„Willkommen im Club, in dem keiner sein möchte!“
Krebs ist eine angsteinflößende Diagnose, über die selten offen und meist ungern gesprochen wird. In vielerlei Hinsicht noch immer tabuisiert, hat es sich Martina Hagspiel mit ihrer Agentur Kurvenkratzer und der Online-Plattform InfluCancer zum Ziel gesetzt, das Thema stärker in die Mitte der Gesellschaft zu bringen.
„Willkommen im Club, in dem keiner sein möchte!“, lautet einer der Blogtitel, der auf der Website „InfluCancer“ zu lesen ist. Hier schreiben an Krebs erkrankte Menschen für Leidensgenoss*innen, Angehörige oder Personen, die jemandem in dieser ganz besonderen Situation unterstützen möchten. „Wie sehr das Thema Krebs noch immer tabuisiert wird, habe ich erst gemerkt, als ich 2010 selbst daran erkrankt bin und die Reaktionen meiner Umgebung spürte“, erzählt Aktivistin Martina Hagspiel. „Man ist tatsächlich stigmatisiert. Niemand spricht gern über die Krankheit, die so sehr mit Leid und für viele vor allem mit dem Tod verbunden ist.“ Älteren Generationen fiele es besonders schwer, darüber zu reden, denn bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dominierte beim Umgang mit Krebserkrankungen das Prinzip der Patient*innenschonung. Diese*r sollte von der Diagnose möglichst nichts wissen und nötige Therapien wurden über sprachliche Umwege vermittelt. Doch wie reagiert man heute beim Thema Krebs angemessen? „Zunächst muss man als Patient*in selbst die Krankheit begreifen“, so Hagspiel, denn jeder gehe anders mit ihr um. „Ich, beispielsweise, wollte offen darüber kommunizieren, dass ich daran erkrankt und in Behandlung bin. Ich empfehle diesen Weg allen Betroffenen, denn es erleichtert beiden Seiten einen guten Umgang damit. Darüber hinaus ist Humor eine große Kraftquelle im Gespräch. Er ist bis heute meine größte Ressource geblieben.“
Selbsthilfe durch Vernetzung
Durch die eigene Erfahrung und dem Antrieb, Krebs aus der Tabuzone zu holen, um auch anderen eine Möglichkeit des positiven Austausches zu geben, startete Hagspiel 2014 mit dem Projekt Kurvenkratzer eine Online-Plattform für Erfahrungsaustausch. 2018 wurde daraus die Patient*innenorganisation InfluCancer, die im deutschsprachigen Raum mittlerweile jährlich deutlich über eine Million Page Impressions verbucht. „Das zeigt mir, wie wichtig es für Patient*innen ist, von anderen Erfahrungen zu lernen und auch die unangenehmen Themen anzusprechen“, betont Hagspiel. 2019 gründete sie schließlich die Agentur Kurvenkratzer, die sich neben einem Online-Magazin, das sich mit dem Leben mit und nach Krebs beschäftigt, auch auf die Kommunikation mit Patient*innen spezialisiert hat.
"Wir können nur dann tatkräftig agieren, wenn unser Laienstatus fällt und unsere Expertise endlich anerkannt wird."
Unermüdlich arbeitet die Geschäftsführerin nun daran, unterschiedliche Player aus der Pharmaindustrie und dem Gesundheitswesen zu vernetzen, um das Leben von Krebspatient*innen zu verbessern. „Ich sitze in den unterschiedlichsten Gremien und Advisory Boards, Panels oder in Vorträgen - national und international - um die Patient*innensicht einzubringen“, erzählt Hagspiel. Dazu zählten auch Krankenhausprojekte, verschiedene Verbände wie die „Allianz der onkologischen Patient*innenorganisationen“ oder die „Mission Cancer“ der österreichischen Bundesregierung. „In all diesen Projekten geht es darum, die patient*innengetriebene Interessensvertretung voranzutreiben“, beschreibt sie die Zielsetzung ihrer Agentur. „Für Krebspatient*innen gibt es zwar eine Interessensvertretung - den Bundesverband - was wir aber brauchen ist jene aus den eigenen Reihen“, unterstreicht Hagspiel. „Wir können nur dann tatkräftig agieren, wenn unser Laienstatus fällt und unsere Expertise endlich anerkannt wird.“
Forschung braucht Patient*innenexperten
Aufholbedarf gebe es in vielen Bereichen, so die Agenturchefin. „Es wäre beispielsweise wünschenswert, dass Krebspatient*innen in der Forschung mehr eingebunden werden“, sagt sie. Das sei gerade in einem Feld, in dem sich Therapiemöglichkeiten schnell verändern und neueste Erkenntnisse noch nicht als Standardtherapien angeboten werden, enorm wichtig. „Um dies zu erreichen, bin ich als ‚Patient Advocate‘ im Einsatz und kämpfe auch für die Etablierung dieses Berufsbilds, das es in vielen Ländern bereits gibt“, erklärt Hagspiel. „Schließlich ist es ganz klar, dass durch die Beteiligung von Patient*innen-Experten an klinischen Entwicklungen in vielen Bereichen ein Mehrwert entstehen kann.“ Die Einbeziehung stelle sicher, dass die klinische und die medizinische Forschung effektiver zusammenarbeiten und das liefern, was für die Patient*innen tatsächlich zähle. „Die Erforschung, Entwicklung und Bewertung neuer Therapien wird einfach verbessert, wenn Patient*innen-Experten während der Planung, Durchführung und Bewertung von Studien und Projekten aktiv mitwirken“, so Hagspiel weiter. „Leider haben wir im Moment weder in der Forschung und Entwicklung noch beim Studiendesign oder bei medizinischen Events und auch nicht in gesundheitspolitischen Gremien einen Platz“, bedauert sie. Hier gebe es noch viel durchzusetzen.
Text: Rosi Dorudi; Foto: Caro Strasnik
Martina Hagspiel,
Geschäftsführerin Kurvenkratzer GmbH
Hagspiel startete ihre Karriere im eigenen Versicherungsmaklerbetrieb. 2010 stellte die Diagnose Brustkrebs ihr Leben auf den Kopf. Bei ihrer Rückkehr in das Berufsleben wechselte sie in die Kommunikationsbranche und war von 2016 bis 2019 als Marketingverantwortliche im Österreichischen Gewerbeverein tätig. 2017 absolvierte sie den Diplomlehrgang Innovation. 2018 initiierte sie die Patient:innenorganisation InfluCancer, eine Online-Plattform für den Erfahrungsaustausch von Krebspatient*innen. 2019 gründete sie schließlich die Agentur Kurvenkratzer für Patient*innenkommunikation und das Online-Magazin. Hagspiel ist zudem als Krebsaktivistin und Patient Advocate international aktiv, um die patient*innengetrieben Interessensvertretung auf allen Ebenen voranzutreiben.