INnovation
Gesundheit
Österreich
07.06.2023

„Wir wollen Kinder beschützen, tun ihnen aber damit nichts Gutes“

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat einen umfassenden Leitfaden für den Besuch von Kindern als Besuchende auf Intensivstationen herausgegeben. Maria Brauchle, DGKP für Intensivpflege am LKH Feldkirch, ist eine der führenden Autor*innen des 10-Punkte-Papiers. Sie hat mit INGO über die Empfehlungen gesprochen – auch über ihre ganz persönlichen.

„Die meisten Kinder kommen mit schwierigen Situationen gut zurecht, wenn sie gut und altersgerecht vorbereitet und begleitet werden“. Wenn Maria Brauchle diese Aussage tätigt, weiß sie, wovon sie spricht. Die Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin (DGKP) für Intensivpflege am Landeskrankaus Feldkirch ist seit 2004 auf Intensivstationen tätig und befasst sich zudem seit Jahren eingehend mit dem Thema „Kinder zu Besuch auf der ICU“. Denn dieses ist – wie Unfälle, Krankheiten, Tod – ein allgegenwärtiges. Und es kann jede Familie von einem Tag auf den anderen betreffen (siehe dazu auch: https://www.ingo-news.at/therapie/kinderbesuche-auf-icus.html).

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) veröffentlichte im Herbst 2022 dazu eine Empfehlung für Mitarbeiter*innen aller Professionen sowie für Eltern und Sorgeberechtigte. Unter der Leitung von Maria Brauchle, Dr. Teresa Deffner, Psychologin auf den Intensivstationen des Universitätsklinikums Jena, und Pflegewissenschaftler Dr. Peter Nydahl vom Universitätsklinikum Kiel erstellte ein 33-köpfiges interdisziplinäres Expert*innen-Team aus Österreich, Deutschland und der Schweiz die in 10 Punkte gegliederten, konsentierten Empfehlungen „Kinder als Angehörige und Besuchende auf Intensivstationen, pädiatrischen Intensivstationen und in Notaufnahmen“ (https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/publikationen/intensiv-und-notfallpflege/221027-divi-empfehlung-kinder-als-besucher-auf-intensivstationen-kurzversion.pdf). 

Vielfältige Bedenken

Drei Jahre lang wurde von der DIVI-Arbeitsgruppe „ICU Kids“ nach intensiver Vorarbeit schließlich an dem Leitfaden geschrieben, wobei auch persönliche Erfahrungen und Erlebnisse eingeflossen sind, so Maria Brauchle. „Die Entstehung war eine wunderbare Teamarbeit, geprägt durch unglaubliche Disziplin und Wertschätzung einem jeden gegenüber“, so die Expertin, die auch als zweifache Mutter um die Bedeutung des Themas weiß. Und dessen Problematik. 

„Früher war der Tod ganz normal, er war allgegenwärtig. Er hat zum Leben mehr dazugehört als heute. Menschen sind zuhause gestorben und blieben dann noch ein paar Tage in der Wohnung aufgebahrt. Kinder haben um den Sarg herum gespielt.“ Mittlerweile seien Tod und Trauer zum Tabuthema geworden. „Wir alle wollen Kinder vor Leid, Trauer, Tod beschützen“, meint Maria Brauchle. „Damit tut man ihnen aber nichts Gutes, so lernen Kinder nicht, mit dem Thema umzugehen. Gehe ich selbst damit aber offen um, beziehe da die Kinder mit ein, muss ich dann kein Konstrukt erfinden.“ Nachsatz: „Kinder sind ja auch stolz, wenn man sie mit einbezieht. Und wenn man sie fragt, woran sie teilhaben wollen.“

Die Bedenken gegen Kinder-Besuche auf Intensivstationen oder Notaufnahmen kommen von beiden Seiten: der medizinischen und der elterlichen. So besteht einerseits Sorge aufgrund der wechselseitigen Infektionsgefahr. Mindestens ebenso groß ist die Angst vor einer Traumatisierung der Kinder. Maria Brauchle: „Wir sprechen jedoch immer von einer potenziellen Traumatisierung. Denn wenn in der Familie etwas Tragisches passiert, heißt das noch lange nicht, dass alle danach traumatisiert sind.“ Habe ein Ereignis eine Traumatisierung verursacht, kann der Besuch auf der Intensivstation sogar eine korrigierende Erfahrung sein, beispielsweise, „wenn man einem Kind zeigt und erklärt: Dem Papa geht’s jetzt wieder gut, seine Verletzungen nach dem Unfall sind versorgt, den lassen wir jetzt mal aufwachen.“

Dass Kinder unter Umständen erschrecken, wenn sie das erste Mal auf die Intensivstation kommen, sei ganz normal. „Erwachsene erschrecken ja auch. Für sie ist der Gang auf die Intensiv ebenfalls ein schwieriger“, so die Expertin. Kinder hätten zudem ein ganz eigenes Bild von einer Intensivstation. „Wenn sie dann aber sehen, dass man sich um den Angehörigen gut kümmert, dieser keine Schmerzen hat, kann das eine sehr gute Erfahrung sein.“

"Passiert ein tragisches Ereignis, sind noch lange nicht alle danach traumatisiert", sagt Intensivpflegerin Maria Brauchle.

Vorteile aufzeigen

Und wie zerstreut man Bedenken, die seitens des behandelnden Teams ausgehen? „Indem man auf die DIVI-Empfehlungen verweist“, lacht Maria Brauchle – um gleich darauf zu betonen: „Ich hoffe doch sehr, dass kein Team einem Kind den Besuch beim Papa oder Mama verwehrt. Es braucht manchmal auch einfach den gesunden Hausverstand.“ Klar sei: „Derartiges muss von der Leitung ausgehen und getragen werden.“ Die Vorteile von ICU-Besuchen – egal von Erwachsenen oder Kindern - müssten gesehen werden. Einer davon: „Gerade in einer Zeit des Pflegemangels können Angehörige auch entlastend sein; so kann ich sie durchaus bitten, dem Patienten beim Abendessen zu helfen. Angehörige helfen auch bei der Orientierung, gerade wenn es um Delir geht, das doch recht häufig auf der Intensivstation anzutreffen ist. Es muss generell ein Umdenken stattfinden. Wir kommen in der Pflege und vor allem der Intensivmedizin immer mehr in eine familienzentrierte Betreuung, da gehören die Kinder einfach mit dazu.“

Manchmal kommt auch die Angst, etwas falsch zu machen, wenn die Angehörigen danebenstehen, erzählt Maria Brauchle. Und: „Wenn Kinder am Bett des Patienten weinen, dann berührt das natürlich auch. Aus der Angst heraus, was das mit uns und unseren eigenen Emotionen macht, wird der Besuch manchmal erst einmal prinzipiell verweigert.“ Hier gelte der Grundsatz: Je öfter Kinderbesuche gestattet werden, desto mehr verliert auch das ICU-Team die Scheu davor.

Empfehlung, keine pauschale Einladung

Um ein Kind für den Besuch auf der Intensivstation zu sensibilisieren, empfiehlt Maria Brauchle einen Besuch von www.intensivstation.jetzt, einer Informationsseite zum Thema. Unter anderem kann man sich hier in Erklärvideos für Kinder den Ablauf auf einer Intensivstation anschauen. Auch Flyer für Kinder und Eltern mit entsprechenden Informationen werden vom „ICU Kids Study Team“ derzeit entwickelt.  

Kinder können im Vorfeld erfahren: Wie schauen die Kabel, die Schläuche aus, die man auf der ICU sieht? Falls notwendig, kann das Team vor Ort auch besonders bedrohlich wirkende Geräte abdecken. „Kinder können schon zu Hause ein Kuscheltier aussuchen, die Lieblingssocken, ein Lieblings-T-Shirt des Angehörigen mitnehmen oder ein paar Fotos, die man im Zimmer aufhängen kann“, so Maria Brauchle. 

Eines betont die gebürtige Tirolerin abschließend: Die Empfehlungen der DIVI seien keine pauschale Einladung, jedes Kind auf der Intensivstation zuzulassen. Man müsse immer individuell entscheiden. Ausschlaggebend sei in allen Fällen, die Eltern mit im Boot zu haben und gemeinsam mit allen Beteiligten den Besuch zu planen. Die Erfahrungen der Expertin sprechen in den meisten Fällen für einen ebensolchen. „Was auch oft vergessen wird: Es kommen ja nicht alle Menschen vollkommen genesen wieder aus der Intensivstation.“ Den Umgang mit Folgeerkrankungen schrittweise zu lernen, ist mit vorherigen Besuchen möglich. Denn: „Gut begleitet können Kinder an solchen Erlebnissen unter Umständen sogar reifen.“

Text: Michi Reichelt; Fotos: Porträt Maria Brauchle © Maria Brauchle/ Intensivstation © Nathanel Melchor, Unsplash

Maria Brauchle, DGKP

Diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester für Intensivpflege

Brauchle wurde in Innsbruck geboren, wo sie 2001 die Ausbildung zur Diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerin abschloss. Sechs Jahre später folgte das Diplom für Intensivpflege. Seit 2004 ist Brauchle auf der Intensivstation tätig, seit 2015 arbeitet sie im Landeskrankenhaus Feldkirch. Von 2007 bis 2014 war Brauchle ehrenamtlich im Kriseninterventionsteam des Österreichischen Roten Kreuzes. Innerhalb der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) ist Brauchle eine der drei federführenden Autor*innen der 2022 erschienenen Empfehlung „Kinder als Angehörige und Besuchende auf Intensivstationen, pädiatrischen Intensivstationen und in Notaufnahmen“. 2019 wurde sie mit dem Forschungsförderungspreis der DIVI-Stiftung im Bereich der intensiv- und notfallmedizinischen Gesundheitsfachberufe ausgezeichnet. Maria Brauchle ist Mutter einer Tochter und eines Sohnes. 

Haben Ihnen diese Artikel gefallen?

Erhalten Sie regelmäßig alle relevanten Nachrichten aus dem österreichischen Gesundheitswesen.