Hoffnung auf neue Therapien bei seltenen Erkrankungen
Seltene Erkrankungen stellen Betroffene vor unzählige Herausforderungen: Es gibt kaum Therapien oder Medikamente und der Weg zur Diagnose ist für die meisten eine Odyssee. Im Interview mit INGO erzählt Martin Fellner, Business Unit Director Rare Disease bei Novo Nordisk Österreich, warum das Unternehmen seine klinische Forschung im Bereich der seltenen Erkrankungen deshalb stark ausgebaut.
Herr Fellner, wann ist eine Krankheit selten?
Martin Fellner: Damit in der EU ein Krankheitsbild als „Seltene Erkrankung“ anerkannt wird, dürfen nicht mehr als fünf Menschen unter zehntausend Einwohnerinnen und Einwohner diese Erkrankung aufweisen. In Europa sind das bis zu 8.000 unterschiedliche Krankheiten, auf die das zutrifft. Wenn man das auf Österreich überträgt, dann ist von rund einer halben Million Menschen mit einer seltenen Erkrankung auszugehen. Exakte Zahlen haben wir hier nicht, da nicht jede betroffene Person diagnostiziert ist.
Was sind die Herausforderungen bei der Diagnose?
Tendenziell erfolgt bei seltenen Erkrankungen die Diagnose spät. Die erste Anlaufstelle für Patient*innen sind Allgemeinmediziner*innen oder Kinderärzt*innen und da ist es beinahe unmöglich, die etwa 8.000 seltenen Erkrankungen auf Anhieb zu diagnostizieren – vor allem, wenn die Ärztin oder der Arzt das Krankheitsbild zum ersten Mal untersucht. Ein Beispiel kann ich aus unserem Therapiegebiet der Wachstumshormone geben. In Österreich werden aktuell rund 1.600 Menschen mit Wachstumshormonen behandelt. Durch die Hochrechnung von Inzidenz-Prävalenz-Daten wissen wir aber, dass in Österreich rund 3.000 Menschen betroffen sein sollten. Wir finden es deshalb wichtig, Aufklärungsarbeit zu leisten, damit die Verdachtsdiagnosen zunehmen und Patient*innen früher behandelt werden können. Eine weitere Herausforderung ist die Transition, also der Übergang der Kinder- zur Erwachsenenmedizin. In Österreich sind etwa 800 Menschen von Hämophilie betroffen, der sogenannten „Bluterkrankheit”. Hier ist ein nahtloser Übergang besonders wichtig, um die teils lebensnotwendige medizinische Versorgung sicherstellen zu können.
"Unser Ziel ist es, eine Tages schwere chronische Krankheiten heilen zu können. Es gibt noch immer viele Patient*innen, die unterversorgt sind und dringend eine Therapie benötigen."
Menschen mit seltenen Erkrankungen galten lange als „Waisen der Medizin“. Wie ist der aktuelle Stand?
Bei seltenen Erkrankungen gibt es noch viel zu tun – so gibt es etwa für 95 Prozent der bekannten, seltenen Erkrankungen noch keine Behandlungsmöglichkeit. Als forschendes Unternehmen wollen wir dazu beitragen, dass sich das in Zukunft ändert. Bei Novo Nordisk wird deshalb die klinische Forschung im Bereich der seltenen Erkrankungen stark ausgebaut: Allein im Jahr 2023 werden wir um 60 Prozent mehr Studien zu seltenen Blut-, Hormon- und Nierenerkrankungen durch- führen.
Was sind Ihre Beweggründe?
Unser Ziel ist es, eines Tages schwere chronische Krankheiten heilen zu können. Es gibt noch immer viele Patient*innen, die unterversorgt sind und dringend eine Therapie benötigen. Aktuell versorgen wir im Bereich der seltenen Erkrankungen etwa zwei Millionen Patient*innen mit Hämophilie und Wachstumsstörungen. In Zukunft möchten wir etwa 17 Millionen Patient*innen mit seltenen und sehr seltenen Blut-, Hormon- und Nierenerkrankungen helfen können. Wir möchten außerdem die Lebensqualität der Patient*innen verbessern und dazu gehört es auch, Darreichungsformen zu optimieren und neue Therapiemöglichkeiten zu entwickeln, etwa im Bereich der Zelltherapie. Darüber hinaus wollen wir den traditionellen Ansatz der reinen Arzneimittelinnovation weiterentwickeln – hin zu integrierten therapeutischen Lösungen.
Wie schwierig ist die Entwicklung dieser sogenannter Orphan Drugs?
Generell ist die Entwicklung eines neuen Medikaments stets ein aufwendiger und langwieriger Prozess, der streng reguliert ist. Es dauert durchschnittlich zwischen 10 bis 15 Jahre, bis eine neue Therapie bei Patient*innen ankommt und kostet durchschnittlich zwei Milliarden Euro. Bei seltenen Erkrankungen ist es zusätzlich herausfordernd, eine ausreichende Anzahl Patient*innen zu finden, um Studien überhaupt durchführen zu können. Weiters benötigt es spezialisierte Studienzentren, zu denen Patient*innen teilweise weite Anreisen auf sich nehmen müssen.
"Bei seltenen Krankheiten gibt es bislang zu wenig Grundlagenforschung, epidemiologisches und krankheitsspezifisches Wissen - das behindert die Entwicklung neuer Therapien für Erkrankungen, die bisher noch unterversorgt sind."
Welche Chancen bringt die Digitalisierung in der Forschung von seltenen Erkrankungen?
Bei seltenen Krankheiten gibt es bislang zu wenig Grundlagenforschung, epidemiologisches und krankheitsspezifisches Wissen – das behindert die Entwicklung neuer Therapien für Erkrankungen, die bisher noch unterversorgt sind. Deshalb ist es enorm wichtig, vorhandene Daten gezielt und effizient nutzen zu können: Daten aus Registern, realen Erfahrungen und andere Real-World-Data stellen eine riesige Chance dar. Wir sehen, dass Zelltherapien für seltene Erkrankungen ein enormes Potential haben – Krankheitsverläufe könnten damit gestoppt oder sogar umgekehrt werden. Dafür ist es aber essentiell, Therapie- und Krankheitsverläufe über viele Jahre hinweg zu beobachten, diese sogenannte Real-World-Evidenz zu sammeln und davon zu lernen. Um die Erforschung seltener Krankheiten entscheidend voranzubringen, müssen wir die digitale Gesundheitsinfrastruktur besser harmonisieren und vernetzen. Novo Nordisk verfolgt nun statt reiner Arzneimittelinnovation den neuen Ansatz integrierter Therapie, bei der die sogenannten 5 D aufeinander abgestimmt sind - Drug, Device, Digital, Diagnostics und Daten. Dieser Ansatz birgt ein tiefgreifendes Potential für Patient*innen und ihre Lebensqualität.
Wie sind die regulatorischen Anforderungen für Orphan Drugs?
Orphan Drugs unterscheiden sich von Arzneimittel für häufig vorkommende Krankheiten in vielerlei Hinsicht – etwa in der Entwicklung und auch in der Sicherstellung der Verfügbarkeit. Im Jahr 2000 wurde von der Europäischen Kommission die „OMP Regulation“ eingeführt, mit dem Ziel, Investitionen in die Entwicklung von Orphan Drugs zu fördern. Mit dieser Gesetzgebung wurden Anreize geschaffen, um Forschung und Innovation für Menschen mit seltenen Krankheiten zu fördern, die stark unterversorgt sind. Zu diesen Anreizen gehört die Gewährung eines Exklusivitätszeitraums für Orphan Drugs, die die Kriterien erfüllen, sowie ein spezielles Zulassungsverfahren und wissenschaftliche und finanzielle Unterstützung für Forschung und Entwicklung. In Europa ist ein Ökosystem für seltene Erkrankungen geschaffen worden, das auch uns darin unterstützt hat, Investitionen in Forschung und klinische Entwicklungsprogramme zu tätigen. Die Europäische Kommission prüft derzeit die Gesetzgebung für Orphans Drugs. In diesem Zusammenhang möchte ich appellieren, Bilanz zu ziehen. Wir müssen auf diesen Errungenschaften aufbauen, wenn die regulatorischen Anforderungen aktualisiert werden.
Gibt es bei Ihnen bereits Fortschritte in der Forschung?
Unsere aktuell laufenden Forschungsprogramme bieten Aussicht auf bessere Therapiemöglichkeiten für Menschen seltener Erkrankungen. Wir haben in neue Technologien investiert, um Innovation noch schneller vorantreiben zu können – etwa Gene Editing, RNAi, Zelltherapien und orale Therapien. Die Pipeline ist vielversprechend und wir haben mehrere Wirkstoffe, die aktuell in Phase-3-Studien, also der letzten Phase der klinischen Forschung, untersucht werden und weitere, die sich bereits im Zulassungsverfahren befinden.
Interview: Rosi Dorudi; Foto: depositphotos.com
Martin Fellner,
Business Unit Director Rare Disease Novo Nordisk Österreich
Fellner verantwortet bei Novo Nordisk Österreich die Abteilung Rare Disease. Der studierte Biotechnologe blickt auf umfassende Erfahrung im Bereich der Arzneimittelentwicklung zurück und hat seine Karriere in der klinischen Forschung begonnen. Als Business Unit Director Rare Disease arbeitet Fellner bei Novo Nordisk Österreich mit seinem Team daran, innovative Therapien für Patient*innen mit seltenen Krankheiten in Österreich zugänglich zu machen.