Amazon diversifiziert in Richtung Telehealth
Ärztlicher Rat ist rund um die Uhr verfügbar, und das ohne Termin, ohne überfüllten Warteraum, und ohne, dass man dafür das Haus verlassen muss. Die neue App Amazon Care will die medizinische Behandlung so bequem machen wie Online-Shopping.
Es war 1994, als Jeff Bezos zusammen mit Investor David E. Shaw begann, an der Entwicklung des Online-Buchhandels Amazon zu arbeiten, um schließlich im Juli des darauffolgenden Jahres das erste Buch über die Plattform zu verkaufen. Seither hat sich das Unternehmen nicht nur zu einem der größten Online-Versandhändler der Welt entwickelt, es hat auch unsere Einkaufsgewohnheiten maßgeblich verändert. Shoppen zu jeder Zeit, an jedem Ort, und das mit bequemer Rückgabegarantie. Mit dem Vorstoß des Unternehmens in den Telehealth-Bereich könnten sich künftig auch unsere Erwartungen an Gesundheitsdienstleister entsprechend ändern.
So bequem wie Online-Shopping
Keine Terminvereinbarung, keine Wartezeiten in oftmals überfüllten Warteräumen, kein Hin- und Herfahren mehr. Stattdessen einfach zu Hause die App starten, Anliegen formulieren und medizinische Fachmeinung einholen oder ein Rezept ausstellen lassen. Mit Amazon Care hat das Unternehmen ein hybrides Service eingeführt, das Fernkonsultationen und Hausbesuche kombiniert. Eine medizinische Fachmeinung einzuholen soll für Kunden damit genauso bequem werden wie Online-Shopping.
Obwohl die Idee dazu nicht gänzlich neu ist und erste Schritte bereits 2019 unternommen wurden, kam der Sektor erst durch die Corona-Pandemie richtig in Fahrt. Sie wirkte wie ein Katalysator für die Weiterentwicklung und Nutzung von Telehealth-Anwendungen. Ein rasant wachsender Markt, der weltweit mittlerweile auf rund 90 Milliarden Dollar geschätzt wird.
Barrierefreier Zugang zum Gesundheitssystem
Auch wenn Amazon Care vorerst nur in den USA verfügbar ist, so hat es laut Experten das Potenzial, den Gesundheitssektor nachhaltig zu verändern. Nicht zuletzt, weil Amazon sein „Healthcare on demand“-Modell in andere populäre Produkte wie Alexa integrieren kann. Dies würde vor allem mobilitätseingeschränkten Menschen einen barrierefreien Zugang zum Gesundheitssystem ermöglichen.
In den USA soll das neue Angebot einen möglichst flächendeckenden Zugang zum Gesundheitssystem sicherstellen. Laut einer aktuellen Erhebung leben 18 Prozent der Amerikaner mehr als 16 Kilometer vom nächsten Gesundheitszentrum entfernt. Eine Lücke, die Amazon schließen möchte, indem Patient*innen und Gesundheitsdienstleister*innen über die App kurzgeschlossen werden.
24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr
Amazon Care deckt alle Bereiche der Primärversorgung über Chats und Video-Konsultationen ab. Wird ärztlicher Rat benötigt, dann meldet sich eine medizinische Fachkraft in der Regel innerhalb einer Minute – und das 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Darüber hinaus können via App auch Medikamente verschrieben werden, die entweder direkt an die gewünschte Apotheke gesendet, oder via Amazon Pharmacy innerhalb von zwei Tagen nach Hause geliefert werden.
Bei Angelegenheiten, die sich nicht in einem Online-Meeting erledigen lassen – etwa zur Blutabnahme oder Impfung – machen ausgebildete Pflegekräfte gegen eine zusätzliche Gebühr auch Hausbesuche. Dieses Service ist derzeit noch nicht überall verfügbar, soll aber in diesem Jahr noch in mindestens 20 weiteren Städten ausgerollt werden, darunter Chicago, Miami und San Francisco.
Der gläserne Mensch
Amazon versichert, dass die Fernkonsultationen weder mitgehört, noch aufgezeichnet oder gespeichert werden. Es werde lediglich festgehalten, dass ein Gespräch stattgefunden hat und nicht, welche gesundheitsrelevanten Inhalte dabei besprochen wurden. Amazon Care ist allerdings auch dafür ausgerichtet, medizinische Daten zu sammeln, zu analysieren und für mögliche Therapien heranzuziehen.
Die Digitalisierung von Gesundheitsdaten kann grundsätzlich viele Vorteile für Patient*innen bringen. So zum Beispiel das E-Rezept, das nun in ganz Österreich über die gemeinnützige elektronische Gesundheitsakte Elga ausgerollt wird, die der europäischen Datenschutz-Grundverordnung unterliegt. Sind die Daten aber in den Händen eines profitorientierten Unternehmens wie Amazon, dann birgt dies Datenschützern zufolge auch Gefahren. Denn spätestens wenn Amazon die Gesundheitsdaten mit jenen aus dem eCommerce-Bereich verknüpft, bleibt für den Internet-Giganten nicht mehr viel im Dunkeln. Der gläserne Mensch ist damit keine Science-Fiction-Utopie mehr.
Text: Gertraud Gerst; Fotos: pixabay