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Gesundheit
Österreich
12.09.2024

„Zeit für Kommunikation ist zentral für die Diagnosesicherheit“

Am 17. September begehen Gesundheitseinrichtungen weltweit den Tag der Patient*innensicherheit, der 2024 dem Schwerpunkt Diagnosesicherheit gewidmet ist. Gelungene Teamarbeit sowie Zeit und Raum für intensive Kommunikation sind zentrale Pfeiler für eine sichere Diagnose, sagt Dr.in Brigitte Ettl, Präsidentin der Plattform Patient*innenensicherheit, im Gespräch mit INGO.

Am 17. September wird der Internationale Tag der Patient*innensicherheit begangen. Für das Jahr 2024 ist das Motto der WHO „Diagnostic Safety“, in Österreich „Diagnose – genau hinschauen, sicher handeln“.  Warum  dieser Themenschwerpunkt?

Brigitte Ettl: Patientinnen und Patienten, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, werden nur dann sicher behandelt, wenn die Diagnose stimmt. Und nach dieser müssen wir gezielt suchen, dafür ist unter anderem die Anamnese sehr wichtig. Das betrifft grundsätzlich den intramuralen Bereich ebenso wie den extramuralen Bereich, und ist auch nicht auf eine Berufsgruppe beschränkt. Wir werden nur dann ein sicheres Umfeld für die richtige und rechtzeitige Diagnose schaffen, wenn sie auf einer gelungenen Teamarbeit beruht.

Was sind typische Risiken oder Fallstricke im Hinblick auf die Diagnosesicherheit?

Brigitte Ettl: Fehler entstehen hier zum Beispiel, wenn bei der stationäre Aufnahme einer Patientin, eines  Patienten zu wenig Rücksicht auf die Vorerkrankungen, auf die aktuelle Medikation und auf das genaue Beschwerdebild genommen wird. Hier spielt die Kommunikation generell eine sehr wichtige Rolle, das schließt auch ein, dass die Verständigung über die Sprache klappt. 

Wie lässt sich Diagnosesicherheit fördern und unterstützen?

Brigitte Ettl: Wenn wir die Diagnosesicherheit als Teamprozess sehen, dann muss nicht nur die Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten stimmen, sondern auch die Kommunikation und der Austausch im Team. Ärztinnen und Ärzte gehen zur Visite, aber Pflegepersonen sind viel häufiger am Bett einer Patientin oder eines Patienten und nehmen daher auch mehr oder andere Dinge wahr. Ein anderes Beispiel, das für die Diagnosesicherheit eine wichtige Rolle spielt, ist die Befundübermittlung zwischen extra- und intramuralem Bereich. Wir brauchen einen einfachen und raschen Zugang zu allen Vorbefunden, insbesondere zur Bildgebung. Nehmen wir das Beispiel von Magnetresonanz- oder Computertomographiebefunden, die in Österreich derzeit auf den unterschiedlichsten Wegen übermittelt werden. Manchmal bekommen Überweiserinnen und Überweiser eine schriftliche Mitteilung, mitunter kommen Patientinnen mit einer CD, andere Patienten bringen einen Link für den Download mit. Zudem ist die Bildsoftware in den Praxen und Spitälern oft unterschiedlich. All diese Prozesse dauern viel zu lange. Zweifellos gibt es die technischen Möglichkeiten, das alles zu vereinfachen und zu beschleunigen.

Kommen wir zurück zur Kommunikation mit den Patientinnen und Patienten. Da wird man einerseits Lösungen für Sprachbarrieren brauchen, die es immer wieder gibt. Andererseits stellt sich auch die Frage, wie man kranke Menschen ermutigen kann, ihre Wahrnehmungen, Beschwerden und Bedürfnisse ausreichend zu artikulieren. 

Brigitte Ettl: Was die Sprachbarrieren betrifft, gibt es sehr gute Modelle, etwa das System des Videodolmetschs. Generell ist es wichtig für eine gelungene Kommunikation, dass man den Patientinnen und Patienten Zeit gibt und ihnen auch deutlich vermittelt, dass sie sich ohne Druck artikulieren können. Das ist eine entscheidende Grundlage für eine sichere Diagnose. Sehr positiv kann es sich auch auswirken, wenn Patientinnen und Patienten schon im Vorfeld Informationen haben, wie sie sich auf einen Spitalsaufenthalt oder auch einen Arztbesuch am besten vorbereiten und sich etwa überlegen, welche Fragen sind für mich wichtig, welche Medikamente nehme ich, und ähnliches mehr. Oft ist es für Betroffene auch hilfreich, Angehörige oder Vertrauenspersonen mitnehmen zu können. Generell gilt es meines Erachtens, die Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung zu stärken. Das beginnt bereits in der Schule und sollte alle Menschen bis ins Erwachsenenleben begleiten. Informierte Patientinnen und Patienten können Ärztinnen und Ärzte sehr effektiv unterstützen. 

Wir hören einerseits oft, dass es bei der Health Literacy in Österreich noch Luft nach oben gibt. Andererseits nutzen viele Menschen das breite digitale Informationsangebot und kommen unter Umständen schon mit Diagnosen aus dem Internet in die Gesundheitseinrichtung. Wie geht man damit um?

Brigitte Ettl: Mir als Ärztin ist eine Patientin, ein Patient, die oder der sich über Google informiert hat, willkommen, weil das die Bereitschaft zeigt, sich selbst mit der eigenen Krankheit zu beschäftigen. Das Gespräch braucht in einem solchen Fall vielleicht mehr Zeit, die es in Gesundheitseinrichtungen leider oft nicht ausreichend gibt. Wir müssen als Angehörige aller Gesundheitsberufe damit umgehen lernen, dass Patientinnen und Patienten vorinformiert zu uns kommen und digitale Optionen nutzen, das ist grundsätzlich eine gute Entwicklung. Es gibt im Gesundheitsbereich auch schon viele Apps, zum Beispiel zum Blutdruck, Blutzucker oder viele andere mehr. Was weitgehend fehlt ist eine Qualitätskontrolle, eine Art Gütesiegel, für gesundheitsbezogene Applikationen. Das gilt auch grundsätzlich für Gesundheitsinformationen. Wir brauchen Transparenz und Möglichkeiten zu zeigen, was qualitätsgesicherte Informationen sind, bei welchen Angeboten es vorrangig um Verkaufsinteressen geht oder welche Behauptungen überhaupt ohne faktische Basis sind. Die Unterschiede müssen deutlichere gemacht werden, dann können sich Betroffene besser orientieren.

"Patient*innen werden nur dann sicher behandelt, wenn die Diagnose stimmt."

Sie haben betont, wie wichtig der Faktor Zeit für die Kommunikation und die Diagnosesicherheit ist. Wie stellen wir sicher, dass Ärztinnen und Ärzte oder andere Gesundheitsberufe diese Zeit auch haben?

Brigitte Ettl: Ein wichtiger Ansatz ist, Prozesse und Abläufe in den Gesundheitseinrichtungen so zu optimieren, dass mehr Zeit für das grundsätzliche Gespräch, für die Anamnese geschaffen wird. Wir müssen da sicher auch die Arbeitsteilung zwischen den Berufsgruppen kritisch prüfen, und zudem alle Möglichkeiten administrativer Natur nutzen. Auch die Optionen der Digitalisierung, ohne dass ich als Behandlerin dann mehr am Computer bin als bei der Patientin. 

Also mehr Zeit für Zuwendungsmedizin unter Nutzung aller Hilfsmittel, weil es negative Auswirkungen für die Diagnosesicherheit hat, wenn man nicht genau hinsieht und zuhört?

Brigitte Ettl: Auf jeden Fall. Ich denke oft an meinen ersten Ausbildner, der immer betont hat, dass wir die Patientinnen und Patienten in ihrer Gesamtheit sehen müssen. Die zunehmende Spezialisierung in den Fachrichtungen ist einerseits schon aufgrund der rasanten Entwicklung in der Medizin wichtig, andererseits tendieren wir dadurch dazu, immer nur auf ein Organsystem zu schauen. Im Interesse der Diagnosesicherheit müssen wir da die Balance wahren. Viele Faktoren gehören zum Gesamtbild, auch wie ein Mensch spricht, wie seine Haut sich anfühlt, wie er geht, was er über den Beruf oder die Familie schildert und vieles mehr. Mir ist bewusst, dass man im Moment im privilegierten Setting der Privatmedizin mehr Möglichkeiten für eine solche ganzheitliche Betrachtung hat.

Das heißt, dass wir diesen Raum auch in der Kassenmedizin auch schaffen müssen, einschließlich eines adäquaten Honorierungssystems? 

Brigitte Ettl: Das ist ein wichtiger Punkt: Kommunikation, das ärztliche Gespräch wird im öffentlichen System viel zu wenig honoriert. Dabei ist es entscheidend für die Diagnosesicherheit. Da brauchen wir eine Neubewertung. 

Welche Daten gibt es zur Diagnosesicherheit?

Brigitte Ettl: Insgesamt gibt es sehr gute Daten zu unerwünschten Ereignissen im intra- und extramuralen Sektor. WHO-Daten zufolge erleiden zehn Prozent der Patientinnen und Patienten in einem Krankenhaus unerwünschte Ereignisse, von denen wiederum gut die Hälfte vermieden werden könnten. Laut WHO sind 16 Prozent dieser vermeidbaren unerwünschten Ereignisse auf Fehler bei der Diagnose zurückzuführen. 

Woher kam ursprünglich die Initiative für den WHO-Awareness-Tag zur Patient*innensicherheit?

Brigitte Ettl: Der Tag hat eine Geschichte, auf die wir im deutschsprachigen Raum sehr stolz sind. Die WHO hat 2019 den 17. September erstmals zum Internationalen Tag der Patientensicherheit erklärt. Die nationalen Plattformen für Patientensicherheit in Österreich, Deutschland und der Schweiz, die immer schon sehr gut und eng vernetzt waren, haben diesen Tag bereits 2013 ins Leben gerufen, um gemeinsam auf dieses wichtige Thema aufmerksam zu machen. Natürlich sind wir auch stolz, dass das dann als globales Thema aufgegriffen wurde. 

In Österreich schließen sich immer mehr Gesundheitseinrichtungen am 17. September mit Aktionen und Veranstaltungen an. Interesse und Bewusstsein für das Thema sind also vorhanden? 

Brigitte Ettl: Ja, die hohe Beteiligung ist sehr erfreulich. Und auch die Vielfalt von Aktivitäten, die in einzelnen Häusern gesetzt werden, ist sehr spannend – da können wir viel voneinander lernen.

Weitere Informationen: https://www.plattformpatientensicherheit.at/

Interview: Birgit Kofler

Fotos: © Ettl, © Seidl

Brigitte Ettl, Dr.in

Präsidentin der Österreichischen Plattform Patient*innensicherheit

Dr.in Brigitte Ettl ist Leiterin des Karl Landsteiner Instituts für Klinisches Risikomanagement und Präsidentin der Österreichischen Plattform Patientensicherheit und Gründungsmitglied Deutschsprachiges Netzwerk für Patientensicherheitsforschung. Bis zu ihrer Pensionierung war sie viele Jahre als Ärztliche Direktorin der Klinik Hietzing, WIGEV, tätig, ebenso als Mitglied des Obersten Saniätsrates und des Landessanitätsrates für Wien. 
Die Internistin ist Fachärztin für Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen, Fachärztin für Nephrologie und Fachärztin für Intensivmedizin. Sie absolvierte auch Managementausbildungen an der Universität Salzburg und der Wirtschaftsuniversität Wien.

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