Herzrisiken früher erkennen
Eine Zufallsdiagnose veranlasste ein hochkarätiges Expertenteam, an einem innovativen und selbstlernenden Online-Prognosemodell für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu forschen. Künstliche Intelligenz soll dabei den Durchbruch bringen.
Obwohl er keinerlei Symptome verspürte, wurde bei dem Steyrer FH-Professor Harald Kindermann vor einigen Jahren eine arterielle Verschlusskrankheit festgestellt. Eine reine Zufallsdiagnose. Doch für den Behandlungserfolg bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen kann Früherkennung entscheidend sein. Darum hat Kindermann ein hochkarätiges Forschungsteam um sich versammelt, das nun das Potenzial künstlicher Intelligenz (KI) für ein innovatives digitales Prognosemodell nutzen will. Gemeinsam mit Wissenschaftler*innen der Johannes-Kepler-Universität Linz, der Universität Wien, der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg und Prüfarzt Prim. Priv.-Doz. Dr. Martin Martinek von der kardiologischen Abteilung des Ordensklinikums Linz Elisabethinen hat er beim Forschungsförderungsfonds FWF eine entsprechende Studie eingereicht. INGO sprach mit Primarius Martinek darüber.
Herr Primarius Martinek, warum ist Früherkennung bei koronaren Herzkrankheiten wichtig?
Martin Martinek: Kardiovaskuläre Erkrankungen sind sehr weit verbreitet, in Österreich zählen sogar fast alle Männer über 65 zur Hochrisikogruppe. Was allerdings nicht heißt, dass man in jüngeren Jahren oder als Frau davor gefeit ist. Es handelt sich um meist chronische Krankheiten, denen eine ablagerungsbedingte Gefäßverengung zugrundeliegt. Das Herz oder auch das Gehirn bekommen zu wenig Sauerstoff. Die Betroffenen leiden dann beispielsweise an Durchblutungsstörungen in den Beinen oder einer Halsschlagaderstenose. Im schlimmsten Fall kommt es zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall. Für das rechtzeitige Ergreifen von Gegenstrategien ist Früherkennung enorm wichtig. Wir möchten ja, dass es gar nicht erst so weit kommt. Wenn wir Risikopersonen sehr früh herausfiltern können, können wir sie präventiv behandeln. Es geht darum, den Krankheitsprozess möglichst klein zu halten oder zumindest weit hinauszuzögern. Doch leider werden solche Krankheiten oft lange nicht erkannt, da sie vor allem in Frühstadien asymptomatisch verlaufen können.
Was kann man präventiv tun?
Rauchen, Bluthochdruck, Diabetes und hohe Cholesterinwerte sind erwiesenermaßen Risikofaktoren. Daher geht es hier sehr stark um Lebensstilmodifikation, also zum Beispiel Tabakentwöhnung, Gewichtsreduktion, eine gesunde Ernährung und regelmäßige Bewegung. Außerdem müssen Blutdruck, Blutzucker und Blutfette erfasst und gegebenenfalls medikamentös eingestellt werden. Ein hoher Wert an LDL-Cholesterin etwa ist sehr gefährlich für das Herz-Kreislauf-System. Auch Bluthochdruck muss man unbedingt entgegenwirken. Nicht zuletzt kann man anhand der Blutwerte auch schon einen Prädiabetes, also ein Vorstadium der Zuckerkrankheit, feststellen und therapieren.
Prognosemodelle für Herz-Kreislauf-Erkrankungen helfen, die betreffenden Patient*innen früher zu erkennen. Welche sind zurzeit in Österreich im Einsatz, welche Parameter erfassen sie und in welcher Hinsicht gibt es dabei noch Luft nach oben?
Gebräuchlich ist ein Scoring-Modell der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft (ESC), das auf der Erfassung des Alters, des Geschlechts, des Blutdrucks, des Raucherstatus und der Cholesterinwerte basiert und die Untersuchten einer Risikostufe zuordnet. Je nach Risikostufe liefert es Maßnahmenempfehlungen. Viel Luft nach oben gibt es hier in puncto Sensitivität.
Inwiefern?
Gerade bei jüngeren Menschen ist die Aussagekraft dieses oder vergleichbarer Tools eher schwach. Sie zeigen zu häufig ein zu niedriges Risiko an. Hier wäre es sinnvoll, mehr prognostische Faktoren einzubeziehen, wie zum Beispiel die Stressanfälligkeit. Außerdem sollte man mit Screenings generell bei einer jüngeren Altersgruppe ansetzen, also bereits ab 40 oder 45. Denn hier ist die Gefahr von unerkannten Herz-Kreislauf-Krankheiten wesentlich größer als bei Älteren, bei denen die Ärzt*innen ohnehin eine höhere Awareness haben.
Sie sind als Prüfarzt an einem gerade beim FWF eingereichten multidisziplinären Forschungsprojekt beteiligt, das zum Ziel hat, ein innovatives selbstlernendes Online-Prognosemodell für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu entwickeln. Was soll in dieser Studie genau erforscht werden und was soll das geplante Tool besser können als das aktuell verfügbare?
Unser Modell berücksichtig viel mehr Daten als die schon genannten klassischen Parameter. Zum Beispiel integrieren wir Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten, Schlafverhalten, Schlafqualität und sogar Persönlichkeitsmerkmale wie Stressanfälligkeit. Eine Säule wird die Analyse entsprechender Aufzeichnungen einiger Hundert symptomfreier Proband*innen zwischen 45 und 65 Jahren sein. Welche Parameter sind besonders aussagekräftig als Risikoprädiktoren? Wie muss das Tool genau konzipiert werden, damit es möglichst viele Menschen niederschwellig nutzen können? Zusätzlich gilt es, die Interaktion mit den Ärzt*innen optimal zu gestalten. Denn selbstverständlich müssen auch laufend Labor- und Untersuchungswerte in das Modell eingetragen werden, sodass der körperliche Zustand der Personen in Korrelation mit den erhobenen Lebensstilfaktoren beobachtet werden kann. Die Proband*innen werden zu Beginn und am Ende der Studie detailliert untersucht. Ein CT der Herzkranzgefäße wird dabei einer der Hauptparameter sein, um über den Projektzeitraum von drei Jahren mögliche Verkalkungen und Plaquebildungen in den Herzkranzgefäßen zu beobachten und in Beziehung mit den anderen erhobenen Parametern zu setzen. Darüber hinaus legen wir die Laboruntersuchungen sehr breit an, denn es gibt zwar viele Blutwerte, die ein gewisses Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen anzeigen, einzeln aber zu wenig aussagen. Und nicht zuletzt machen wir Stresstests inklusive Kortisolmessungen und untersuchen auch kognitive Zustände wie eventuelle Beeinträchtigungen der Konzentrationsfähigkeit. Bei alldem setzen wir auf KI-Algorithmen, die hier Zusammenhänge aufspüren können. Manche Wechselwirkungen kennen wir ja noch gar nicht, etwa ob nervöse Menschen, die schnell unter Druck geraten, wirklich anfälliger für Herz-Kreislauf-Leiden sind als Phlegmatiker*innen. Im Kontext dieser Erkrankungen hat man noch nie Stress- und Kortisoltests herangezogen. Wir wollen solche Dinge herausfinden.
"KI-Algorithmen können Muster finden, die man mit einer normalen Statistik nicht erkennt."
Sind diese Kl-Algorithmen das Neue und Innovative daran?
Ja absolut. Bislang basieren Herz-Kreislauf-Vorsorgemodelle eben rein auf Parametereingaben, was die Aussagekraft eingrenzt. KI-Algorithmen hingegen können Muster finden, die man mit einer normalen Statistik nicht erkennt.
Wie kann man sich denn die Anwendung dieses Tools in der Praxis vorstellen?
Es soll eine App beziehungsweise ein webbasiertes Tool werden, wo neben den gängigen Parametern letztendlich alles integriert ist, was sich in der Studie als sinnvoll erweist. Neue Erkenntnisse inklusive. Einerseits kann man sich einen detaillierten Fragenkatalog zum Selbstausfüllen für die Patient*innen vorstellen, zu den erwähnten Themen wie Schlaf, Sport, Ernährung, Stress und so weiter. Das ist der subjektive Teil. Und andererseits beinhaltet das Tool die objektivierbaren Parameter, die wir aus Untersuchungen zur Verfügung haben, also beispielsweise EKG, Ultraschall, Blutwerte, CT-Bilder. Unser Ziel ist ein einfach zu bedienendes, selbstlernendes Online-Vorsorgesystem, welches Risiken viel genauer berechnet, als es jetzt möglich ist. Dadurch kämen asymptomatische Betroffene wesentlich früher in fachkundige Betreuung.
Es könnten sich außerdem noch einige Zusatznutzen für die Nutzer*innen ergeben, wie etwa Ernährungsempfehlungen auf Basis des bislang gewohnten Speiseplans. Also statt nur allgemein gehaltene Ernährungstipps zu bekommen, würde man dann erfahren, wo man an seinem bisherigen Verhalten konkret ansetzen kann. Etwa einmal in der Woche dies weglassen, dafür zweimal jenes ergänzen und dergleichen. Solche auf die Person zugeschnittenen Einzelparameter könnte die KI herausfiltern.
"In Österreich ist die Gesundenuntersuchung beispielsweise in der Krebsvorsorge sehr gut aufgestellt, in puncto kardiovaskuläre Krankheiten zeichnet sie aber nur ein grobes Bild."
In die Zukunft gedacht: Wie sollte der Zugang zu dem Vorsorgemodell aussehen, wenn es einmal entwickelt ist. Wie könnten Interessierte dazu kommen?
Das könnte zum Beispiel über Hausärzt*innen, über betriebliche Gesundheitsvorsorgeinitiativen oder bei entsprechender Bekanntheit aus Eigeninitiative geschehen. Eine große Chance sehe ich auch darin, es von vornherein in Gesundenuntersuchungen zu integrieren. Denn wie anfangs geschildert: Es ist ja gerade das Dilemma, dass einzelne Untersuchungen oft zu undifferenziert sind. Bei zu schwachen Ergebnissen wiegen sich die Betroffenen aber in falscher Sicherheit. In Österreich ist die Gesundenuntersuchung beispielsweise in der Krebsvorsorge sehr gut aufgestellt, in puncto kardiovaskuläre Krankheiten zeichnet sie aber nur ein grobes Bild. Man findet natürlich die bereits Erkrankten, aber für Frühstadien fehlen die Prädiktoren, die man erst durch die große Zusammenschau sehr vieler Parameter gewinnt. Wenn wir also unser Vorhaben plangemäß ausführen können, könnte das gerade hierfür ein großer Benefit sein.
Wie kam es zu dieser Initiative?
Der Hauptinitiator ist Dr. Harald Kindermann, ein Professor an der FH Steyr. Bei ihm selbst wurde durch reinen Zufall im Zuge einer anderen Untersuchung eine arterielle Verschlusskrankheit diagnostiziert. Er fiel aus allen Wolken, weil er überhaupt keine Symptome hatte und auch bei Gesundenuntersuchungen nie etwas festgestellt wurde. Die gemessenen Werte waren für sich genommen ja okay. Es brauchte also erst die Zufallsdiagnose, damit er Maßnahmen ergreifen konnte. Als Folge dieser Erfahrung hat er ein hochkarätiges Konsortium mit Forscher*innen der Johannes-Kepler-Universität, der Universität Wien und der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität auf die Beine gestellt, das diese Studie eingereicht hat. Ich freue mich sehr, als Prüfarzt mit im Boot zu sein.
Interview: Uschi Sorz; Fotos: Ordensklinikum Linz Elisabethinen, www.depositphotos.com
Martin Martinek, Prim., Priv.-Doz., MBA, FHRS, FESC
Vorstand der Interne 2 – Kardiologie, Angiologie und Interne Intensivmedizin des Ordensklinikums Linz Elisabethinen
Martinek hat an der Universität Innsbruck Humanmedizin studiert und seine Facharztausbildung für Innere Medizin am Ordensklinikum Linz Elisabethinen absolviert. 2010 schloss er das Zusatzfach Kardiologie ab und wurde Oberarzt in der Abteilung für Innere Medizin II. Anschließend habilitierte er sich an der Universität Innsbruck im Fach Innere Medizin mit Schwerpunkt Kardiologie, absolvierte die Zusatzfächer Angiologie und Intensivmedizin und schloss einen MBA für Health-Care-Management ab. Er absolvierte Spezialausbildungen in den Bereichen Elektrophysiologie, Ablation und Schrittmacher-/ICD-Therapie am Brigham and Women’s Hospital der Harvard-Universität in Boston sowie in Mailand und ein Diplomstudium für kardiales Arrhythmie-Management in Maastricht. Am Ordensklinikum Linz Elisabethinen leitete er das Department für Herzschrittmacher und Defibrillatoren sowie die Rhythmusambulanz. Außerhalb des Ordensklinikums war er an der Universitätsklinik St. Pölten, im LKH Feldkirch und im Krankenhaus Göttlicher Heiland Wien als Elektrophysiologe tätig. Seit 1. Jänner 2022 ist er Vorstand der Interne 2 – Kardiologie, Angiologie und Intensivmedizin.
Harald Kindermann, Ing., Mag., Dr., FH-Prof.
Kindermann ist seit 2005 FH-Professor für Marketing und Konsumentenverhalten an der Fakultät für Management der FH Oberösterreich Campus Steyr.