Suizidalität bei jungen Menschen: Expert*innen schlagen Alarm
Aufgrund einer deutlichen Steigerung der Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren sehen Expert*innen dringenden Handlungsbedarf: Es brauche jetzt Präventionsmaßnahmen, um dem Trend entgegenwirken zu können.
Die Zahlen sind alarmierend: Im Schnitt sterben in Österreich täglich drei Menschen durch Suizid. Die Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen weist Suizid gar als zweithöchste Todesursache auf. Laut der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) stieg Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen seit 2018 um das Dreifache: 25 bis 30 unter 18-Jährige sterben in Österreich jährlich durch Suizid.
Komplexe Ursachen
Die Ursachen sind ein komplexes Zusammenspiel aus den bisherigen Lebenserfahrungen, dem sozialem Umfeld, der individuellen Persönlichkeitsstruktur und psychischen Situation sowie der familiären und schulischen Erlebniswelt der Betroffenen, sagt Dr. Christof Argeny, Ärztlicher Leiter des sowhat. Kompetenzzentrums für Menschen mit Essstörungen. „Grundsätzlich spielen Depressionen oder depressive Verstimmungen bei Kindern und Jugendlichen eine große Rolle für eine Suizidgefährdung. Ebenso Gewalterfahrungen in der Familie und sexueller Missbrauch.“ Während der coronabedingten Lockdowns kam es laut Argeny besonders bei Essstörungen und Patient*innen mit Suizidgedanken zu einer Zunahme.
Zu unterscheiden sei in jedem Fall zwischen Auslöser und Ursache, so der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. „Auslöser ist oftmals eine krisenhafte Situation: Alltägliche Probleme, die sich wie ein unüberwindbarer Berg auftürmen oder zuspitzen. In der eigenen Einschätzung der Kinder oder Jugendlichen werden diese Schwierigkeiten in der Regel unrealistisch negativ gesehen. Mobbing in der Schule, eine beendete Liebesbeziehung, ein Konflikt mit dem besten Freund oder der besten Freundin, familiäre Probleme, soziale Isolation, Schulversagen – alle diese Beispiele können unter Umständen Auslöser für einen Suizidversuch darstellen.“
An- und Warnzeichen
Bemerkt man als Bezugsperson eines Kindes oder Jugendlichen Anzeichen von Lebensmüdigkeit, beispielsweise, dass sich die Person immer intensiver mit dem Thema Tod auseinandersetzt, dann gilt es, besonders aufmerksam zu sein und das Gespräch mit den Betroffenen zu suchen. Für das Umfeld der Jugendlichen gibt es laut dem Experten Warnzeichen für Suizidversuche und Suizide. 75 Prozent davon werden direkt oder indirekt angekündigt, entweder über Verhaltensveränderungen, zum Beispiel durch das Weggeben von geliebten Dingen, oder durch Aussagen wie „Bald habe ich das alles hinter mir“. Weitere Warnsignale können der Abbruch von sozialen Kontakten, ausgeprägte Hoffnungslosigkeit und fehlende Zukunftsaussichten sein.
Spontane Suizide ohne jegliche Veränderungen im Vorfeld sind selten, so Argeny. Aber: „Der eigentliche Vollzug des Suizids ist in den meisten Fällen trotzdem als spontane Handlung und Reaktion auf eine scheinbar nicht mehr zu bewältigende Situation anzusehen.“ Betroffene fühlen sich außerstande, in der bisherigen Art und Weise weiterzuleben und haben die Hoffnung verloren, dass sich die Situation doch noch einmal zum Guten wenden könnte. Erwachsene, die unsicher sind, wie das Verhalten von betroffenen Kindern oder Jugendlichen zu bewerten ist, und sich deshalb Sorgen machen, sollten sich möglichst Rat und Hilfe bei den entsprechenden Beratungsstellen holen.
"Spontane Suizide ohne jegliche Veränderungen im Vorfeld sind selten", sagt Christof Argeny, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
Expert*innen schlagen aufgrund der aktuellen Daten jedenfalls Alarm. Demnach nahmen akute Belastungen und psychische Krisen als zugrundeliegende Diagnosen deutlich zu. Die gestiegenen Zahlen an Klinikvorstellungen nach Suizidversuchen machen deutlich, dass die Bemühungen im Rahmen der Suizidprävention in Österreich drastisch und schnell erhöht werden müssen, so die ÖGKJP. „Suizidpräventionsangebote sind dringend erforderlich, um dem aktuell vorherrschenden Trend von zunehmender Suizidalität unter psychisch beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken und dort präventiv tätig zu sein, wo es nötig ist, im Alltag, in der Schule, in der Gruppe der Gleichaltrigen“, so ÖGKJP-Vizepräsidentin Univ.Prof.in in Dr.in Isabel Böge, Abteilungsleiterin an der Klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin der MedUni Graz sowie Primaria der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin am Grazer LKH Süd.
Univ.Prof. Dr. Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Wien und Präsident der ÖGKJP, ergänzt: „Stattgefundene Suizidversuche stellen einen der Hauptrisikofaktoren für spätere Suizide dar. Das Jugendalter ist daher eine Zeitspanne, die für den Bereich der Suizidprävention besondere Relevanz besitzt“.
Bereits vorhandene Präventionsprogramme müssen, so die Forderung der Expertinnen und Experten, im Zuge der schulischen Suizidprävention im Zusammenwirken zwischen Gesundheits- und Bildungsressort flächendeckend implementiert werden. Es brauche darüber hinaus Fördergelder für die Nachsorge nach Suizidversuchen an Kliniken. Und, so die ÖGKJP, es müsse ein kassenfinanzierter Zugang zu fachärztlicher, psychotherapeutischer und psychologischer Hilfe für alle von psychischen Erkrankungen betroffenen Minderjährigen gewährleistet werden. Nicht zuletzt müssten bauliche Maßnahmen zur Sicherung von bekannten Suizid-Hotspots getroffen und die Abgabe von Medikamenten reguliert werden.
Bei psychischen oder suizidalen Krisen findet man unter diesen Telefonnummern österreichweit Hilfe:
Text: Michi Reichelt; Fotos: Dr. Christof Argeny ©sowhat. /Bubu Dujmic
Porträt Dr. Christof Argeny ©sowhat. /Heidrun Henke
Christof Argeny, Dr.
Ärztlicher Leiter des sowhat. Kompetenzzentrum für Menschen mit Essstörungen
Argeny ist Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapeut und erfahrener Profi für Essstörungen. Seit 2019 ist er als Ärztlicher Leiter an allen drei sowhat.-Standorten – Wien, St. Pölten und Mödling – für das kassenfinanzierte Therapieprogramm für Erwachsene und Kinder ab zehn Jahren mit Essstörungen verantwortlich. Zuvor war der heute 59-Jährige auf der III. Medizinischen Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik im Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien tätig. Im sowhat. arbeiten Expertinnen und Experten aus Psychiatrie, Allgemeinmedizin, Psychotherapie, Physiotherapie, Diätologie und Sozialarbeit in der Therapie eng zusammen. Seit 2017 ist das Kompetenzzentrum für Menschen mit Essstörungen ein Teil der Vinzenz Gruppe Service GmbH.