich daran halte und der Vorschlag falsch ist – wer hat dann schuld, die KI oder ich? Wir müssen uns einen Ermessensspielraum bewahren und jederzeit vom Vorschlag abweichen können. Es muss schon – so wie auch jetzt bei Robotersystemen – gewährleistet sein, dass ich die Maschine overrulen kann, zumindest unter heutigen Voraussetzungen. Der Chirurg, die Chirurgin muss Chef bleiben. Wenn wir zum Spielball dieser Technologie werden, wird´s gefährlich.

Also kein OP-Roboter, der mit KI autonom entscheidet und selbständig operiert?

Diese Entwicklung sehe ich auf keinen Fall, nicht in der Orthopädie und auch nicht in der Allgemeinchirurgie. Ich sehe das System als Unterstützung, und das wird auf absehbare Zeit so bleiben. Von einem Roboter, der autonom entscheidet und ausführt, sind wir noch weit entfernt. Das wird auch in den nächsten Jahren nicht kommen, dafür ist die Materie zu komplex.

"Die wissenschaftliche Literatur verdoppelt sich alle paar Wochen, der Informationsgewinn wächst exponentiell."

Was halten Sie für die größten Stärken, die der medizinische Einsatz von KI in Zukunft bringen könnte?

Besonders stark ist KI dort, wo viele Daten zusammenkommen und es um Analyse geht. Und sie kann helfen, Wissen zu kanalisieren. Die wissenschaftliche Literatur verdoppelt sich alle paar Wochen, der Informationszugewinn wächst exponentiell. Aus dieser Fülle an Information kann man sich als Einzelperson in Wahrheit keinen Succus mehr bilden. KI-Mechanismen können diese riesigen Datenmengen zusammenfassen und eine Conclusio daraus ziehen.

Und die größten Probleme?

Ganz allgemein: Die KI ist nur so gut wie die Daten, die sie verwendet. Der Zugriff auf Quellen erfolgt derzeit aber völlig unreglementiert. Es wird eine große Herausforderung für Institutionen und Unternehmen, letztlich für die EU insgesamt, die KI so zu reglementieren und einzustellen, dass sie nur auf „gute“, suffiziente Quellen zugreift.

Interview: Josef Haslinger; Foto: Ordensklinikum BHS Linz, www.depositphotos.com

Reinhold Ortmaier, Prim. Priv.-Doz. DDr.

Leiter der orthopädische Abteilung des Ordensklinikums Barmherzige Schwestern Linz

Ortmaier (37) hat Facharztausbildungen in Unfallchirurgie und Orthopädie absolviert und seine Habilitation an der Paracelsus Medizinischen Universität Salzburg zum Thema Schulterprothetik verfasst. Mehrere seiner bisher rund 70 wissenschaftlichen Publikationen wurden mit Preisen ausgezeichnet. Der gebürtige Salzburger leitet seit Juli 2023 die orthopädische Abteilung des Ordensklinikums Barmherzige Schwestern Linz, wo er seit sieben Jahren tätig ist. Seine klinischen Schwerpunkte bilden die gesamte arthroskopische und offene Schulterchirurgie sowie die Endoprothetik von Hüfte und Knie. 

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