Mehr Gerechtigkeit in der Medizin
Frauen und Männer werden anders krank. Die renommierte Gendermedizinerin Alexandra Kautzky-Willer erforscht die biologischen und psychosozialen Unterschiede der Geschlechter. Im Interview zeigt sie die Gefahren auf, die bestehen, wenn in der Medizin immer nur Männer die Norm sind.
Der Großteil der Medikamentenstudien und die humanmedizinische Forschung sind an der Biologie des Mannes ausgerichtet. Das hat mitunter verheerende Folgen für die Frauengesundheit. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom Gender Health Gap.
Alexandra Kautzky-Willer, die erste Professorin für Gendermedizin in Österreich, rückt die Problematik erfolgreich ins Zentrum der öffentlichen Debatte. Zuletzt beim 4Gamechangers Festival 2022 in der Wiener Marx Halle. Im Interview mit INGO erklärt sie, an welchen Schrauben künftig noch gedreht werden muss, damit es mehr Gerechtigkeit in der Medizin gibt.
Mitte 30, 85 Kilo schwer, männlich – das war lange Zeit die Norm des Studienteilnehmers in der medizinischen Forschung. Was bedeutet das für die Frauengesundheit?
Alexandra Kautzky-Willer: Alle unsere evidenzbasierten Leitlinien beruhen auf diesen männlichen Krankheitsbildern, weil in früheren Studien ausschließlich Männer vertreten waren. Auch wenn Frauen heute in Studien inkludiert werden, so sind sie nach wie vor unterrepräsentiert.
Welche konkreten Auswirkungen kann dieses Missverhältnis haben?
In den 1990er-Jahren wurde zum Beispiel entdeckt, dass Frauen bei einem Herzinfarkt andere Symptome haben als Männer. Man spricht hier auch vom Yentl-Syndrom. Viele Herzinfarkte von Frauen werden falsch diagnostiziert und behandelt, was zur Folge hat, dass mehr Frauen, vor allem jüngere, schlechtere Outcomes haben oder daran versterben.
Warum wurden Frauen in der medizinischen Forschung so lange Zeit nicht mitgedacht?
Zum einen ist es so, dass früher das ganze Weltbild männlich war. Frauen spielten im gesamten Gesellschaftsleben kaum eine Rolle, und schon gar nicht in der Wissenschaft. Zum anderen ist man wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen, dass es bei Krankheiten einen Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt. Hinzu kommt, dass nach dem Contergan-Skandal Frauen eine Zeit lang komplett aus Medikamentenstudien ausgeschlossen waren, weil man Angst hatte, dass man ungeborenes Leben schädigen könnte.
Dabei wird vielen Frauen das Thema gerade in der Schwangerschaft bewusst, weil ein Großteil der Medikamente dann nicht verschrieben werden kann.
Mittlerweile hat man erkannt, dass man Daten dazu erheben muss, wie Medikamente in der Schwangerschaft wirken. Durch den steigenden Altersschnitt bei Schwangeren sind auch mehr chronisch Kranke darunter, die ständig Medikamente brauchen. Hier braucht es verlässliche Daten über die ideale Dosierung während der Schwangerschaft.
Dass Männer und Frauen anders auf Erreger und Krankheiten reagieren, hat zuletzt Covid-19 vor Augen geführt. Was waren denn die größten Unterschiede?
Das ist ein wunderbares Beispiel für die Gendermedizin, weil man sowohl die biologischen Unterschiede sehr schön gesehen hat als auch die sozialen. Frauen haben aufgrund ihrer Geschlechtschromosomen und Sexualhormone das stärkere Immunsystem. Zugleich haben sich Frauen laut Studien besser an die Hygienemaßnahmen gehalten. Demzufolge müssten sie ein geringeres Erkrankungsrisiko haben. Da aber in den Gesundheits- und Pflegeberufen sowie in der unbezahlten Pflegearbeit innerhalb der Familie mindestens 80 Prozent Frauen vertreten sind, war das Erkrankungsrisiko letztlich ausgeglichen. Frauen sind zum einen vorsichtiger, aber zugleich exponierter. Männer dagegen haben – auch durch den Lebensstil mitbedingt – oft in jüngeren Jahren schon Vorerkrankungen wie Diabetes, Adipositas oder Bluthochdruck und dadurch öfter einen schweren Verlauf.
"Frauen haben aufgrund ihrer Geschlechtschromosomen und Sexualhormone das stärkere Immunsystem."
Wie sieht es heute mit der Frauenquote bei medizinischen Studien aus?
Es gibt die Regelung, dass jedes Medikament, das jetzt auf den Markt kommt und für beide Geschlechter zugelassen wird, auch an beiden getestet werden muss. Die Situation hat sich zwar verbessert, aber es ist noch nicht so, wie es sein sollte. Ideal wäre natürlich, wenn immer so viel Prozent von einem Geschlecht inkludiert sind, wie auch die Krankheit in der Gesellschaft verteilt ist. Es versterben beispielsweise mehr Frauen als Männer an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, doch aktuell sind nur 25 bis 30 Prozent der Studienteilnehmer*innen weiblich.
Warum ist das so?
Zum einen sind es wirtschaftliche Faktoren. Je mehr unterschiedliche Studiengruppen es gibt, umso langwieriger und kostspieliger wird es. Zum anderen, das muss man auch sagen, sind Frauen nicht so leicht bereit, an derartigen Studien teilzunehmen.
Gibt es auch Bereiche, in denen Männer benachteiligt sind?
Ja, im Fall von Depression zum Beispiel, die als typische Frauenkrankheit gilt. Männer sind hier eindeutig unterdiagnostiziert, weil sich die Krankheit anders zeigt. Sie begehen häufiger Selbstmord, und trotzdem werden nur halb so viele Männer als Frauen wegen Depression behandelt. Hinzu kommt, dass die Krankheit stigmatisiert, weil sie als Zeichen von Schwäche gilt. Mit der Diagnose ‚Burnout’ hat das Krankheitsbild mittlerweile mehr gesellschaftliche Akzeptanz gefunden.
Wie sieht es mit non-binären Patient*innen aus?
Das ist natürlich auch eine wichtige Gruppe, die man beachten sollte. Allerdings wird sie derzeit in keinem medizinischen Datensatz erhoben. Wir sind selbst gerade dabei, andere Gender in künftigen Studien besser einzubauen. Es wäre auch sehr spannend zu sehen, wie sich das soziale Geschlecht auf die Krankheitsbilder auswirkt. Was mich aber etwas beunruhigt, ist, dass das Thema Frauengesundheit in dieser aktuell sehr trendigen Diskussion unterzugehen droht. Frauen stellen zumindest die Hälfte der Menschheit dar, und wir haben hier noch sehr viel Aufholbedarf.
Gibt es besondere Vorzeigeprojekte in der Frauengesundheit?
Da muss ich das La Pura Resort in Gars am Kamp erwähnen, wo ich auch wissenschaftliche Leiterin bin. Das ist sozusagen das Vorzeigemodell für Prävention in der Frauengesundheit auf Basis der Gendermedizin. Dort versuchen wir gerade in der Präventionsschiene, die sowieso viel zu kurz kommt in Österreich, Frauengesundheit nach den neuesten Kenntnissen der Wissenschaft zu fördern.
Was muss erreicht werden, damit sich der Gender Health Gap in Ihren Augen schließt?
Da muss wirklich noch an vielen Schrauben gedreht werden. Gendermedizin muss im Studium noch mehr gelehrt werden, und sie muss in den Fortbildungsveranstaltungen der Fachgesellschaften fix im Themenkatalog sein. Aber vor allem müssen alle künftigen Medikamentenstudien im Design schon berücksichtigen, dass die Geschlechter entsprechend abgebildet sind. Zusätzlich sollte erhoben werden, wie sich der weibliche Zyklus, die Einnahme der Pille und die Menopause auf die Einnahme von Medikamenten auswirkt. Ein Bereich, der derzeit noch komplett vernachlässigt wird.
Was würden Sie sich für den Bereich Gendermedizin in Zukunft wünschen?
Mehr Fördergeld für die Forschung und mehr konsequente Umsetzung von dem, was schon lange gefordert wird. Es gibt aktuell gerade einen Aufruf von ‚Nature‘, dass nur noch Studien veröffentlicht werden, die geschlechtsspezifische Daten liefern. Das ist ein wichtiger Schritt. Es braucht noch mehr Frauengesundheitszentren und mehr Frauen in Führungspositionen, die das ganze von der weiblichen Perspektive fördern und vorantreiben.
Interview: Gertraud Gerst; Fotos: AdobeStock, MedUni Wien
Alexandra Kautzky-Willer, Univ.-Prof.in Dr.in
Professorin für Gendermedizin an der MedUni Wien
Kautzky-Willer ist Vorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin. 2010 wurde sie zur ersten Professorin für Gendermedizin in Österreich an die MedUni Wien berufen. Sie leitet seitdem auch den ersten Universitätslehrgang für Gendermedizin in Europa.