Das Mikrobiom im Darm
In unserem Darm leben an die 100 Billionen Bakterien. Sie beeinflussen unsere Gesundheit, steuern körperliche Prozesse und wirken sogar auf unsere Psyche. Wie wichtig die Mikroben sind, erschließt sich erst allmählich. Ein Interview mit Gastroenterologe Rainer Schöfl von den Barmherzigen Schwestern des Ordensklinikums Linz.
Kaum ein anderes menschliches Organ ist in den vergangenen Jahren so in den Fokus gerückt wie der Darm und sein Mikrokosmos. Warum?
Rainer Schöfl: Der Darm und die darin lebenden Bakterien waren lange Zeit ein Tabuthema. Man hat über Ausscheidungen des Körpers einfach nicht gesprochen. Dabei ist er immens wichtig. In unserem Darm befinden sich natürlich so interessante Aspekte wie das Mikrobiom, aber auch das Immunsystem, die hormongesteuerte Appetitregulation sowie die damit verbundene Insulin- und Körpergewichts-Regulation. Dass der Darm in der Öffentlichkeit verstärkt thematisiert wird, hat nicht zuletzt auch mit dem Sachbuch-Bestseller „Darm mit Charme“ der Medizinstudentin Giulia Enders zu tun.
Nun ist das Mikrobiom im Darm ein störanfälliges Gebilde. Welche Rolle spielen Antibiotika in diesem Zusammenhang?
Antibiotika im Säuglings- und Kleinkindalter behindern den Aufbau eines gesunden Mikrobioms. Möglicherweise führt dies zu späteren Erkrankungen, wie die Stoffwechselstörungen Diabetes oder Adipositas. Antibiotika im Erwachsenenalter können dagegen einerseits hilfreich für das Mikrobiom sein, wenn die Bakterien überhand nehmen - wie bei einer bakteriellen Überwucherung des Dünndarms. Sie können aber andererseits auch schaden, indem sie die guten Bakterien reduzieren, sodass krankmachende Keime überwuchern können, wie es bei antibiotikaassoziierter Diarrhoe oder einer Clostridien-Colitis der Fall ist.
„Vielleicht wird es in der Zukunft möglich sein, dass Mikrobiom zu verändern.“
Eine geschädigte Darmschleimhaut gilt als mitverantwortlich für Allergien und Autoimmun-Erkrankungen. Können wir das Mikrobiom so verändern, dass solche Probleme verschwinden?
Das können wir noch nicht. Vielleicht wird es ja in Zukunft möglich sein. Erste Ansätze mit Gabe eines Probiotikums in der Endphase der Schwangerschaft und Stillzeit an die Mutter und ab Geburt an das Kind bis ins Vorschulalter zeigten zumindest günstige Effekte bezüglich Allergien.
Können Sie uns mehr über den aktuellen Stand mikrobieller Therapien bei chronisch-entzündliche Darmerkrankungen verraten?
Bei Morbus Crohn sind Versuche mit Probiotika bislang unwirksam. Bei Colitis ulcerosa scheint es einen positiven Effekt in der Verhütung weiterer Schübe und in der Behandlung postoperativer Enddarmentzündungen (Pouchitis) zu geben.
Es gibt mittlerweile ja auch die Therapiemethode der Fäkaltransplantation. Was ist das und wann wird sie angewendet?
Eine Fäkaltransplantation ist die Übertragung von Stuhl eines gesunden Spenders auf einen kranken Menschen über eine Nasen-Dünndarm-Sonde oder als Einlauf während einer Darmspiegelung. In der Routine ist die Anwendung bislang bei der mehrfach rezidivierenden Clostridiencolitis eine gesicherte Indikation. Bei schwer verlaufender Colitis ulcerosa zeigt sich ein gewisser Effekt. Reizdarm, Fettleberhepatitis und Adipositas sind unter anderem klinische Forschungsgebiete mit Potential.
Wenn man Ihnen die Mikrobiomdaten eines beliebigen Menschen vorlegt – was können Sie daran erkennen?
Nichts. Gängige Mikrobiomanalysen werden von der gastroenterologischen Gesellschaft nicht empfohlen. Davon ausgenommen ist natürlich der Nachweis krankmachender Keime wie Salmonellen, Campylobacter oder Clostridien-Gifte.
„Das Mikrobiom ist durch Lebensstil-Faktoren wie Rauchen, Alkohol und natürlich durch die Ernährung klar beeinflussbar.“
Kann man sein Mikrobiom beeinflussen?
Die Genetik ist nicht beeinflussbar, klar beeinflussbar hingegen sind Lebensstil-Faktoren wie Rauchen, Alkohol und natürlich die Ernährung. Bei einer Studie verglichen Forscher die Darmflora von 14 Kindern aus Burkina Faso mit der Darmflora von 15 Kindern aus Florenz. Die Ergebnisse ließen die Wissenschaftler eine Anpassung des Mikrobioms an die Umwelt, das heißt vor allem an die Ernährungsweise vermuten. Würde man Kinder aus Florenz in Burkina Faso ansiedeln und umgekehrt, so hätten sich die Mikrobiome nach einigen Jahren deutlich an die jeweilige Umgebung angepasst.
Mittlerweile existiert ein Markt für Probiotika, sogenannte „gute Bakterien“, die sich wohltuend auf den Darm auswirken sollen. Was halten Sie davon?
Das muss man differenziert sehen. Ein probiotisches Bakterium ist definiert als ein Bakterium, das die Magen-Darm-Passage bis ins Colon unbeschadet übersteht und vielleicht günstige Effekte ausübt, ganz selten auch gefährliche Effekte. Allerdings wirkt nicht jedes probiotische Bakterium oder Bakteriengemisch bei allen Indikationen in Prophylaxe oder Therapie. Man muss also für eine Krankheit und die Situation eine Recherche aller Studien mit ausreichenden Fallzahlen und Vergleichsgruppe ausführen und diese im Gesamten betrachten. Diese Recherche wird heute durch sogenannte Meta-Analysen erleichtert. Damit kann ich zwar für die gängigen Probiotika die Studienlage ablesen, dennoch ist Vorsicht geboten. Denn was in der Prophylaxe wirkt, muss nicht in der Therapie wirken.
Es gibt auch Hinweise darauf, dass Darmbakterien das Gehirn beeinflussen. Wie kann das sein?
Offensichtlich bilden die in der Schleimschicht des Darmes wandnahe sitzenden Darmbakterien Botenstoffe, die an den Nervenendigungen Reize auslösen, die unter anderem über den Nervus vagus oder über Gewebshormone ans Gehirn weitergeleitet werden. In Tierversuchen hat man das Verhalten von ängstlichen Mäusen durch Probiotika verändert und diesen Effekt durch das Durchtrennen des Nervus vagus wieder unwirksam gemacht. Natürlich sind die Ergebnisse aus den Versuchen nicht eins zu eins auf den Menschen übertragbar, aber sie zeigen eine biologische Möglichkeit.
Was sind die aktuellen Herausforderungen in der Mikrobiomforschung?
Das ist natürlich subjektiv und hängt meist vom Interessengebiet des Befragten ab. Ich finde die Verbindung von Mikrobiom und neurologischen und psychologischen Phänomenen und Krankheitsbildern am faszinierendsten. Noch gar nicht zur Behandlung, sondern um die Entstehung und den Verlauf dieser Krankheiten zuerst einmal besser zu verstehen.
Was können wir von der Mikrobiomforschung in den nächsten zehn Jahren erwarten?
Die Aufdeckung von physiologischen und pathophysiologischen Mikrobiom-vermittelten Phänomenen im menschlichen Körper. Außerdem die Zusammenhänge von gesundem und krankem Mikrobiom mit der Umwelt, also Ernährung, Düngemittel, Insektizide, Haustiere, Pflanzen oder Plastik. Die Hoffnungsfelder der Mikrobiomforschung sind Krankheiten wie Fettleber, Adipositas, Diabetes, Atherosklerose, Psyche, Morbus Parkinson, Multiple Sklerose, Demenz, Autismus sowie die Entstehung des colorektalen Karzinoms. Und schließlich mehr gute randomisierte Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit von Probiotika bei immer mehr Indikationen.
Interview: Rosi Dorudi
Rainer Schöfl, Dr.
Leiter der 4. Internen Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin und Stoffwechsel des Ordensklinikums Linz
Schöfl studierte Medizin in Wien und habilitierte sich 1998. Zwischen 1991 und 2001 war der Internist als Oberarzt an der klinischen Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie der Universitätsklinik für Innere Medizin IV in Wien tätig. Er engagiert sich außerdem in der österreichischen Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie und leitete unter anderem die Arbeitsgruppe Endoskopie (1998–2002). 1999 wurde er in das Editorial Board der Zeitschrift „Endoscopy“ berufen. Seit 2001 ist er Leiter der 4. Internen Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin und Stoffwechsel des Ordensklinikums Linz.