„Daten sind das Öl der Medizin von morgen“
In der Pharmaforschung braucht es neue Ansätze, um die seit Jahren sinkende Innovationskraft voranzutreiben. Wie? Mit Daten, die im Sinne einer Sharing Economy geteilt werden, sagt Evotec-CEO Werner Lanthaler.
Die Medizin steht an der Schwelle zum digitalen Zeitalter vor neuen Chancen und Herausforderungen. Unser Gesundheitssystem stößt in vielen Bereichen an seine Grenzen und offenbart immer deutlicher seine Schwächen. „Wir sehen heute, dass 90 Prozent aller Medikamente tatsächlich nur bei 50 Prozent aller Patient*innen wirken. Das ist, als würde in der Autoindustrie de facto nur jedes zweite Auto auch wirklich fahren“, erläutert Werner Lanthaler die Problematik. Er ist Vorstandsvorsitzender des pharmazeutischen Forschungsunternehmens Evotec, das mit Biotech- und Pharmafirmen an neuartigen Therapieansätzen arbeitet.
Hohe Ausfallraten in der Entwicklung
Während die Anzahl der klinischen Studien für neue Wirkstoffe in den letzten Jahren gestiegen ist, liegt die Erfolgsquote von Medikamenten, die neu zugelassen werden, seit Jahren auf einem Tiefstand. Laut dem International Journal of Biostatistics schafften es zwischen 2000 und 2015 lediglich 13 bis 14 Prozent aller Medikamente, die an Menschen getestet werden, auch tatsächlich auf den Markt. Im onkologischen Bereich liegt die Erfolgsquote sogar bei lediglich 3,4 Prozent. „So hohe Ausfallraten bedeuten, dass die Studien von Beginn an oft mit falschen Daten die falsche Hypothese vorangetrieben haben“, erklärt Lanthaler.
"Hohe Ausfallsraten bedeuten, dass die Studien von Beginn an oft mit falschen Daten die falsche Hypothese vorangetrieben haben", erklärt Evotec-CEO Werner Lanthaler.
Als Beispiel für eine erfolgreiche und effiziente Medikamentenentwicklung nennt der Digital-Health-Experte die rasche Impfstoffzulassung während der Corona-Pandemie. „Gerade bei Covid haben wir als Industrie gezeigt: Wenn wir viele Barrieren wegnehmen, können wir das auch in eineinhalb bis 3 Jahren schaffen.“ Ein ähnliche schnelle Entwicklung könnte es in Zukunft auch bei Krebsmedikamenten oder neuen Alzheimertherapien geben. „Das geht aber nur dann, wenn wir gemeinsam Daten teilen, und wenn Behörden und Industrie zusammenarbeiten.“
Molekulare Whistleblower
Wie sehr der Erfolg in der Pharmaforschung von mehr Daten abhängt, konnte auch das International Journal of Biostatistics feststellen. In der Entwicklung von Krebsmedikamenten etwa hat sich gezeigt, dass die klinischen Studien insgesamt erfolgreicher waren, wenn die Teilnehmer*innen nach Biomarkern ausgewählt wurden.
Biomarker werden oft als molekulare Whistleblower des Körpers bezeichnet, weil sie bislang verborgen gebliebene Hinweise auf Erkrankungen aufdecken. Mit ihrer Hilfe lassen sich Krankheiten in unterschiedliche Subgruppen einteilen, die sich zielgerichtet therapieren lassen. Biomarker sind also von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, eine Behandlung individuell anzupassen. Eine einzige Standardtherapie für alle Patient*innen gehört damit in Zukunft der Vergangenheit an.
Wissen als Sharing Economy
Große molekulare Datenbanken werden künftig mithilfe von neuen Algorithmen die Vorhersage von Krankheiten ermöglichen. Damit Daten auch sinnvoll und effizient genutzt werden können, braucht es eine entsprechende Vernetzung. Das Wissen müsse im Sinne einer Sharing Economy geteilt werden, so Lanthaler. „Evotec hat dafür eine Plattform gebaut, die nennt sich PanHunter. Damit nicht jedes Unternehmen eine eigene Datenbasis aufbauen und bereits durchgeführte Experimente wiederholen muss, können mithilfe von PanHunter eigene Daten gemeinsam mit anderen Quellen, etwa öffentlich verfügbaren Datensätzen, analysiert werden. Damit verhindern wir, dass jeder die gleiche Lernkurve immer wieder macht, was höchst ineffizient ist.“
Anstatt eines Gesundheitssystems, das wie bisher auf einer symptomatischen Behandlung basiert, werden wir künftig eine präventive Medizin haben, die schon wesentlich früher ansetzt. „Heute wird jemand aufgrund einer symptomatischen Diagnose behandelt, und sehr oft kommt es zu einem Rückfall. Dieses Auf und Ab ist immer zu spät, sehr teuer und extrem unsicher“, sagt Lanthaler.
Zwischen gesund und krank
Die Präzisionsmedizin der nächsten Jahrzehnte wird also eine datengetriebene Medizin sein, die eine wesentlich höhere Treffgenauigkeit hat. Symptome werden zwar ausbrechen, „aber wir können wesentlich früher diagnostizieren und kurativ ansetzen“. Anstatt einer Klassifizierung in gesund und krank soll es künftig möglich sein, den Zustand zwischen Gesundheit und Krankheit und das Risikoprofil eines Menschen exakt zu definieren.
Das Teilen und Auswerten von Daten im großen Maßstab ist heute noch mit vielen Ängsten in der Bevölkerung verbunden. Das könnte sich aber ändern, wenn erkannt wird, in welchem Ausmaß das die Medizin verbessern wird, so Lanthaler. Als Vorreiter auf diesem Gebiet nennt er Dänemark, das in den nächsten Jahren flächendeckend Omik-getriebene Diagnosen einsetzen wird.
Omik-Technologien werden für die ganzheitliche Analyse von Zellen und deren Moleküle verwendet. „Damit können wir die Biologie von Krankheiten messbar und beeinflussbar machen. Wir können dieses eine Gen, das für die Krankheit eines Patienten ausschlaggebend ist, identifizieren, verändern oder sogar ausschalten.“
Die Präzisionsmedizin von morgen
Daten werden als Gamechanger in der Medizin für viel längere Gesundheitsperioden sorgen und auch den Erfolg von Medikamenten erhöhen. „Genetisch unterstützte Medikamente haben heute eine doppelt so hohe Erfolgswahrscheinlichkeit. Wenn Sie das auch noch mit einem Biomarker unterstützen und genau die Gruppe an Patient*innen identifizieren, bei der ein Medikament wirkt, kann man die Erfolgswahrscheinlichkeit verdreifachen“, rechnet der Experte vor.
Wie sehr Künstliche Intelligenz die Medizin verbessern kann, zeige schon jetzt die algorithmusbasierte Erkennung von Melanomen. Während ein Arzt bei seiner Diagnose eine durchschnittliche Treffsicherheit von 85 Prozent hat, kommt das KI-System auf 95 Prozent. „Wenn Sie aber beides kombinieren, liegt die Fehlerquote bei unter 0,5 Prozent. Das ist der Ausgangspunkt für die Präzisionsmedizin von morgen.“
Text: Gertraud Gerst; Foto: Pixabay, Evotec
Werner Lanthaler, Mag. Dr.
CEO der Evotec AG
Der gebürtige Oberösterreicher ist Vorstandschef des Wissenschaftskonzerns Evotec SE mit Hauptsitz in Hamburg, das Medikamente gegen Krebs, Demenz und Diabetes erforscht. In Wien arbeitet es mit der Biotech-Firma Apeiron an der Krebs-Immuntherapie. Zuvor war Lanthaler Finanzchef des Impfstoffspezialisten Intercell AG. Er promovierte in Betriebswirtschaft an der Universität Wien und absolvierte einen Master in Psychologie an der Universität Harvard.