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Gesundheit
Österreich
29.06.2022

„Kommunikation und Gemeinschaft müssen auch für gehörlose Menschen mit Mehrfachbeeinträchtigungen zugängig sein.“

Kommunikation ist ein menschliches Grundbedürfnis und prägend für unsere soziale und psychische Entwicklung. Was passiert jedoch, wenn bei Menschen Gehörlosigkeit festgestellt wird? Wie lassen sich dann die weitere Entwicklung und der Spracherwerb fördern? Prim. Priv.-Doz. Dr. Johannes Fellinger, Gründer des Instituts für Sinnes- und Sprachneurologie (ISSN), gibt im Interview mit INGO Einblicke in die Entwicklungsmedizin bei Gehörlosigkeit.

Herr Dr. Fellinger, Ihr Vater war taub. Wie kommunizierten Sie als Kind mit ihm und wie hat sich diese Kommunikation im Laufe der Zeit entwickelt?

Johannes Fellinger: Anfangs fiel uns Kindern das gar nicht auf. Mein Vater konnte sehr gut von den Lippen lesen und reden. Meine Mutter übersetzte ihm mithilfe des Fingeralphabets alles, was er nicht verstand.

Damals gab es keine Gehörlosenambulanz. 

So war es. Vor 30 Jahren wurden Gehörlose aufgrund der Kommunikationsprobleme praktisch von einer individuellen medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Mir fiel damals vor allem in der Psychiatrie auf, wie inkompetent mit Gehörlosen umgegangen wurde. Daher war es mir auch wegen der Taubheit meines Vaters immer ein großes Anliegen, gehörlose Menschen in Gebärdensprache medizinische Hilfe in allen Bereichen anbieten zu können. 

Sie begannen 1991 in der Neurologischen Abteilung der Barmherzigen Brüder Linz Sprechstunden speziell für Gehörlose anzubieten und legten damit den Grundstein für ein zukunftsweisendes Fachgebiet: die Entwicklungsmedizin. 

Tatsächlich stieß das Angebot österreichweit auf großes Interesse. Wir sind rasch gewachsen und etablierten daher zwei Jahre später die Gehörlosenambulanz, die heute als „Gesundheitszentrum für Gehörlose“ geführt wird. Hier ermöglichen wir gehörlosen Menschen Zugang zu ärztlicher, pflegerischer, sozialer und psychologischer Betreuung. Darüber hinaus ist die Kommunikationsförderung wesentlicher Teil unserer Leistung. Kommunikation ist essentiell für die persönliche Entwicklung.

Wie kam es zur Gründung des Institutes für Sinnes- und Sprachneurologie bei den Barmherzigen Brüdern Linz?

Uns suchten mit der Zeit immer mehr Eltern auf, deren Kinder Probleme in den Bereichen Kommunikation, Sprache, Hören und Lernen hatten. Daraus entstand die Neurologisch-linguistische Ambulanz, die als erste Anlaufstelle für Diagnostik von Entwicklungsstörungen, wie Sprachstörungen, ADHS oder Autismus dient. Fast zeitgleich entstand das Inklusionsprojekt Lebenswelt Schenkenfelden. Dort leben und wohnen gehörlose Menschen mit mehrfachen Beeinträchtigungen. Die beste Voraussetzung für Entwicklung und soziales Lernen ist schließlich ein therapeutisches Gemeinschaftsleben, wo Erfahrungen in zwischenmenschlichen Beziehungen möglich sind, und gelingende Kommunikation. Ein Teil der hochqualifizierten Mitarbeiter ist selbst gehörlos. 1997 gründeten wir dafür die vis.com eine Schule für Sozialbetreuungsberufe mit Schwerpunkt Behindertenbegleitung, Ausbildungsform in Gebärdensprache. Dieser gesamte Bereich wuchs so rasant, dass der Orden der Barmherzigen Brüder vor 20 Jahren schließlich das Institut für Sinnes- und Sprachneurologie gründete. 

Was ist das Besondere an diesem Institut?

Anfangs war unser klinischer Dienst gehörlosen Menschen mit gesundheitlichen Problemen gewidmet, aber er wurde erweitert, um eine breite Palette von Entwicklungsdiensten für Menschen mit Hör-, Sprach- und Kommunikationsproblemen anzubieten, einschließlich Sprachentwicklungsstörungen, Autismus-Spektrum-Störungen und deren Begleiterkrankungen. Unser multidisziplinäres Team besteht aus Fachleuten der Neurologie, Psychiatrie, Pädiatrie, Entwicklungs- und Kinderneurologie und -psychiatrie, Allgemeinmedizin, Linguistik, Psychologie, Audiologie, Sprach- und Sprechtherapie, Sozialarbeit, Pädagogik und Pflege, die in vier Hauptabteilungen zusammenarbeiten. 

"Persönlich wünsche ich mir eine gute Übergabe an meinen Nachfolger und ein gutes Weiterbestehen der ISSN."

Ein weiterer Meilenstein Ihres Engagements ist das 2019 eröffnete Forschungsinstitut für Entwicklungsmedizin an der Johannes-Kepler-Universität, wo Entwicklungsstörungen über die gesamte Lebensspanne hinaus erforscht werden. Was planen Sie als nächstes?

In Straßwalchen soll eine weitere Lebenswelt entstehen. Kommunikation und Gemeinschaft müssen auch für gehörlose Menschen mit Mehrfachbeeinträchtigungen zugängig sein. Für die Entwicklungsmedizin müssen weitere Ressourcen geschaffen werden, um die viel zu langen Wartezeiten für Betroffene zu reduzieren. Persönlich wünsche ich mir eine gute Übergabe an meinen Nachfolger und ein gutes Weiterbestehen des ISSN. 

Interview: Rosi Dorudi; www.depositphotos.com

Johannes Fellinger, Prim. MR Priv.-Doz. Dr.

Leiter des Instituts für Sinnes- und Sprachneurologie des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder Linz.

Fellinger ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie/Additivfach Neuropädiatrie. Als Lehrbeauftragter ist er an der Medizinischen Universität Wien tätig. Seit dem Jahr 2000 ist er zudem am Institut für Public Health und seit 2018 an der Medizinischen Universität Linz tätig. Fellinger ist außerdem Vorstand des Forschungsinstituts für Entwicklungsmedizin der Johannes-Kepler-Universität Linz.

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