INnovation
Gesundheit
Österreich
09.10.2024

„Ultraschall war eine Revolution für die Regionalanästhesie“

Seit 30 Jahren prägt die Ultraschall-gezielte Regionalanästhesie die moderne Anästhesiologie und ermöglicht präzisere und sicherere Nervenblockaden. In Wien wurde diese Technik entwickelt, die weltweit neue Standards setzte. Im Interview mit INGO erklärt Primarius Manfred Greher, wie die Innovation aus Österreich die Regionalanästhesie und Schmerztherapie revolutionierte, welche Anwendungen heute im Fokus stehen und in welche Richtung künftige Entwicklungen gehen.

Die Kongresstage Anästhesie & Intensivmedizin stehen unter dem Motto „Vienna Calling – The Sound of Precision“, gefeiert werden 30 Jahre Ultraschall-gezielte Regionalanästhesie. Warum spielt Wien eine so bedeutende Rolle in dieser Geschichte?

Manfred Greher: Vor gut 30 Jahren hatte Prof. Stefan Kapral die bahnbrechende Idee, 2D-Ultraschall zu verwenden, um die Nerven vor der Blockade zu lokalisieren. Bis dahin wurde Regionalanästhesie entweder „blind“ nach anatomischen Landmarks oder mithilfe eines Nervenstimulators durchgeführt. Aber Versuche, die Nervenstrukturen mit elektrischer Stimulation besser zu identifizieren, erwiesen sich als ungenau. Der Einsatz von Ultraschall war in diesem Bereich eine Revolution, er hat das Feld der Regionalanästhesie als disruptive Innovation vollkommen verändert. Die Methode wurde präziser, schneller und sicherer. Und eine Wiener Expert*innengruppe stand an der Wiege dieser neuen Technik. Ein entscheidender Meilenstein war die erste wissenschaftliche Publikation im Jahr 1994. Die Innovation fand schnell internationale Beachtung und Kolleg*innen aus der ganzen Welt kamen nach Wien, um sie zu erlernen. Wir haben auch etliche Lehrbücher verfasst und konnten mit unserer Expertise wesentlich zur Verbreitung und Etablierung der Technik beitragen. Es war eine spannende Zeit, in der wir die Entwicklung dieser Technologie hautnah miterleben und aktiv mitgestalten konnten.

Was waren wichtige Entwicklungsschritte in den vergangenen 30 Jahren?

Manfred Greher: Nach der Initialzündung wurde auch in vielen anderen Ländern wissenschaftlich an dem Verfahren weitergearbeitet. Die Ultraschall-gezielte Regionalanästhesie etablierte sich weltweit und ist heute ein nicht mehr wegzudenkendes Standardverfahren – aus vielen Gründen, unter anderem erreicht sie raschere Anschlagszeiten, eine bessere Qualität und ein längeres Anhalten der Blockade. Seit der ersten Publikation haben sich die technischen Möglichkeiten stark weiterentwickelt. Die Ultraschall-Geräte wurden kleiner und tragbarer, die Bildqualität hat sich deutlich verbessert. Es kamen neue Nadelmaterialien auf den Markt, die im Ultraschall besser sichtbar sind. Diese Entwicklungen haben es ermöglicht, die Regionalanästhesie weiter auszubauen und neue Blocktechniken zu entwickeln, die vorher nicht möglich waren. Früher war es oft schwierig, die feinen Nervenstrukturen darzustellen, vor allem bei tiefer gelegenen Nerven. Heute können wir die Nerven präzise abbilden und so die Technik für unterschiedlichste Eingriffe und Indikationen einsetzen. Die Ultraschall-Regionalanästhesie hat dadurch Einzug in nahezu alle chirurgischen Disziplinen gehalten. Neben der orthopädischen Chirurgie und der Kinderanästhesie, wo diese Techniken schon früh etabliert waren, wird sie heute auch in der Allgemein- und Viszeralchirurgie sowie in der Gefäßchirurgie eingesetzt. Besonders hervorzuheben ist auch der Beitrag der Technik zur invasiven Schmerztherapie. Der Ultraschall ermöglicht hier eine gezielte Lokalisierung der Nerven ohne jegliche Röntgenstrahlenbelastung, was zu einer sichereren und effektiveren Behandlung führt.

Es gibt ein paar Prinzipien, auf die sich wahrscheinlich alle, die sich mit dem Gesundheitssystem beschäftigen, einigen können. Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ gehört da wohl dazu. Was kann die Ultraschall-gestützte Regionalanästhesie hier beitragen?

Manfred Greher: Hier sind sicher die bessere Schmerzkontrolle, die schnellere Mobilisation und das reduzierte Risiko postoperativer Komplikationen zu nennen. Bei tagesklinischen Operationen sind diese Vorteile besonders wichtig. Die Patient*innen benötigen in der Regel keine Opioide zur postoperativen Schmerztherapie, was das Risiko von Nebenwirkungen und Abhängigkeit minimiert. Studien haben gezeigt, dass die Patient*innen schneller mobilisiert werden können und seltener unter typischen Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen leiden. Ein weiterer großer Vorteil ist die höhere Patient*innenzufriedenheit. Viele berichten, dass sie sich nach dem Eingriff wacher und schneller erholt fühlen, wenn eine Regionalanästhesie durchgeführt wurde. Dies ist besonders bei älteren oder multimorbiden Patient*innen von Bedeutung, die ein höheres Risiko für Komplikationen unter Allgemeinanästhesie aufweisen. Insgesamt führt dies zu einer höheren Behandlungsqualität, weniger oder kürzeren stationären Aufenthalten, was auch die Effizienz in der Patient*innenversorgung verbessert.

"Es gibt noch so viel Potenzial, das wir gemeinsam ausschöpfen können – zum Wohl unserer Patient*innen."

In welchen Bereichen ist die Regionalanästhesie in den Häusern der Vinzenz Gruppe vor allem im Einsatz?

Manfred Greher: Alle Anästhesieabteilungen der Vinzenz Gruppe setzen die ultraschall-gestützte Regionalanästhesie ein, das zeigen sie auch bei diesen Kongresstagen. Die Bandbreite reicht von der Kinderanästhesie über die Geburtshilfe oder Thoraxchirurgie bis hin zu neueren Verfahren, die auch für die Viszeralchirurgie geeignet sind. Besonders hervorzuheben ist der Einsatz bei orthopädischen Operationen an den Extremitäten, da hier die Nervenstränge optimal mit Ultraschall dargestellt werden können. Jedes Haus der Vinzenz Gruppe hat seine speziellen Schwerpunkte. Im Herz-Jesu Krankenhaus in Wien, wo ich tätig bin, führen wir bei etwa 7.000 orthopädischen Operationen im Jahr rund 4.000 periphere Nervenblockaden mit Ultraschall durch. Diese Techniken kommen bei großen Gelenkoperationen, aber auch bei anderen Eingriffen an den Extremitäten zum Einsatz. Die kontinuierliche Schmerztherapie nach Operationen wie Kniegelenksersatz wird durch Schmerzkatheter ergänzt. Auch in der Kinderanästhesie ist die Technik weit verbreitet. Besonders freut mich, dass Ultraschall-gezielte Verfahren in den Häusern der Vinzenz Gruppe immer wichtiger werden.

Warum ist aber generell in Österreich der Anteil an Regionalanästhesien trotz der vielen Vorteile immer noch geringer als er es sein könnte?

Manfred Greher: Es gibt mehrere Gründe. Zum einen war die Methode lange nicht ausreichend in der Ausbildung verankert, jetzt haben wir endlich ein Wahlmodul, aber das reicht noch nicht aus. Auch in der Praxis gibt es Hürden, etwa durch fehlende Infrastruktur oder mangelnde Akzeptanz der Technik. Man muss den Gesamtprozess gut durchdenken und gut designen, damit er in einem Haus dann wirklich reibungslos funktioniert.  Alle beteiligten Berufsgruppen – Anästhesist*innen, Pflege und Chirurg*innen – müssen optimal interdisziplinär und interprofessionell zusammenarbeiten. Hier ist auch ein kontinuierlicher Wissensaustausch entscheidend. Es braucht Zeit und Engagement, um die notwendigen Standards zu etablieren. Auch die Aufklärung der Patient*innen spielt eine Rolle. Hier wird oft nicht ausreichend informiert, dass eine Operation in Regionalanästhesie durchgeführt werden kann. In unseren Häusern funktioniert das alles bereits sehr gut, aber insgesamt könnte der Anteil an Regionalanästhesien in Österreich und auch auf internationaler Ebene noch deutlich erhöht werden. Hier ist viel in Bewegung, der Ultraschall ist das neue Stethoskop geworden, vor allem bei den jungen Kolleg*innen. Das wird die Technik noch einmal stark boostern.

Welche zukünftigen Entwicklungen zeichnen sich im Bereich der Ultraschall-gezielten Blockaden ab?

Manfred Greher: Die Zukunft wird sicherlich durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz geprägt sein. Es gibt bereits Systeme, die Nervenstrukturen und Muskeln automatisch erkennen und im Ultraschallbild farblich markieren. Solche Technologien werden vor allem, aber nicht nur, Einsteiger*innen enorm unterstützen und die Sicherheit weiter erhöhen. Auch die Verbindung von Ultraschall mit anderen Bildgebungsverfahren wie CT oder MRT wird neue Möglichkeiten eröffnen. Langfristig könnte auch die Robotik eine Rolle spielen, beispielsweise durch den Einsatz von Assistenzsystemen bei der Platzierung von Nervenblockaden. Weitere wichtige Zukunftsfelder sind Pattern Recognition und Augmented Reality. Hier könnte die Technologie dazu beitragen, komplexe Eingriffe durch virtuelle Einblendungen zu unterstützen oder die Echtzeitkommunikation mit nicht vor Ort anwesenden Expert*innen zu ermöglichen. Die Kombination aus künstlicher Intelligenz und Augmented Reality wird die Art und Weise, wie wir Regionalanästhesie anwenden und lehren, stark verändern. Was die Zukunft der Lokalanästhetika betrifft, wird daran geforscht, ihre Wirkung weiter zu verlängern. All das wird dann zu einer noch breiteren Anwendung beitragen.

Welche zentrale Botschaft sollten die Teilnehmer*innen der Kongresstage in Sachen Ultraschall-gezielte Regionalanästhesie jedenfalls mitnehmen?

Manfred Greher: Wir haben damit vor 30 Jahren eine unglaublich wertvolle Technik entwickelt, die den Patient*innen enorme Vorteile gebracht hat und bringt. Die Ultraschall-gezielte Regionalanästhesie ist sicherer, präziser und für viele Eingriffe das ideale Verfahren. Ich hoffe, dass noch mehr Kolleg*innen die Möglichkeiten und Vorteile dieser Technik entdecken und sie in ihren Häusern implementieren. Der Einsatz lohnt sich, und es gibt noch so viel Potenzial, das wir gemeinsam ausschöpfen können – zum Wohl unserer Patient*innen.

Interview: Birgit Kofler

Fotos: Herz-Jesu Krankenhaus; B&K - APA Fotoservice/Rastegar

Manfred Greher, Prim. Dr. MBA

Ärztlicher Direktor und Vorstand der Abteilung für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie, Herz-Jesu Krankenhaus

Manfred Greher studierte in Wien Medizin, nach dem Turnus arbeitete er zehn Jahre im AKH Wien an der Universitätsklinik für Anästhesie, mit einem Schwerpunkt in den Bereichen Regionalanästhesie und Schmerztherapie. Seit 2005 ist er am Herz-Jesu Krankenhaus als Anästhesie-Primarius tätig, seit 2007 zusätzlich auch als Ärztlicher Direktor des Hauses. 

Haben Ihnen diese Artikel gefallen?

Erhalten Sie regelmäßig alle relevanten Nachrichten aus dem österreichischen Gesundheitswesen.